Wozu (noch) Geisteswissenschaften?
In Großbritannien und Japan geben Unis geisteswissenschaftliche Fächer auf, in den USA sinkt das Interesse an ihnen. Doch ein Verzicht schadet der Gesellschaft.
Die Geisteswissenschaften befinden sich derzeit in einer ambivalenten Situation: Auf der einen Seite sind sie schon seit langer Zeit einem besonderen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, dies umso mehr, als die Tendenzen zur impactabhängigen Finanzierung der Hochschulen, zur Ausrichtung der Bildungssysteme an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes und zu steigenden Drittmittelanteilen in den Haushalten der Universitäten weltweit zunehmen. „Wozu (noch) die Geisteswissenschaften?“ Diese Frage kann man immer wieder hören, auch in Deutschland.
Auch von einer „Krise der Geisteswissenschaft“ ist schon seit Langem die Rede. Andererseits sind die Geisteswissenschaften oder zumindest bestimmte Fächer von ihnen aktuell als Ansprechpartnerinnen von Politik und Medien stark gefragt, wenn es darum geht, die unterschiedlichen globalen Krisen besser zu verstehen (Stichworte: „Flüchtlingskrise“, radikalislamischer Terror, globale Klimakrise), die ja auch als kulturelle und geistige Krisen wahrgenommen werden.
Allerdings stellt sich die Lage der Geisteswissenschaften in Deutschland und in einigen anderen Ländern unterschiedlich dar. Besonders dramatisch ist ihre Lage bekanntlich in Großbritannien, wo im Jahr 2014 das Research Excellence Framework die Forschungsfinanzierung konsequent an Impact und messbaren Kennzahlen ausrichtete. Dies hat zur Schließung vieler geisteswissenschaftlicher Fächerstandorte geführt. In Japan ist die Lage ähnlich, nachdem der Bildungsminister im letzten Jahr mehr als 50 Universitäten aufgefordert hat, ihre geisteswissenschaftlichen Fächer zu schließen, um die Angebote der Universitäten stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes auszurichten. Und in den USA sinkt der Anteil der angehenden Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler an allen eingeschriebenen Bachelorstudenten dramatisch, weil die Bundesstaaten ihre Bildungsbudgets zusammenstreichen.
INTERNATIONALE AUSSTRAHLUNG
Die Lage in Deutschland ist dagegen zum Glück besser: Die Zahl der geisteswissenschaftlichen Professuren ist seit 1997 im Wesentlichen konstant geblieben. Zwar haben zum Beispiel die Latinistik, die Osteuropäische Geschichte oder die Bibliothekswissenschaft stark verloren, aber die Gender Studies, die Südasienstudien oder Islamwissenschaft konnten stark zulegen. Stabilität und Renommee der Geisteswissenschaften in Deutschland dürften vor allem auf ihrer (immer noch nachwirkende) Funktion als Leitwissenschaften im 19. Jahrhundert, auf ihrer hohen internationalen Ausstrahlung wie auf ihrer Forschungsintensität und Forschungsexzellenz beruhen.
Dass sich die Geisteswissenschaften nicht – wie in den angelsächsischen Ländern – auf Ausbildungsstätten reduzieren lassen, wirkt hierzulande wie eine Art Lebensversicherung. Die Feststellung des Wissenschaftsrats von Anfang 2006 hat immer noch ihre Richtigkeit: „Die Leistungen der Geisteswissenschaften sind in der Forschung ebenso wie in der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses sehr gut und international anerkannt. Sie werden in einem selbstverständlich gewordenen internationalen Austausch erbracht und setzen auf vielen Feldern Maßstäbe. Die Geisteswissenschaften gehören zu den Wissenschaftsbereichen, die international Ausweis der Forschungs- und Kulturnation Deutschland sind. Sie wirken gleichermaßen an der politischen und kulturellen Selbstvergewisserung Deutschlands und an der ökonomischen Wertschöpfung mit.“
PERSNÖNLICHKEITSBILDUNG ERMÖGLICHEN
Die allgemeine Relevanz der Geisteswissenschaften erweist sich in ihrem Bezug erstens auf die Gesellschaft, zweitens auf die Universität und drittens auf die individuelle Persönlichkeitsbildung: Erstens haben unsere modernen Gesellschaften einen grundsätzlichen Bedarf an den Geisteswissenschaften. Der Philosoph Jürgen Mittelstraß drückt dies so aus: „Die Geisteswissenschaften sind (…) der systematisch ausgezeichnete Ort, an dem sich die moderne Welt, die moderne Gesellschaft, ein Wissen von sich selbst verschaffen, und dies in Wissenschaftsform. Wo ein solches Wissen, ein Wissen von sich selbst, fehlt, wird die moderne Welt orientierungslos, kennt sie sich selbst nicht und fällt sie allzu leicht darauf herein, was man ihr zu sein vorgibt, beispielsweise eine Konsumgesellschaft, eine Informationsgesellschaft, eine Wissensgesellschaft, eine Risikogesellschaft.“ Zweitens: Die Universitäten benötigen die Geisteswissenschaften, weil sie der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Forschung und Lehre die historisch fundierte Selbstreflexion von Mensch und Gesellschaft an die Seite stellen.
Erst in dieser Spannung verdient die Universität ihren Namen (von lateinisch universitas – das Ganze, die Gesamtheit) und kann sie auch erst zum intellektuellen Ort werden. Oder wie es John Hennessy, der Präsident der Stanford-University, zum Ausdruck bringt: „The Humanities produce the intellectual ring, the intellectual buzz of the universities.” Zum Dritten – und das ist mir als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz eigentlich das zentrale Anliegen – machen die Geisteswissenschaften den Kern des Anspruchs der Universitäten aus, die Persönlichkeitsbildung der Studierenden zu ermöglichen.
Dabei geht es nicht um Ausbildung auf ein bestimmtes Ziel hin, sondern darum, den Studierenden eine allgemeine Bildung zu ermöglichen, die sie zu Bürgern der Gesellschaft macht, die in der Lage sind, aufgrund selbstständiger ethischer Entscheidungen verantwortungsvoll zu handeln. Das aber geht nur mit den Geisteswissenschaften: Sie eröffnen einen wissenschaftlichen Zugang zum Menschen als denkendem und fühlendem Wesen und verdeutlichen, nach welchen Orientierungen und Wertmustern „Gesellschaft“ entsteht. Nur in der Aneignung solcher Erkenntnis ist Bildung erst möglich.
WISSENSCHAFTLER ALS AKTIVER TEIL DER GESELLSCHAFT
Aber die Geisteswissenschaften sollten sich keinesfalls auf dem Argument ausruhen, dass ihnen eine allgemeine Relevanz in der Gesellschaft, an der Universität und für das sich bildende Individuum zukommt. Vielmehr werden die Geisteswissenschaften nur dann eine Zukunft haben, wenn ihre Vertreterinnen und Vertreter sich in bestimmter Weise verhalten und zu ihrem Umfeld stellen. Die Geisteswissenschaftlerinnern und –wissenschaftler sollten zum Beispiel darauf bedacht sein, sich als einen aktiven Bestandteil von Gesellschaft, Wissenschaft und Universität zu verstehen und sich entsprechend mit vielfältigen Bezügen und Kooperationen ihrem Umfeld zu öffnen. Sie sollten Kooperationen sowohl in der Forschung als auch in der Lehre suchen, sowohl mit Kolleginnen und Kollegen am selben Standort als auch mit denen anderer Einrichtungen.
Die Kommunikation und Kooperation in Forschergruppen stellt eine besondere Möglichkeit dar, interkulturelle Problemlösungen zu suchen und neuen Ideen nachzugehen. Hier sind die vom Wissenschaftsrat in seiner Empfehlung vorgeschlagenen Forschungskollegs nach dem Vorbild der amerikanischen Institutes for Advanced Study ein geeigneter Weg.
Schließlich erscheint es notwendig, dass Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler ihre Forschungsergebnisse noch mehr als bisher der Gesellschaft gegenüber anschaulich und in verständlicher Sprache darstellen. Das öffentliche Interesse ist vorhanden, doch mangelt es oft an der Vermittlungsarbeit seitens der Geisteswissenschaften.
Sie benötigen aber auch ein positives hochschulpolitisches Umfeld. Deshalb engagiere ich mich derzeit mit Nachdruck für die so genannten Kleinen Fächer, die ja zu einem großen Teil aus geisteswissenschaftlichen Fächern bestehen. Ich bemühe mich darum, gemeinsam mit den europäischen Partnerorganisationen der Hochschulrektorenkonferenz eine solche Bestandsaufnahme für die Kleinen Fächer auch auf europäischer Ebene einzuführen. Mit einer entsprechenden Grundlage hätten Entscheiderinnen und Entscheider in Universitäten und Hochschulen eine Grundlage zur Hand, die sie zu einer sachgerechten und positiven Gestaltung der Kleinen Fächer benötigen.
Die Situation der Geisteswissenschaften ist also gar nicht so schlecht, wie es manche Unkenrufe wahrmachen wollen. Wir arbeiten stetig daran, ihre Situation weiter zu verbessern.
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