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Kindheit in Indien

Tagsüber arbeiten, nachts lernen

700 Nachtschulen gibt es in Indien. Die Einrichtungen haben wenig mit dem klassischen Konzept von Schule zu tun, sind dafür nah dran am Alltag der Schüler, die tagsüber arbeiten müssen. Fast 700.000 Kinder aus armen Schichten lernen dort, was sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen. Eine von ihnen ist Saroj.

14.04.2014

Wenn man Saroj fragt, was Mathe ist, dann wird sie erzählen, Mathe sei die Menge an Heu, die ihre Kuh frisst oder die Anzahl von Holzscheiten, die sie brauche, um das Wasser für den Tee zu wärmen. Und wenn man sie fragt, was Biologie ist, dann wird sie erzählen, wie sie ihre Kuh gesund halten kann und welche Kräuter die Ziegen essen sollten. Und schon da, in diesem Moment, wird man denken, wie nah das Schulwissen  der neunjährigen Saroj an ihrem Leben ist und wie fern jede formale Bildung diesem Leben wäre. Denn was sollte Saroj mit Gleichungen zweiten Grades oder mit Genetik? Dieses Kind aus dem indischen Dorf Ghirr, das vom Leben nichts, noch nichts anderes will, als Hirtin sein.  

Am Morgen dieses Tages war Saroj wie jeden Tag mit der Kuh und dem Kalb losgezogen. Sie war später dran als sonst, weil sie noch die Hausaufgaben in Mathe machen musste. Der Vater war lange zu seinem Maurerjob, Bruder Vinod mit dem Bus zur Schule gefahren und die beiden älteren Schwestern Pinky und Poonam, 17 und 19 Jahre alt, hatten sich ein Tuch um die Haare gebunden und waren hinaus auf die Felder gegangen, um Mungobohnen zu pflücken. Ghirr war schon fast menschenleer, als Saroj die Tiere an den Fluss trieb.

Saroj Heimat ist ein winziges Dorf in der Provinz Rajasthan in Indien. Unberührbare, nennt man die Menschen noch heute dort. Im indischen Kastensystem stehen sie auf der gesellschaftlichen Skala ganz unten.  Arm und mühselig leben die Leute von der Feldarbeit und der Viehzucht. Fast alle Kinder des Dorfes arbeiten tagsüber als Viehhirten, sind dafür zuständig Wasser zu holen, Chapati zu backen, die Tiere zu füttern.  Für einen Schulbesuch bleibt den Kindern keine Zeit – jedenfalls nicht in einer staatlichen Schule, deren Unterricht während des Tages stattfindet.

Saroj geht auf eine Abendschule, eine  Nightschool.  700 davon gibt es in Indien, die meisten in so entlegenen Dörfern wie Ghirr. Der Name steht in Indien für eine menschennahe und menschenwürdige Bildung, die wenig mit dem klassischen Konzept von Schule zu tun hat. Dafür aber ganz nahe dran ist am Alltag und der Wirklichkeit der Schüler.  Fast 700.000 Kinder aus armen Schichten lernen in diesen Nightschools, an sechs Tagen in der Woche das ganze Jahr hindurch, was sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen.  Kinder, die aus Familien kommen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen, die groß gezogen  worden sind von Eltern, die selbst wenig oder keine schulische Bildung erfahren. Das sind rund 60 Prozent aller indischen Kinder, die in ländlichen Gegenden leben.

Saroj Schule liegt am Ende von Ghirr, dort, wo ein paar große Bäume stehen, unter denen tagsüber Wasserbüffel Schatten suchen. Das Gebäude war einmal eine staatliche Schule. Die aber wurde vor Langem aufgegeben und nur eine Tafel, auf der der Menüplan für die Woche steht, erinnert noch an den Ursprung des Baus. Stühle gibt es nicht, alle Kinder sitzen, lernen, schreiben auf dem Boden. Niemand in einem westlichen Land würde seinem Kind eine solche Schule zumuten wollen. Einerseits. Und andererseits vielleicht doch. Denn Nightschools sind ein Ort, an dem die Kinder vieles dürfen, fast nichts müssen und an dem der Lehrstoff in direktem Zusammenhang mit ihrem Alltag steht. Und: sie bestimmen über alles. Zum Bildungskonzept der Nightschools gehört Basisdemokratie. Deshalb wird unter den Kindern von jeweils drei Schulen ein Parlament gewählt. Mit allen Ämtern, die auch ein Landesparlament hat: Von der Premierministerin über die Erziehungsministerin bis zu den Sprechern und anderen Ministern. Die Verwaltung der Schulen obliegt diesem Parlament. Es kann Lehrer entlassen und einstellen. Es kann Empfehlungen für die Lehrpläne abgeben. Jeder Minister hat das Recht, alle Schulen zu besuchen und zu beurteilen.

Saroj ist klein für ihre neun Jahre.  Sie ist schnell schüchtern, dann zieht sie den Kopf zwischen die Schultern und die großen Augen werden noch größer. Wenn man ihr Fragen stellt, schaut sie erst zu Ram, ihrem Vater, dann zu Prem, ihrer Mutter, und erst wenn die beiden sagen, los Saroj, man hat dich was gefragt, bist du nicht mutig genug, zu antworten,  streckt sie sich und gibt mit der ganzen Würde ihres zarten Alters Antworten auf Fragen, die der westlichen Wahrnehmung entspringen. Dass dieses Kind den ganzen Tag arbeitet und dann noch abends zur Schule geht, das könnte einen zu Mitleid anregen, doch den Eindruck, Mitleid zu brauchen, erweckt Saroj nie. „Bringt es dir Spaß, die Tiere zu hüten?“ fragt man und sie nickt mit großem Enthusiasmus. „Stört es dich, dass du arbeiten musst?“  Sie überlegt, kaut auf dem Daumennagel.  Dann sagt sie, sie mag kein Wasser holen, das sei so schwer und Chapati backen, das sei langweilig, aber die Tiere hüten, das sei schön. Und die Schule? Würdest du lieber tagsüber zur Schule gehen. Da schüttelt sie vehement den Kopf. Warum nicht? „Weil ich in der Nightschool meine Freundinnen habe.“

Für ihre Schulsachen hat Saroj eine Tasche, die hat ihr die Schwester genäht. Vier Hefte sind darin, eines für jedes Fach: Hindi, Englisch, Mathematik und Biologie. Die Hefte, die Bleistifte, die Bücher erhalten alle Kinder umsonst.  Hindi ist Saroj Lieblingsfach. „Weil man Gedichte lernt und Lieder singt.“ Und Mathe – wie bei vielen Mädchen in aller Welt – das unbeliebteste Fach.

Sieben Stunden täglich hütet Saroj die Tiere. Manche ihrer Altersgenossinnen hüten zehn und mehr Wasserbüffel, treiben riesige Ziegenherde.  Nach der Arbeit mit dem Vieh kommt die Hausarbeit und dann die die Abendmahlzeit aus Dhal und Reis, Gemüse und Chapati.  Erst danach ist Saroj frei. Dann ist es schon 18.30 Uhr und Saroj läuft los zur Schule. An ihrer Seite Sonu, Prianca und Monica, ihre Freundinnen. Sonu lachen immer und Monica denke sich tolle Spiele aus, hatte Saroj auf die Frage gesagt, warum sie diese Freundinnen so möge. Und mit Prianca ist sie quasi aufgewachsen, deren Eltern sind Wanderarbeiter und selten da.

Ursprung des Nightschool-Konzepts ist die Barfuß-Bewegung, eine Bildungskampagne, mit denen den Ärmsten der Armen geholfen werden soll. In Tilonia, einem Dorf etwa eine halbe Stunde von Chirr entfernt, wurde vor 40 Jahren die erste Einrichtung für diese Menschen, Analphabeten die meisten, gebaut: das Barefoot-College.  Begründer dieser Idee ist der Inder Bunker Roy. Er als begann, mit den Unberührbaren zu arbeiten, hat man ihn als Kommunisten beschimpft wegen seiner Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit. Man warf  ihm vor, Kinderarbeit zu fördern, zu sanktionieren, dass die Kinder nicht in stattliche Schulen gehen. Doch Roy ließ sich nicht beirren. „Dass die Kinder auf dem Lande, wo alle arm sind, arbeiten müssen, ist eine Tatsache, die werden wir nicht ändern können. Was wir aber tun können, ist ihnen  Wissen zu geben, mit dem sie sich später ernähren können und nicht in die Elendsviertel der Städte ziehen müssen“, sagt er noch heute.

Für Saroj und die anderen Kinder sind die Nightschools nicht nur Bildungsstätte, sondern auch ein Ort, an dem sie vor Beginn des Unterrichts spielen können.  Saroj hat immer ein Stück Kreide in der Tasche, damit malt sie Kästen auf, um das Hüpfspiel Himmel und Hölle zu spielen.  Sonu spielt gerne Abklatsch-Spiele und Monica weiß, wie man Fäden zu Kunstwerken um die Finger wickelt. Lehrerin Kishan Kanwa, die von der Dorfgemeinschaft und den Kindern zur Lehrerin gewählt wurde und dann eine dreimonatige Ausbildung erhielt, hat es selten eilig, mit dem Unterricht anzufangen. Keine Schulglocke mahnt die Kinder. Dem magischen Abendlicht, das zu Beginn der Schulzeit um 19 Uhr noch auf die Kinder scheint, folgt schnell tiefe Dunkelheit. Kishan Kanwa stellt zwei Solarleuchten auf, eine für die Gruppe der Kleinen – die Sehsc- bis Achtjährigen, eine für die die der größeren Kinder, die Neun- bis Zwölfjährigen. Fünf Klassenstufen gibt es in der Nightschool, danach ist die angestrebte Basisbildung erreicht.  Ein paar streunende Hunde laufen herum und eines der Mädchen hat seinen Babybruder dabei und wiegt ihn in den Armen. Jeder Unterricht beginnt mit einem gesungenen Gebet.  Im Hindi-Unterricht lernen die Kinder Sanskrit, in Biologie stehen in jenen Wochen Krankheiten von Rindern und Ziegen auf dem Lehrplan. Und wie man sie heilen kann.

In den Anfängen der Barfuß-Bewegung erlebte Bunker Roy, wie die Ausbildung, die die Leute erhielten, dazu führte, dass sie ihre Dörfer verließen. Die Landflucht in Indien ist ohnehin groß. Wer durch Ghirr wandert, sieht viele Kinder, viele ältere Leute, aber kaum junge Erwachsene. Deren Träume von einem besseren Leben verpuffen in den Städten zwar schnell, doch die Rückkehr ins Dorf wäre das Eingeständnis eines Versagens und so bleiben sie in Jaipur, in Delhi, in Mumbai. Ohne Arbeit, ohne Zukunft. Die Nightschools sind keine Kaderschmiede, sondern lediglich ein Sprungbrett aus der tiefsten Not. Besonders für die Mädchen, die dort Selbstwert lernen und das Sich-Behaupten. Mehr als die Hälfte der Nightschool-Kinder, sagt Bunker Roy, schaffe anschließend die Aufnahme an einer staatlichen Schule und werde dort auch hingeschickt.

Bunker Roys  Konzept würde ohne internationale Unterstützung nicht funktionieren. Zu denen, die sich am Erhalt der Barefoot-Bewegung beteiligen und Bildung im ländlichen Indien unterstützen, gehört der Rotary Club München International. Dieser unterstützt in jedem Jahr zwei Nachtschulen in Rajasthan. Nun ist eine dritte Schule hinzugekommen, die sogenannte Brückenschule in Singla. Dort werden Kinder, die den Sprung von der Nachtschule auf eine staatliche Schule nicht schaffen, für ein Jahr unterrichtet, um die Wissenslücke zu füllen. Initiatorin dieser Schule –  die zugleich Internat ist, damit auch Kinder von Wanderarbeitern die Chance auf Bildung erhalten – ist Rotary-Mitglied Dagmar von Tschurtschenthaler. Ihre kleine Hilfsorganisation "Children for a better world" ist eng mit dem Barefoot College verknüpft und wird großzügig von ihrem Club unterstützt. 

Sarojs Geschwister schafften nach der  Nightschool den Anschluss an eine staatliche Schule und machten dort einen Abschluss. Dass Saroj Vater Ram alle seine Kinder, auch die Mädchen, zur Schule schickt, ist auf dem Lande nicht selbstverständlich. Ram war vor 35 Jahren selber ein Nightschool-Schüler, einer der ersten in seinem Dorf. Er lernte lesen und Basismathematik und kann sich deshalb auch als Maurer verdingen.

Dennoch muss Saroj immer dann zu Hause bleiben, wenn es viel zu tun gibt und nur selten schafft sie es, neben der Arbeit auch noch die Hausaufgaben zu erledigen. Die Tochter protestiert dagegen, der Vater bleibt meist hart: „Die Pflichten zuerst“, sagt er. In einigen Jahren, wenn Saroj die vier Bildungsjahre auf der Nightschool hinter sich hat, will er sie allerdings auf eine staatliche Schule schicken.  „Saroj braucht Vorbilder. Sie will nur deshalb Hirtin werden, weil sie nichts anderes kennt.“

Gegen 21 Uhr sind die Kleinsten müde und gehen heim. Als die Akkus der Solarleuchten gegen 22 Uhr leer sind und Lehrerin Kishan Kanwa ein Schlussgebet spricht, hat der Himmel längst all seine Sterne aufgespannt. Saroj gähnt in ihr Hindi-Lehrbuch. Am Nachmittag hat sie noch gesagt, dass sie oft zu müde für die Schule ist, aber dennoch geht. „Weil die anderen auch gehen.“ Als sie nach Hause kommt, raucht Ram seine Abendzigarette und Prem stopft die Löcher in den Jutesäcken für die Mungobohnen-Ernte. Die Schwestern nähen im einzigen Raum des Hauses noch an ihren Taschen.  Saroj kriecht zu Vinod in das selbstgebaute Holzbett, das steht im Hof, wo kühler Nachtwind weht.  Acht Stunden kann sie nun schlafen. Wird noch im Dunkel wieder aufstehen, Wasser holen und los ziehen mit den Tieren. Morgen wie jeden Tag.
(Von Andrea Jeska)