Interview
„Wer Leistungen benötigt, bekommt sie“
Gesundheitsminister Jens Spahn über Strategien der Personalfindung und die Finanzierbarkeit guter Pflege
Bis 2030 werden in Deutschland mehr als 3,5 Millionen Menschen pflegebedürftig sein. Gleichzeitig fehlen bis dahin laut optimistischen Prognosen rund 500.000 Fachkräfte. Die Gründe sind bekannt: Die Pflegekräfte klagen über eine hohe Arbeitsbelastung, schlechte Bezahlung und fehlende Wertschätzung. Wie geht die Politik dieses Problem an?
Wir arbeiten mit aller Kraft für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege. Vieles ist schon angestoßen: Seit Anfang dieses Jahres können alle Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser auf Kosten der Krankenkassen neue Stellen besetzen und Teilzeitstellen aufstocken. Das war unser erster Schritt. Inzwischen hat die vor einem Jahr eingesetzte Konzertierte Aktion Pflege ihre Ergebnisse vorgelegt, die jetzt Schritt für Schritt umgesetzt werden: ein flächendeckend geltender Tarifvertrag oder neue gestaffelte Mindestlöhne, bessere Arbeitsbedingungen durch mehr Personal, mehr Digitalisierung, mehr familienfreundliche und gesundheitsfördernde Angebote. Wir wollen die Ausbildungszahlen erhöhen und mehr ausländische Fachkräfte nach Deutschland bringen. Nächstes Jahr startet eine neue, an den gewachsenen Anforderungen an Pflegekräfte orientierte Pflegeausbildung.
Artikel 1 des Grundgesetzes sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Realität sieht in vielen deutschen Pflegeeinrichtungen anders aus. Wie kann man von einer auf Profit ausgerichteten Pflege zu einer Pflege kommen, die sich am individuellen Bedarf der Patienten orientiert?
In den letzten Jahren ist bereits viel passiert. Demenzkranke haben heute die gleichen Leistungsansprüche wie Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Die Leistungen der Pflegeversicherungen setzen mit dem Pflegegrad 1 früher ein. Deutlich mehr Betreuungskräfte unterstützen in den Pflegeeinrichtungen die Beschäftigungsund Betreuungsangebote für die Bewohner. In der ambulanten Pflege sind die Leistungen deutlich ausgeweitet worden und besser kombinierbar.
Eines ist mir wichtig: Die Grundlage unseres Systems ist eine Sozialversicherung. Wer Leistungen benötigt, bekommt sie, unabhängig davon, wie viele Beiträge er gezahlt hat und ob er Vermögen hat. Dass die bisherige Reform der Pflegeversicherung erfolgreich war, sehen Sie daran, dass immer weniger Pflegebedürftige Sozialhilfe benötigen. Jetzt sorgen wir noch dafür, dass die Freigrenzen zur Einkommensanrechnung angehoben werden. Angehörige von Pflegebedürftigen sollen erst ab einem hohen Einkommen belangt werden können.
Die Bertelsmann Stiftung geht davon aus, dass der Beitragssatz zur Sozialen Pflegeversicherung bis 2045 von derzeit 3,05 auf 4,25 Prozent steigen wird. Für ein heutiges Durchschnittseinkommen wären das fast 550 Euro mehr im Jahr. Wie sind Ihre Berechnungen?
Dafür fehlt uns noch eine wichtige Grundlage, nämlich ein Tarifvertrag oder neue Mindestlöhne. Erst wenn hier Klarheit herrscht, können wir die Kosten schätzen und ein tragfähiges und faires Finanzierungskonzept entwickeln. In der Konzertierten Aktion Pflege haben wir vereinbart, dass Pflegebedürftige und Angehörige nicht überlastet werden. Daran werden wir uns halten und nach einem fairen Ausgleich suchen.
Derzeit gehen ausländische Pflegekräfte lieber nach Skandinavien oder in die Schweiz als nach Deutschland. Dort sind Ansehen und Bezahlung deutlich höher.
Aber auch die Lebenshaltungskosten. Pflege in Deutschland muss als Beruf attraktiver werden, für Interessierte aus dem Inland und aus dem Ausland. Daran arbeiten wir.
Auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Pflegekonzerne auf der einen Seite, auf der anderen Seite gestresste Pfleger sowie vernachlässigte Patienten. Bis wann werden wir glückliche Pfleger und glückliche Pflegebedürftige haben?
Ich halte wenig davon, Pflegekonzerne pauschal schlechtzureden. Wir brauchen den Mix aus gemeinnützigen und privaten Pflegeeinrichtungen. Und wir brauchen einheitliche, verbindliche Standards für die Entlohnung der Pflegekräfte. Deshalb streben wir einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag an. Ich kann Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser nur ermuntern, das Angebot zu nutzen, auf Kosten der Krankenkassen neue Pflegekräfte einzustellen und Teilzeitstellen aufzustocken. Dazu fördern wir familienfreundliche Angebote wie Kinderbetreuung in Randzeiten und Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung. Wenn wieder mehr Kolleginnen und Kollegen auf Station sind, werden die Arbeitsbedingungen besser und die Belastung für die oder den Einzelnen weniger. Davon profitieren auch die Pflegebedürftigen.
Kann die Politik garantieren, dass zusätzliche Mittel auch in privat geführten Pflegekonzernen auf die Qualität der Pflege einzahlen?
Für private und gemeinnützige Einrichtungen gelten die gleichen Anforderungen in Bezug auf Qualität und Personal, wenn sie Pflegebedürftige betreuen wollen, die in der sozialen Pflegekasse versichert sind. Ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag wird für private Häuser ebenso gelten wie die Qualitätsprüfung, die ab Herbst 2019 gelten soll, ebenso das Personalbemessungsverfahren, das im kommenden Jahr eingeführt wird. z
Das Gespräch führte Björn Lange.
Mehr Informationen zum Thema Pflege lesen Sie im Artikel von Stefan Arndt "Gute Pflege für ein gutes Leben".
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