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Der Krieg ist allgegenwärtig

Rotary Aktuell - Der Krieg ist allgegenwärtig
Olha Paliychuks Handy ist im Dauereinsatz. Damit sie immer genug Akku hat, ist eine Powerbank ihr ständiger Begleiter © Axel Roll

Die Ukrainerin Olha Paliychuk kämpft mit allen ihr zur Verfügung stehenden humanitären Mitteln für die Menschen in ihrer Heimat. Mit viel Herzblut koordiniert sie von Tscherkassy aus Rotary-Projekte im ganzen Land.

01.05.2024

DOC 007“ – das Nummernschild an dem grauen Suzuki-Kleinwagen könnte passender nicht sein. Die Besitzerin Olha Paliychuk ist mit Leib und Seele Ärztin. Und stürmt wie Geheimagent James Bond 007 von einer Mission zur nächsten. Meist auf der linken Überholspur. Statt Pistole im Holster hat sie ein Handy in der Handtasche, Kopfhörer in den Ohren und wenigstens eine Powerbank dabei, damit das Mobiltelefon im täglichen Dauereinsatz nicht zwischendurch schlapp macht. Ihr Engagement für die rotarischen Werte hat seit dem 24. Februar 2022, dem Angriff der Russen auf Paliychuks Heimatland, noch eine ganz andere Dimension bekommen: „Ich kämpfe für die Menschen in der Ukraine mit allen mir zur Verfügung stehenden humanitären Mitteln.“ Und die Fronten, die Olha Paliychuk dafür aufgetan hat, sind kaum zu zählen.

Beruflich pendelt die Onkologin und Lehrstuhlinhaberin täglich zwischen Krankenhaus und Privatpraxis in ihrer Heimatstadt Tscherkassy. Zwischendurch gibt sie für die Rotary-Projekte, zum Großteil von ihr initiiert, was sie geben kann. Ihr größter Wunsch, wenn der Krieg einmal ein Ende hat: „Endlich einmal wieder ausschlafen.“

Immense Belastungen

So weit ist es aber noch lange nicht. Im Augenblick koordiniert die Medizinerin ein millionenschweres Hilfsprojekt mit den rotarischen Freunden aus dem münsterländischen Steinfurt (mehr dazu ab Seite 12). Dann sind da noch die vielen kleineren Hilfsaktionen, die die eigenen Binnenflüchtlinge, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, in den Fokus nehmen. Fußball- oder Segelcamps, Ferienfreizeiten, Schulunterricht über die Gefahren durch Minen, psychologische Hilfe für traumatisierte Kinder, Computer- und Softwareausstattung für eine Inklusionsschule oder Erste-Hilfe-Boxen für Familien, in denen der Vater an der Front umgekommen ist. Ist es da ein Wunder, dass die Ärztin mit einer Handy-Ladung nicht durch den Tag kommt?

Dabei fehlt in der Auflistung noch das medizinische Engagement von Olha Paliychuks, das über ihre berufliche Tätigkeit hinausgeht. Kurz vor Kriegsbeginn startete sie mit Unterstützung von vier Rotary-Distrikten in den USA ein Vorsorgeprogramm für Gebärmutterhalskrebs. Es ist noch nicht abgeschlossen, gerade erst hielt die Professorin eine Vorlesungsreihe an der Universität von Tscherkassy zu dem Thema. Sie ist Mitglied eines international besetzten Boards von Fachärzten und Spezialisten, die sich Gedanken darüber machen, wo es weitere Hilfe geben muss.

Ein Ergebnis dieser Beratungen: „Die psychologischen Belastungen durch den Krieg sind für die Ukrainer immens.“ Auf der anderen Seite gibt es kaum Fachleute, die die Betroffenen auffangen und behandeln können. Ein Projekt, an dem auch der RC Tscherkassy beteiligt ist: In einigen Schulen findet spezieller Unterricht für Flüchtlingskinder statt, die zum Teil ganz ohne Eltern in die Stadt gekommen sind.

Schon vor dem Krieg hatte sich Olha Paliychuk den Ideen von Rotary verschrieben. Der Kontakt kam zufällig zustande. 2016 behandelte sie ein fünfjähriges Kind in ihrer Klinik, das an Krebs erkrankt war. Der Vater war Rotarier, man kam ins Gespräch. Kurz darauf erhielt sie die erste Einladung zu einem Treffen des ersten von insgesamt vier Clubs, die sich mittlerweile in Tscherkassy gegründet haben. Sie stellte schnell fest, dass sie viele Rotarier aus ihrer Studienzeit kannte, 1996 machte sie ihren Abschluss. Die Klinikdirektorin entstammt in siebter Generation einer Medizinerfamilie.

2018/19 war Paliychuk Präsidentin ihres Heimatclubs, sie nutzte diese Zeit intensiv dafür, Aufbauarbeit zu leisten und neue Mitglieder aus der Wirtschaft zu werben. In dieser Phase wurde der Grundstein für die später im Krieg so wichtige Unterstützungsarbeit gelegt, berichtet die 51-Jährige.

Mit der Arbeit für Rotary tritt Olha Paliychuk in gewisser Weise eine Flucht an – die Flucht nach vorn. Der Krieg ist allgegenwärtig, oft nur auf den zweiten Blick. Die Medizinerin erzählt von Operationen während der Luftalarme mit Sandsäcken vor den Fenstern. „Wir können dann ja nicht einfach abbrechen und in den Schutzraum gehen“, sagt sie. 20 Jahre lang habe sie nicht geweint. „Durch den Krieg bin ich mittlerweile sehr emotional geworden“, gibt die alleinstehende Frau unumwunden zu, „aber aufgeben ist keine Option.“ Und steigt in ihren „DOC 007“-Kleinwagen, auf dem Weg zu einer neuen Mission.


Zur Person:

Prof. Dr. Olha Paliychuk, RC Tscherkassy, ist Gynäkologie-Onkologin und hat einen Lehrstuhl an der medizinischen Fakultät der Tscherkassy National University inne. In jeder freien Minute unterstützt die Ärztin die vom Krieg betroffenen Menschen in ihrer Heimat. Aktuell koordiniert sie neben diversen anderen rotarischen Projekten ein Großprojekt des RC Steinfurt.