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Goldene Zeiten und »Scripted Reality«

Alles Blödsinn?–?oder was?

Uwe Kammann22.05.2012

Alles Blödsinn“: Mit dieser Begründung lehnte Marcel Reich-Ranicki, der die Routine-Bezeichnung „Literaturpapst“ durchaus gerne hört, vor vier Jahren den ihm zugedachten Deutschen Fernsehpreis ab. Sein Generalverdikt des Fernsehens fand ein millionenfaches Echo. Auch der Grimme-Direktor wurde mehre Dutzend Mal von Journalisten angerufen, und in der Regel schwang in der ersten Interviewfrage schon eine bestätigende Erwartung mit: Finden Sie nicht auch, dass …?

Die Überraschung am anderen Ende der Leitung war dann oft groß: Nein, durchaus nicht…. Und: Nein, der große Alte hat zwar ein Riesenreservoir an Literaturkenntnissen, doch vom Fernsehen, da versteht er herzlich wenig, da sind ihm die Programme allerhöchstens rudimentär geläufig. Obwohl er eines gut begriffen hat, wie sein früheres „Literarisches Quartett“ beim ZDF bewies: dass Temperament und Unterhaltung gut ankommen beim Publikum, sprich, dass es viele Punkte einbringt, wenn man nur ordentlich trommelt, auch wenn es auf Kosten einer differenzierten Darstellung geht.
Der laute und allüberall zu vernehmende Beifall für die die Medienschelte des MRR war oft mit einer zweiten Bewegung verbunden. Denn im Generalurteil über das sooo schlechte Fernsehen war oft eine weitere Behauptung eingewoben: Es gebe eine ständige Abwärtsbewegung, während es das Publikum früher doch viel besser hatte. Wer dann ehrlich und unbefangen der Frage nachging, ob es denn wirklich das Goldene TV-Zeitalter gab – mit lauter glänzenden Fernsehspielen, packenden Dokumentationen, vor Witz sprühenden Unterhaltungssendungen –, der konnte nur lapidar mit der Schulter zucken: Schön wär’s. Der positive Rückblick wäre nur zu erklären mit einer Verklärung der televisionären Vergangenheit: vielleicht, weil das Drumherum der Ereignisse schöne eigene Erinnerungen hervorruft.

Tatsächlich war vieles öde, spießig, schmalspurig, bei kleiner Auswahl. Denn, nicht zu vergessen: Mitte der 60er Jahre gab es mal gerade drei Programme, mit durchaus begrenztem Tagesangebot. Dagegen leben wir heute im TV-Paradies, jedenfalls dann, wenn man nicht das Gefühl hat, in überbordender Fülle sofort zu ertrinken. Wer will, findet zu jeder Stunde interessante, diskussionswürdige, anregende, aufregende Sendungen – hochprofessionell, elegant, nachhaltig. Allerdings, man darf sich nicht begnügen mit den sogenannten Hauptkanälen, muss gezielt suchen und wählen. Überall.

Was heißt: Bei der heutigen Technik wäre es falsch, von Abschieben und Verdrängen in abseitige Kanäle zu sprechen. Wenn der vermeintliche Elfenbeinturm-Sender ARTE Sex zum Thema macht, schnellt die Quote sofort zehn- bis zwanzigfach hoch. Bei Interesse wird er also durchaus gefunden. Nochmal: Es ist rund um die Uhr viel zu sehen, welches das beste Qualitätskriterium erfüllt. Nämlich, dass man mehr Zeit gewinnt als über verlorene Zeit zu klagen, kurz: dass man sich nicht berieselt, sondern bereichert fühlt.

TV-Qualität »Made in Germany«

Brillante und berührende Fernsehfilme aus den besten Werkstätten, Reihen wie „die story“ oder „Menschen hautnah“, ein tägliches TV-Feuilleton wie die „Kulturzeit“ auf 3sat, vertiefende und damit aufklärende Gesprächsrunden wie „Hart aber fair“, erhellende Dokumentationen und Reportagen: Das alles ist da. Und die Grimme-Preise in jedem Jahr werden stets zu Recht mit dem begleitenden und einordnenden Kommentar versehen: An der Spitze ist das deutsche Fernsehen exzellent, es kann sich auch im internationalen Vergleich mehr als sehen lassen, es spiegelt und bietet Vielfalt, es hat – und das beschränkt sich nicht nur auf rühmliche Ausnahmen – ein hohes professionelles Niveau aufzuweisen.

Aber natürlich zählt nicht nur die Spitze, ist bei weitem nicht alles preiswürdig, verdient nicht jede Sendung eine Diskussion, bietet nicht jede Anschauung, Anstöße oder auch nur eine halbwegs intelligente Unterhaltung. Wobei Unterhaltung, notabene, für viele Menschen eine wichtige Grundfunktion des Mediums ist. Für nicht wenige sicher sogar die einzige: Fernsehen wird dann zum laufenden Rund-um-die-Uhr-Begleitung, zur optischen Tapete, zum Zeitfüller.

Dass etwas dran sein muss am Fernsehen, das belegt der neue Höchstwert des durchschnittlichen TV-Konsums: 225 Minuten pro Tag, übersetzt: knapp dreidreiviertel Stunden, bei ziemlich stabilem Anteil (192 Minuten) auch der jüngeren Zuschauer, die doch angeblich in großen Scharen zum Computer abgewandert sein sollen. Nur: Was genau sich abspielt auf den Wegen der Bilder und Töne vom Apparat in den Kopf, darüber lässt sich seit eh und je nur spekulieren. Strukturierender Tageseinteiler und Lebensmittelpunkt? Deutender Lebensbegleiter? Langeweile-Bekämpfer? Elektronischer Ruhigsteller? Aufklärungsmaschine?

Die Antworten sind vielfältig, wahrscheinlich auch so vielfältig, in sich verschränkt und widersprüchlich wie die Individuen, die das auf- und wahrnehmen, was inzwischen in weitverzweigter Form zur Fernsehwirklichkeit gehört, in hundertfacher Kanalkonkurrenz, welche um das kostbarste Gut kämpft: Aufmerksamkeit – zumindest in der rudimentärsten Form: dem Einschaltimpuls.
Wie wenig verlässlich sich die Beziehungen zwischen Medium und Publikum voraussagen lassen, zeigt gerade die fast parallele „Götter“-Dämmerung dreier früherer Quotengaranten: Gottschalk, Kerner, Schmidt. Bei allen dreien rettete die mehr als deutliche Prominenz nicht vor dem Absturz: falsche oder fehlende Konzeption, ungewohnte Sender und Sendeplätze führten ins Abseits, auf Treue-Bonus konnte keiner zählen. Ähnliches gilt für Großkonzeptionen. Gegen alle brancheninterne Warnungen setzte die ARD im Übermaß auf ein populäres Format – die Talkshow – und auf den Spezial-Promi-Status eines Unterhalters/Journalisten – Günter Jauch. Und erntete was? Genau das Gegenteil des erhofften Zahlenerfolgs. Die Folgen des Überangebots: Entwertung, Abwendung, inklusiver vieler hämischer Kommentare.

Kommentare, oft pauschal auf das ganze System gerichtet, die dann immer eines übersehen: Fernsehen ist heute unglaublich komplex, ist hochindividuell geworden, auch wenn es natürlich einige Grundmuster gibt, die in Zeiten von Formatierungen und Standardisierungen (da geht es um vermeintliche Sicherheit des Erfolgs, um Gewohntes und Gewöhnliches) nur in höchster Not aufgegeben werden. Aber eine Schlagzeile wie „Drei Regisseure retten das deutsche Fernsehen“ (bezogen auf das ARD-Programmexperiment „Dreileben“ mit drei Fernsehfilm-Versionen von erstklassigen Regisseuren, und das alles an einem fünfstündigen Abend) verfehlt das Thema der generellen Qualität gründlich. Ebenso die genüsslich ausgestellte Haltung angesehener Kino-Kritiker, die in letzten Jahren die Devise ausgegeben haben, das Fernsehen sei nun das neue (tolle) Kino: vorausgesetzt, es handelt sich um amerikanische Serien à la „Dr. House“, „The Shield“, „The Wire“ oder „CSI“ mit allen Derivaten (Serien, die natürlich in ganzen Nächten am Stück gesehen werden, per DVD-Kollektion).

Richtig ist: Es gibt, vor allem befeuert vom amerikanischen Bezahl-Sender HBO, spezifische US-Erzählformate von Rang, so wie es auch spezifisch angesächsische TV-Erzählweisen hoher Qualität gibt (beispielsweise „Auf alle Fälle Fitz“ oder „Luther“), auch solche mit nun schon notorischen skandinavischen Zutaten und Geschmacksnoten.

Aber es wäre falsch, damit exemplarische Grenzziehungen zu verbinden, nach dem Muster: Die dort können es, die hiesigen hingegen nicht. Es gab und gibt auch im deutschen Fernsehen außergewöhnliche und außergewöhnlich gute Serien-Leistungen (wenn man das Serielle als wichtiges fernsehtypisches Element nimmt). Dazu zählen „Im Angesicht des Verbrechens“, „KDD – Kriminaldauerdienst“ oder „Kanzleramt“ oder, mit witzig-unterhaltendem Ansatz, „Stromberg“, „Dr. Psycho“, „Doctors Diary“, „Türkisch für Anfänger“. Reihentitel wie „Bella Block“, „Tatort“ oder „Polizeiruf 110“ stehen für Klammern über hoch individueller Erzählkunst, während „München 7“ oder „Löwengrube“ für regional Eingefärbtes stehen, das ohne jede Tümelei daherkommt: großes Fernsehen ohne große Attitüde.

»Müll-Fernsehen«

Aber, und hier liegt ein Teil der Crux bei der generellen Bewertung, vieles scheint unterzugehen, sich nicht so einzuprägen im trennend-kritischen Bewusstsein. Einmal, weil es ein Teil des verzweigten Gesamtangebotes ist; und zum zweiten, weil das eindeutig dem Müll-Fernsehen Zugeordnete sich als Sammel-Zielscheibe viel besser eignet, um sich – Stichwort: Sozialstatus und -prestige – vom Medium abzuheben. Um das in schönster Rechtfertigung zu tun, reicht es eben, mit allen nur verfügbaren Igitt-Fingern stellvertretend auf das Dschungelcamp-Format zu zeigen, und dann, je nach (Un-)Lust und Laune, auf all das, was als sogenannte „Realitätsunterhaltung“ vor allem bei einem Sender und seiner Derivate (RTL, RTL 2 und VOX) in tatsächlich erschreckendem Zeitmaß die Programmstrecken bestimmt (bei VOX und RTL sind es gut 40 Prozent des 24-Stunden-Tages).

Vom „Frauentausch“ bis zur „Mädchengang“, vom „Abspecken im Doppelpack“ über „Der Trödeltrupp“, „Familien im Brennpunkt“, „Ärger im Revier“, „Mitten im Leben“ bis zu „Auf und davon“ oder „Wohnen nach Wunsch“ und „Bauer sucht Frau“: All diese Formate (knapp 30 davon gibt es) gehorchen (natürlich mit vielen Modifikationen) einer inneren Linie: Sie richten sich Wirklichkeit und Wirklichkeiten nach eigenen Maßstäben zurecht. Sie tun so, als ob das wirkliche und wahre Leben – mit echten Menschen, Gegebenheiten, Situationen und Umständen – dargestellt würde.

Während es doch um eine Inszenierung geht, um fernsehgemachte Anordnungen der vermeintlichen Wirklichkeit: um „scripted reality“, wie es der Branchenjargon nennt. Eine „Panorama“-Reportage hingegen nannte das Ganze (in einem Topf) schlicht „Lügenfernsehen“.

Viele dieser Formate (zu denen auch spezifische Großformen wie „Deutschland sucht den Superstar“ zählen) sind national anverwandelte Importe und spiegeln das wieder, was eine globalisierte Unterhaltungsindustrie mit kleinen Zeitabweichungen als (Erfolgs-)Muster anbietet und weiterentwickelt. Landesspezifische Qualitätsmerkmale sind an ihnen also kaum abzulesen, eher unterschiedliche Mentalitätslagen. Mit ihren Mischungsverhältnissen, die im Grunde alle auf anscheinend zunehmende Bedürfnisse im engsten Austausch von Exhibitionismus und Voyeurismus zielen, spiegeln sie gesellschaftliche Zustände und Befindlichkeiten (und prägen sie sicher auch wieder), die früher kein mediales Spielfeld hatten. Aber verfälschend und grundfalsch wäre es, dieses Programmsegment (das nur wenige Sender bis in den Grenzbereich ausdehnen) über einen Leisten zu schlagen, es in vereinnahmender Geste für das Ganze des deutschen Fernsehangebots zu erklären und danach ein Urteil zu destillieren wie Reich-Ranicki („Alles Blödsinn“).

Nein, Fernsehen hierzulande ist wesentlich vielfältiger, es hat eine ganze Menge mehr an anderen Themen, anderen Formen und anderen Qualitäten zu bieten. Dass diese Vielfalt erhalten bleibt, ist übrigens nicht nur eine Sache der Macher und Anbieter. Es hat viel mit uns selbst zu tun, mit unserer Neugier, unserer Wachheit, unserer Findigkeit, unserer Offenheit. Der Zusammenhang von Angebot und Nachfrage ist auch beim Stichwort Fernsehen nicht außer Kraft gesetzt.n
Uwe Kammann
Uwe Kammann war von 2005 bis 2014 Direktor des Adolf-Grimme-Instituts in Marl. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören „HörWelten“ (Aufbau Verlag 2001) und „Organisierte Phantasie. Medienwelten im 21. Jahrhundert - 30 Positionen: Ein Panorama“ (Wilhelm Fink Verlag 2014).