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„Bäche und Flüsse brauchen wieder mehr Raum“

Titelthema - „Bäche und Flüsse brauchen  wieder mehr Raum“
Grimma Blick auf die Hochwasserschutzanlage von Grimma. Die sächsische Stadt an der Mulde ist stark hochwassergefährdet. © picture alliance/dpa/dpa-zentralbild

Naturschutz und Hochwasserschutz müssen in Einklang gebracht werden – zum Erhalt der biologischen Vielfalt und zum Wohle der Menschen.

Klement Tockner01.08.2021

Der Tagliamento (Friaul/Italien) ist der König der Alpenflüsse. Sein Einzugsgebiet ist in etwa so groß wie jenes der nordrhein-westfälischen Wupper, das naturnahe Flussbett aber bis zu einem Kilometer breit. Bei Trockenheit fließt er als Rinnsal, bei Hochwasser wird er mächtiger als der Rhein. Dennoch steigt das Wasser dann nur um etwas mehr als zwei Meter an – die angrenzenden Dörfer und Städte bleiben geschützt. Im Unterlauf hingegen, wo der Fluss in einen Kanal gezwängt wurde, betragen die maximalen Schwankungen des Wasserstands mehr als zehn Meter. Dort können Hochwasser sich verheerend auswirken. Beim Jahrhunderthochwasser im Jahr 1966 betrug der Pegel bei der Stadt Latisana knapp elf Meter, die Abflussmenge lag bei mehr als 4000 Kubikmetern pro Sekunde. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Wassermenge, die der Rhein in die Nordsee trägt, beträgt mit 2300 Kubikmetern pro Sekunde etwas mehr als Hälfte. Die Stadt Latisana wurde damals verwüstet, 14 Tote waren zu beklagen und 24.000 Häuser im Unterlauf wurden beschädigt oder zerstört.

Hochwasser: Fluch und Segen

Trotz ihrer zerstörerischen Kraft sind Hochwasser auch natürliche Ereignisse, die unverzichtbar für die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die ökologische Integrität von Flusslandschaften sind. Sie schaffen ökologisch wertvolle Pionierstandorte, halten die Gewässersohle durchlässig und verbinden den Fluss mit seinen Ufer- und Auenbereichen. Die Lebensgemeinschaften, das heißt die Tiere und Pflanzen, sind an Hochwasser angepasst. Zahlreiche benötigen sogar wiederkehrendes Hochwasser für ihr Überleben und für ihre immense Vielfalt. Aufgrund dieser Dynamik zählen naturnahe Gewässer zu den artenreichsten Lebensräumen weltweit – vergleichbar mit tropischen Regenwäldern und Korallenriffen.

Doch naturnahe Bäche und Flüsse sind sehr selten geworden. In Deutschland sind nur etwa acht Prozent aller Gewässer in einem guten oder sehr guten ökologischen Zustand. Ein seit Jahrzehnten, teils Jahrhunderten andauernder Raubbau an den Gewässern macht sich jetzt deutlicher denn je bemerkbar. Die biologische Vielfalt geht nirgendwo so stark zurück wie in unseren Bächen und Flüssen – und aus natürlichen, lebenspendenden Hochwassern werden vermehrt zerstörerische Katastrophen.

Hochwasser zählen heutzutage nach Stürmen zu den Naturkatastrophen mit den weltweit höchsten Schäden. Laut der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft sind rund 40 Prozent aller schadenrelevanten Naturkatastrophen in den letzten 40 Jahren auf Hochwasser zurückzuführen, mit einem Gesamtschaden von über einer Billion US-Dollar, wobei nur knapp zwölf Prozent der weltweiten Schäden versichert waren. Noch schwerer wiegen das Leid der Betroffenen, die Toten, Verletzten und Hinterbliebenen, die teils ihre gesamte Existenz verloren haben. Weit mehr als 170 Menschenleben sind allein im Juli als Folge der Starkregenfälle in Deutschland zu beklagen. Aber nicht nur Hochwasser nehmen zu, auch Stürme und Hitzewellen werden häufiger. Allein im Hitzejahr 2003 gab es 7600 Todesopfer.

Extremereignisse nehmen zu

Durch die Erderwärmung haben extreme Wetterereignisse und Hochwasser an Häufigkeit und Heftigkeit zugenommen – und damit auch der wirtschaftliche Schaden für die Gesellschaft und das Leid für die Menschen. Verstärkt wird die Wirkung von Starkregenereignissen durch die Versiegelung der Landschaft, Waldmonokulturen, ein dichtes Netz an Forststraßen, die Verbauung der Ufer und die Abtrennung der natürlichen Überflutungszonen. Da wir den Bächen und Flüssen ihren ursprünglichen Raum genommen haben, kommen die Flutwellen rascher und die Hochwasserspitzen werden höher. Die natürlichen Überflutungsgebiete wurden in Wohn- und Industriegebiete umgewandelt. Allein im Rheineinzugsgebiet leben knapp neun Millionen Menschen in ursprünglichen Überflutungsgebieten, und entlang der 20 größten Flüsse in Europa sind es in etwa 60 Millionen Menschen. Was bedeutet die Zunahme an Extremereignissen für sie und ihre Güter?

Laut dem World Economic Forum (WEF) gelten extreme Wettereignisse bereits seit vielen Jahren als größtes Umweltrisiko weltweit. Und der Schaden nimmt mit dem Verbauungsgrad der Flüsse und dem Verlust funktionsfähiger Auenlandschaften weiter zu. Dabei vertrauen wir aktuell auf rein technologische Lösungen – aber das ist zu kurz gegriffen und schadet zudem der Natur. Was passiert, wenn Hochwasser, die bei der Planung der Hochwasserschutzmaßnahmen im Durchschnitt alle 100 Jahre auftreten, in Zukunft alle zehn Jahre stattfinden? Wie passen wir uns daran an? Wir können nicht nur auf höhere Dämme und größere Rückhaltebecken setzen. Wir müssen verstärkt die Leistungen natürlicher Lebensräume und technischer Systeme verbinden – etwa den klassischen Hochwasserschutz mit der Renaturierung großer Flussabschnitte – so können wir Anpassungen an den steigenden Druck durch Extremereignisse vornehmen. In einigen Fällen, wie etwa im häufig überfluteten Machland entlang der oberösterreichischen Donau, wurden ganze Dörfer aufgegeben und die Bevölkerung ausgesiedelt – auf Basis der freiwilligen Bereitschafft der betroffenen Menschen. Somit wurden auch 600 Hektar natürlicher Überflutungsraum geschaffen, um die Menschen flussabwärts etwas zu entlasten.

Mehr Raum für die Flüsse

In der Schweiz zählen Hochwasser ebenfalls zu den Naturgefahren mit den höchsten Sachschäden, trotz enormer Investitionen in Schutzmaßnahmen. So hat das Hochwasser im Jahr 2005 drei Milliarden Franken an Schaden verursacht. Seitdem haben Bund und Kantone 4,5 Milliarden in den Hochwasserschutz investiert. Doch allein Dämme zu bauen reicht nicht. Gewässer benötigen Raum – und eine hundertprozentige Sicherheit wird es nicht geben. Das hat in der Schweiz zu einem Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz hin zu mehr Nachhaltigkeit geführt. Der dortige Hochwasserschutz zielt darauf ab, Schäden zu vermindern, indem gefährdete Gebiete nicht überbaut werden und Bäche und Flüsse wieder mehr Raum erhalten. Raumplanung und Unterhalt der Gewässer stehen an erster Stelle, erst dann sind bauliche Maßnahmen ins Auge zu fassen.

Auch entlang der Elbe führen Deichrückverlegungen anstatt neuer und höherer Dämme zu einem besseren Hochwasserschutz, da Auen als natürliche Rückhaltegebiete fungieren – etwa im Lödderitzer Forst in Sachsen-Anhalt. Kosten-Nutzen-Rechnungen ergaben, dass diese Maßnahmen einen kosteneffektiven Hochwasserschutz gewähren und zugleich vielfältige Ökosystemleistungen fördern – deutlich mehr als technische Infrastrukturen.

Es gibt keine Lösungen gegen die Natur

Am Tagliamento wird auch mehr als 50 Jahre nach dem Jahrhunderthochwasser noch über die notwendigen Vorsorgemaßnahmen gestritten. Immer wieder kommen neue großbauliche Maßnahmen ins Spiel – etwa Dämme und riesige Rückhaltebecken, die eine Einengung des unverbauten Mittellaufs zur Folge hätten. Aber Lösungen kann es nicht gegen, sondern nur mit der Natur geben: Naturschutz und Hochwasserschutz müssen in Einklang gebracht werden – zum Erhalt der biologischen Vielfalt und zum Wohle der Menschen. Die gerade begonnene UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen bietet eine einmalige Chance, beides zu verbinden.


Zu dicht besiedelt

Siedlungs- und Verkehrsflächen in Deutschland

2018: 51.315 km2
1992: 38.669 km2

Allein in den Jahren 2016 bis 2018 wurden täglich 52 ha für Siedlungs- und Verkehrszwecke neu in Anspruch genommen.

Etwa 45 Prozent der Siedlungs- und Verkehrsflächen sind in Deutschland aktuell versiegelt, das heißt bebaut, betoniert, asphaltiert, gepflastert oder befestigt.

Quelle: Umweltbundesamt


Überschwemmungen mit den höchsten Versicherungsschäden in Mio. Euro

August-Hochwasser 2002 (vor allem an der Oder): 4650
Juni-Hochwasser 2013 (in vielen Regionen Deutschlands): 2240

Die Versicherungsschäden nach der jüngsten Flutkatastrophe könnten sich laut Branchenangaben auf bis zu fünf Milliarden Euro summieren.

Quelle: statista.com

Klement Tockner
Prof. Dr. Klement Tockner, RC Frankfurt/Main-Friedensbrücke, gilt als international führender Gewässerökologe. Seit 2021 ist er Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und lehrt an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.