Ein Gebet für die jüdischen Bewohner des Heimatdorfes
Zum Titelthema "Israel": Wolfram Nagel, Journalist, Dresden, über sein Leben als Jude in Deutschland
Kürzlich besuchte ich mein Heimatdorf Gleicherwiesen in Südthüringen. Ich suchte nach dem Haus von Hermann Aron Ehrlich, der hier 1815 geboren wurde. Europaweit bekannt war er im 19. Jahrhundert als Herausgeber der "Liturgischen Zeitschrift". Viele Jahre amtierte er als Lehrer und Kantor in Berkach, Landkreis Meiningen. Nichts weist in meinem Dorf auf die jüdische Familie hin, obwohl es das Haus noch gibt. Alle Spuren der Vergangenheit sind überbaut. Etliche ehemals jüdische Häuser wurden abgerissen. Die meisten Einheimischen wissen nicht einmal, wo sich die im November 1938 geschändete Synagoge befand. Der jüdische Friedhof befindet sich weit außerhalb des Dorfes, am alten Weg nach Streufdorf und Haubinda.
Durch die Namen auf den Steinen bekam ich schon als Kind eine Ahnung von dem verlorenen Leben der Landjuden in Südthüringen. Die Grenze verhinderte allerdings, auch die ehemals jüdisch geprägten Dörfer in Unterfranken oder Hessen kennenzulernen. Dort haben die Menschen schon vor Jahrzehnten begonnen, die Spuren zu sichern.
In Berkach (Landkreis Meiningen) ist das nach der Wende gelungen, ebenso in Bibra. Zum Herrschaftsbereich der Reichsritter von Bibra gehörte auch mein Geburtsort Gleicherweisen, woran eine verwitterte Tafel über dem Eingangsportal der evangelischen Kirche erinnert. In der Kirche selbst gibt es ein kleines Denkmal für die Gleicherwieser Juden. Das unterfränkische Adelshaus von Bibra erlaubte jüdischen Familien bereits im 17. Jahrhundert, sich in ihren Dörfern als sogenannte Schutzjuden anzusiedeln. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten fast so viele Juden wie Christen in Gleicherwiesen.
Bei meinem Besuch fragte ich den Ortschronisten, ein ehemaliger Schulkamerad, ob es denn nicht an der Zeit wäre, wenigstens das von Gras überwachsene Grundstück der zerstörten Synagoge durch eine Gedenktafel zu markieren. Es gibt sogar eine Zeichnung von dem Bau. Auch der Richtspruch ist überliefert. Doch fehle das Geld für solch ein Projekt, sagte der Ortschronist. Wenn sich kein Stifter finde, werde es vermutlich bei der Idee bleiben.
Mein ehemals jüdisches Geburtsdorf war wohl der wichtigste Impuls für mich, im Judentum eine religiöse Heimat zu finden. Seit 2009 gehöre ich der Jüdischen Gemeinde zu Dresden an. Als Journalist begleitete ich den Bau der Neuen Synagoge am Hasenberg. Und dort beteten wir bis Dezember 2022. Doch im Januar mussten wir zurück in die kleine Synagoge am Uni-Klinikum ziehen. Die erste in der DDR neu beziehungsweise umgebaute Synagoge.
Nach dem Anschlag von Halle wird, wie alle anderen Synagogen, auch die Dresdner Synagoge sicherheitstechnisch ertüchtigt. Gebaut worden war sie vor über 20 Jahren für eine wachsende Gemeinde. Doch inzwischen wird sie wieder kleiner. Es gibt wenige Geburten, dafür häufige Sterbefälle. Immerhin, eine feste Betergemeinschaft kommt an jedem Schabbat an der Fiedlerstraße zusammen, beschützt von Polizei und einem Sicherheitsdienst.
Im Gottesdienst blicke ich auf eine große Tafel rechts neben dem Toraschrein. Sie erinnert an die zwischen 1933 und 1945 aus Dresden vertriebenen und ermordeten Juden. Links neben dem Aron ha kodesch steht in großen hebräischen Goldbuchstaben das Kaddisch. Im Stillen sage ich es immer auch für die jüdischen Bewohner meines Heimatdorfes. Gleicherwiesen war nicht nur Geburtsort von Kantor Hermann Aron Ehrlich, es war bis zur Shoa auch ein bedeutendes jüdisches Handelszentrum an der Grenze von Südthüringen zu Unterfranken.
Wolfram Nagel, geboren 1955 in Gleicherwiesen, Südthüringen, lebt als freier Journalist in Dresden. Er ist Autor etlicher Radio-Features, zuletzt unter anderem "Nazis im Talar – Über die Entstehung der NS-Bewegung Deutscher Christen in Thüringen", "In der alten Heimat" oder "Jüdische Spuren in der Rhön". In der Jüdischen Gemeinde zu Dresden ist er als Mitglied der Repräsentantenversammlung und anderer Gremien aktiv.