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Gedanken zum Thema Organspende

»Wem gehört der Körper nach dem Tod?«

Der 1. Juni 2013 ist als Tag der Organspende ein guter Anlaß, sich mit der persönlichen Spendenbereitschaft auseinanderzusetzen. Einen Beitrag dazu liefert der (gekürzte) Aufsatz von Theologieprofessor Notger Slencka (RC Mainz 50° Nord) aus »Zweites Leben« (wichern Verlag, 2013)

Notger Slenczka29.05.2013

Das Für und Wider der Organspende wird derzeit wieder diskutiert. Auslöser sind zunächst die jüngsten Unregelmäßigkeiten in der Vergabepraxis: Im Jahr 2012 wurde aus verschiedenen Kliniken berichtet, dass behandelnde Ärzte die Diagnosen ihrer Organempfänger gefälscht hätten mit dem Ziel, die Chancen für die Zuweisung von Spenderorganen zu verbessern. Es wurde der Verdacht geäußert, dass für diese fehlerhaften Diagnosen Geld geflossen sein könnte. Auch wenn sich dieser Verdacht vermutlich nicht erhärten wird, hatten die Berichte darüber offenbar schon jetzt verheerende Auswirkungen auf die Spendebereitschaft, die rapide zurückgegangen ist.

Bei näherem Hinsehen allerdings ist der Zusammenhang zwischen den Unregelmäßigkeiten in der Vergabepraxis und dem Schwinden der Bereitschaft, im Falle des Todes die eigenen Organe zur Verfügung zu stellen, ganz unselbstverständlich. Selbst wenn es bei der Vergabe Unregelmäßigkeiten geben sollte: Es gibt mit unschöner Regelmäßigkeit auch Berichte über Unregelmäßigkeiten in anderen Bereichen, etwa in karitativen Einrichtungen. In diesem Bereich beispielsweise spende auch ich Geld; diese Berichte beeinflussen aber meine Spendewilligkeit nicht grundsätzlich. Gewiss, ich werde darauf achten, wohin ich spende, aber ich werde das Spenden nicht einstellen. Offensichtlich ist die Einwilligung in die Weitergabe eigener Organe etwas ganz anderes als das Spenden von Geld. Und genau das ist merkwürdig: Die Organe werden mir entnommen, wenn ich selbst nach menschlichem Ermessen auf sie nicht mehr angewiesen sein werde. Strenggenommen kann es mir eigentlich egal sein, was mit meinen Nieren, meiner Leber, meinem Herz und mit meiner Netzhaut nach meinem Tod geschieht. Ist es wirklich besser, wenn meine Organe verwesen, als dass sie einem anderen Menschen das Leben retten?

Denn selbst wenn es zu Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe kommt: Letztlich rettet beispielsweise mein Herz jedenfalls ein fremdes Leben. Können mir dann die Unregelmäßigkeiten nicht egal sein? Aber so denken wir nicht. Das Spenden von Organen ist von Unbehaglichkeiten umgeben, wir fühlen uns nicht wohl bei dem Gedanken. Wir sehen grundsätzlich ein, dass das ein schöner Gedanke ist: dass ein Mensch durch unser Zutun weiterleben darf. Und vielleicht fühlen wir uns auch in gewisser Weise geradezu gedrängt, uns als Spender auszuweisen. Aber wir greifen sofort zu, wenn unser Unbehagen – tatsächlich oder scheinbar – einen Grund bekommt: Da wird gefälscht, hören wir, und schon zerreißen wir unseren Organspendeausweis. Warum eigentlich?

Das Hirntod-Kriterium: Wirklich tot?

 

Ein Grund für das Unbehagen ist sicher die Frage, ob ein Mensch, der für hirntot erklärt wird, auch wirklich tot ist. Denn die Entnahme von Spenderorganen setzt voraus, dass die Herztätigkeit und der Kreislauf noch einigermaßen stabil sind und damit das Absterben aller lebenswichtigen Organe noch nicht eingesetzt hat. Im Zeitalter der Intensivmedizin erhalten Apparaturen den Körper und alle Organe über den Tod des Hirns hinaus am Leben. Es ist die zeitliche Lücke zwischen Hirntod und Herztod, durch die die Möglichkeit eröffnet wird, unbeschädigte Organe – Herz, Nieren, Leber, Netzhaut der Augen, in neuerer Zeit sogar das Gesicht oder andere Körperteile – zu entnehmen und an geeignete Empfänger weiterzugeben. Viele Fragen sind schon mit dieser Voraussetzung verbunden: Die Frage beispielsweise, ob der endgültige Ausfall des Hirns wirklich das zentrale Kriterium für den Tod ist – oder ob man warten muss, bis alle zentralen Lebensfunktionen, also auch der Kreislauf, an ein Ende gekommen sind. Dann sind allerdings zumeist die Organe so weit geschädigt, dass keine Entnahme und Weitergabe mehr möglich ist. 


Organspende und Auferstehung des Leibes

 

Für einen Christen stellt sich möglicherweise die weitergehende Frage, ob er das darf: Einen Teil seiner selbst fortgeben, der dem Menschen von Gott geschenkt wurde und in dem er auferstehen wird. Diese Frage ist nicht neu. Sie plagte schon die Christen des dritten Jahrhunderts. Der Theologe Athenagoras beispielsweise setzte sich in einer langen Abhandlung mit der Frage auseinander, was denn eigentlich bei der Auferstehung mit dem Körper eines Menschen sei, der ganz oder teilweise von einem Tier oder – selbstverständlich versehentlich – von einem anderen Menschen gegessen, verdaut und in dessen Körper integriert wurde: Wem gehört, nach der Auferstehung, dieser Körper? Dem ursprünglichen Besitzer, oder demjenigen, der ihn sich durch das Essen angeeignet hat? Im Grunde weist diese Frage nur darauf hin, dass diese Vorstellung von der Auferstehung – Wiederherstellung desselben Körpers aus denselben physischen Bestandteilen – unsinnig ist. Schon Paulus hatte vom Auferstehungsleib als dem „geisthaften Leib“ gesprochen. Auferstehung bedeutet nicht, dass wir mit demselben physischen Körper nun einfach weiterleben, sondern es bedeutet, dass dieses Leben, das wir im Leib und durch den Leib, gebunden an eine bestimmte raum-zeitliche Situation, geführt haben – dass genau dieses Leben, unsere Biografie zwischen Empfängnis und Tod, aufbewahrt und aufgehoben ist bei Gott. Mit der Wiederherstellung eines physischen Körper hat das nichts zu tun. Das Unbehagen, das sich mit der Frage, ob wir bereit sind, unsere Organe zu spenden, einstellt, hat weitere, andersartige Gründe, die sich anhand der geltenden Rechtspraxis erläutern lassen.
 
Die rechtliche Zustimmungsregelung

Geltendes Recht in Deutschland ist eine „Zustimmungsregelung“. Eine Organentnahme ist nur möglich, wenn der Spender dies zu Lebzeiten ausdrücklich verfügt hat – etwa durch eine schriftliche Verfügung oder einen Spenderausweis. Diese Zustimmung muss aber nicht schriftlich vorliegen, sondern kann auch von den nächsten Angehörigen bezeugt werden, daher heißt die Regelung „erweiterte Zustimmungsregelung“. 2012 wurde diese Regelung verändert: Wir werden in Zukunft aufgefordert, uns zu entscheiden, ob wir als Spender zur Verfügung stehen. Beginnend mit dem 16. Lebensjahr wird jedem Krankenversicherten in regelmäßigem Abstand eine entsprechende Aufforderung zugeschickt.

Die Macht des Todes: Das Ich wird zum Es

Der Tod hat in der Tat eine schreckliche Macht. Aus fühlenden, denkenden, handelnden, planenden, sich bewegenden und behauptenden Wesen macht er uns zu Dingen. Steif und kalt liegt ein Leichnam da, nicht zu unterscheiden vom Kadaver von Tieren. Wir sind ausgeliefert – nicht nur dem Verwesungsprozess, sondern dem Gutdünken der Menschen, die uns überleben. Bislang haben sie mit uns gerechnet, haben unsere Eigenständigkeit respektiert, auch dann, wenn sie uns für ihre Zwecke eingesetzt haben. Und bislang konnten wir uns notfalls wehren, aktiven oder passiven Widerstand leisten. Pure Werkzeuge in der Verfügungsgewalt von anderen sind wir bis zum Tod nie. Der Tod ist genau darum schrecklich, weil es gar nicht wahr ist, dass wir nicht mehr sind, wenn er da ist. Es bleibt etwas von uns – unser Leib. Und es bleibt die Erinnerung an unser Leben. Es bleibt etwas – aber wir können nicht mehr darüber verfügen. Dennoch würden wir einen toten Menschen nie als Kadaver bezeichnen. Wir reden vom Leichnam. Wir sind schockiert, wenn wir Tote sehen, die nach dem Ableben obduziert oder gar misshandelt wurden. Wir umgeben die Toten mit Ehrfurcht und „bringen sie zur Ruhe“. Die Störung der Totenruhe ist ein Straftatbestand. Das zeigt: Der Umgang mit Verstorbenen ist ein uralter, ein urtümlicher Generationenvertrag. Der Umgang mit den Toten ist – in allen Kulturen – mit Riten und Tabus umgeben, die uns nicht nur, aber auch nicht zuletzt dessen vergewissern, dass wir nach unserem Tod würdevoll behandelt werden, unser Leichnam also nicht einfach achtlos weggeworfen wird wie ein Kadaver oder verwendet wird wie ein Gegenstand.

Organentnahme: Zulassen des fremden Verfügens über den Leib

Mit der Neufassung des Transplantationsgesetzes ändert sich daran nichts. Niemand verfügt gegen unseren Willen über uns. Aber es tritt die Frage mit neuer Dringlichkeit an uns heran, ob wir selbst es zulassen – verfügen, wollen, bestimmen –, dass unsere Organe für Menschen eingesetzt werden, die auf Spenderorgane warten, für den Fall, dass wir bei stabilem Kreislauf hirntot sind. Und hier bricht unser Unbehagen auf: Wir sollen einwilligen, dass über uns, über unseren Körper verfügt wird. Dass andere ihn sich aneignen. Wir werden jetzt, mit dieser Frage, dazu genötigt, unseren Körper, in dem und durch den hindurch wir jetzt leben, der hier, auf unserer Seite und nicht etwa in der Welt der Gegenstände ist, als Gegenstand zu betrachten, als Leichnam, als toten Gegenstand, den wir einem anderen Menschen schenken. Wenn wir Geld spenden, geben wir etwas, was ohnehin zur Welt der Gegenstände gehört. Wenn wir Organe spenden, geben wir etwas, was wir jetzt, als Lebende, nicht von uns selbst unterscheiden können. Wir geben uns selbst. Wir machen uns, uns selbst verfügbar. Ein Teil des Schreckens des Todes, sagte ich, ist der Verlust der Selbstbestimmung: Wir werden zum Gegenstand und damit grundsätzlich für andere verfügbar. Allerdings ist das nicht erst mit dem Tod so. Unser Leben besteht darin,dass über uns verfügt wird. Das ist nicht nur etwas Negatives. Gewiss: Jedes Zusammenleben von Menschen hat sicher auch die Momente, in denen über uns ohne unseren Willen oder gegen unseren Willen verfügt wird. Aber in vielen weiteren Situationen – meistens sogar – ordnen wir uns selbst einem gemeinsamen Zweck oder dem Leben anderer Menschen unter. Wir stellen uns zur Verfügung. Immer dann, wenn wir das gefunden haben, was unserem Leben eine Richtung gibt und es orientiert: ein Lebensziel, einem Projekt, einem anderen Menschen. 
 
Gehören wir uns selbst?

Nie gehören wir ganz uns selbst, und nie verfügen nur wir selbst über uns selbst. Im Tod vertrauen wir uns – nächst Gott – der Nachwelt an in der Hoffnung, dass sie mit unserem Leib und mit der Erinnerung an uns würdevoll und im Respekt vor dem, wer und was wir jetzt sind, umgeht. Und das ist die eigentliche Frage, die uns gestellt wird, wenn wir in Zukunft regelmäßig aufgefordert werden, über die Möglichkeit einer Organspende nachzudenken: Wer sind wir? Und wie wollen wir nach unserem Tod behandelt werden? Jeder kann das nur für sich beantworten, es gibt hier keinen (un)heiligen Zwang. Ich selbst habe schon seit langem einen Organspendeausweis. Aber: Wir gehören auch im Verfügen über den Umgang mit unserem sterblichen Leib nicht uns selbst. Ich werde diese Entscheidung, meine Organe zur Verfügung zu stellen, nicht einsam treffen. Ich werde die Menschen, denen ich gehöre, einbeziehen in meinen Entschluss. Ich habe einem von diesen Menschen die Möglichkeit gegeben, ein Veto einzulegen, wenn es sich zeigensollte, dass die Entscheidung nicht zumutbar ist – wenn etwa die Organentnahme die zeitnahe Durchführung der Beerdigung in unzumutbarer Weise verschiebt. Wir gehören nicht uns selbst. Wo wir unser Leben gestalten, tragen wir dem in aller Selbstverständlichkeit Rechnung. Wo wir auf den Tod zugehen, sollen wir das in aller Selbstverständlichkeit auch tun – angefangen vom Testament bis hin zur Verfügung über den Umgang mit unserem sterblichen Leib. Dass wir im Leben und im Sterben dem Herrn gehören, der sein Leben ganz in den Dienst am Nächsten gestellt hat, gibt, so denke ich, meinem Umgang mit mir selbst ganz selbstverständlich, aber auch ganz ohne jeden Zwang, vor allem aber auch ohne jede Nötigung anderer, eine Richtung.

Notger Slenczka
Prof. Dr. Notger Slenczka (RC Mainz-Nord) ist Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie Dogmatik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Werken gehört u.a. „Der Tod Gottes und das Leben des Menschen. Glaubensbekenntnis und Lebensvollzug“ (Vandenhoeck & Ruprecht 2003)

www.theologie.hu-berlin.de

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