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Wie der Homo sapiens seit Jahrhunderten an der Optimierung seiner Fähigkeiten arbeitet

Der Traum vom besseren Menschen

Der Drang zur stetigen Verbesserung des Menschen ist Jahrtausende alt. Die Digitalisierung unseres Alltags und die Ergebnisse der medizinischen Forschung – insbesondere auf dem Gebiet der Neurowissenschaften – haben die Möglichkeiten und Potentiale dafür dramatisch erweitert. Der folgende Beitrag dieses Titelthemas beschreibt die Chancen und Risiken einer Entwicklung, die das Mensch-Sein für immer verändern kann.

Gunter Gebauer01.09.2015

Die menschliche Gattungsgeschichte ist eine Geschichte der Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst. In den großen Schöpfungsmythen Europas kommt der Mensch unvollkommen in die Welt. Seine Vollendung bleibt seiner eigenen Tätigkeit überlassen. Aufgrund seiner Unfertigkeit wurde er in der Philosophie als „Mängelwesen“ aufgefasst. Doch das ist eine ungenaue Sichtweise: Was ihm fehlt, kann er nach eigener Entscheidung und Fähigkeit ergänzen. Die Verbesserung seiner selbst zieht sich als Leitmotiv durch die europäische Zivilisationsgeschichte. In ihren verschiedenen Epochen macht es sich auf unterschiedliche Weise als Echo der ursprünglichen Unvollkommenheit vernehmbar.

Als in der Antike die These vom Mängelwesen erstmals diskutiert wurde, sah man den Menschen durch seine Vernunft ausgezeichnet. Aber reichte diese aus, um sein Überleben zu sichern? Dafür brauchte man eine weitere Gabe: die politische Fähigkeit, in einem Gemeinwesen zusammen zu leben. Jedem Bürger war die Pflicht auferlegt, das Gemeinsame politisch zu gestalten und sich selbst zu bearbeiten, um aus sich eine handlungsfähige Persönlichkeit zu machen. Mit Hilfe von „Selbst-Techniken“ konnte der Einzelne ein Besser-Werden erreichen. Körperliche Übungen und geistige Exerzitien waren der Weg zur Selbst-Disziplin für jene, die ein gutes Leben anstrebten.

Mit der Spätantike richteten sich die Anstrengungen um Vollkommenheit vom Öffentlichen ins Innere des Menschen. Diese Richtungsänderung hat lange die europäische Vorstellung von Vollkommenheit bestimmt. Sie wurde von der christlichen Kirche aufgenommen und weiter ausgebaut. Nicht weniger dominant als diese Rituale waren seit dem Mittelalter die Handlungen, mit denen sich der Adel repräsentierte. Seine Bewegungen waren demonstrativ äußerlich, körperlich. Sie haben einen doppelten Sinn: Der Ritter beherrschte eine Technik, die gleichzeitig Herrschaftsgeste und Zeichen der Distinktion, der sozialen und ökonomischen Unterscheidung von allen anderen Gruppen war. Mit seiner Haltung drückte er den Anspruch aus, ein Mensch höherer Qualität zu sein. Dem Bürgertum als einem arbeitenden Stand wurde vom Adel der Aufstieg zu einem „besseren“ Menschsein verwehrt.

„Volksgesundheit“ und „Bio-Politik"

Ein grundlegender Wandel wurde im 18. Jahrhundert durch das Prinzip des Fortschritts eingeleitet. Rousseau deutete es hellsichtig als perfecibilité, als unendlich fortsetzbares Streben nach Perfektion. Der Fortschrittsgedanke richtet sich auf die Tauglichkeit des Körpers zu Arbeitsleistung und zur biologischen Erzeugung von gesunden Nachkommen. Unter dem Einfluss der neu entstandenen Physiologie und der Furcht vor Degeneration galten die Ideale und die Familienpolitik des Adels als veraltet. Die neuen Tendenzen im 19. Jahrhundert begünstigten die Ideale des Bürgertums der Arbeit, der Erziehung und der körperlichen Übung. Hinzu kam eine Politik, die sich auf die Förderung der Geburtenrate und der „Volksgesundheit“ richtete. Diese „Bio-Politik“ (Michel Foucault) war die frühe Form einer staatlich regulierten Optimierung des körperlichen Zustands der Bevölkerung – mit dem Ziel einer ökonomischen und militärischen Steigerung des Staats. Moderne Wissenstechniken wurden eingesetzt, um Informationen über Krankheiten statistisch zu erfassen und auszuwerten, Massenimpfungen zu organisieren und die Wirkungen bevölkerungspolitischer Maßnahmen zu kontrollieren.

An die Stelle von Idealvorstellungen des Menschseins traten behördliche Überwachung und staatlich gesetzte Normen. Erst nachdem führende gesellschaftliche Gruppen einen Lebensstil des Verzichts auf schädliche Gewohnheiten ausgeprägt hatten, veränderten sich die Verhaltensweisen der Mehrheit. Sie erscheinen jetzt als eine neue freiwillige asketische Haltung. Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Körpers werden als Ausweis von sozialem Status angesehen. Der Lebensstil ist in modernen Gesellschaften der entscheidende Indikator für soziale Zugehörigkeit. In den letzten Jahrzehnten wird das Besser-Sein höherer gesellschaftlicher Schichten wesentlich über eine Kombination technischer und biologischer Merkmale des Körpers angezeigt. Früher konnte man den sozialen Status am Zustand der Zähne erkennen. Heute sind die Zahnspange, die Adresse des Zahnarztes und die Beteiligung eines Schönheitschirurgen dafür ausschlaggebend. Die Qualität der biotechnischen Interventionen wird als Mittel eingesetzt, einen möglichen Konkurrenten oder eine Rivalin auf den Märkten auszustechen, wo um Stellen, um Aussehen, Partner, Sympathiewerte, Ansehen und um Bewunderung konkurriert wird.

Bei den Rivalitäten auf allen diesen Märkten geht es um Überlegenheit durch höhere Techniken der Menschenverbesserung. Wie im Konkurrenzsport gibt es nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zur Selbst-Verbesserung. Vernachlässigt man diese, muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, man würde ihn nicht „richtig“ betreiben. Der Hochleistungssport hat das Tor zu einem Wettkampf um das biologische Besser-Sein des Organismus geöffnet. Er führt vor Augen, was man mit dem Körper machen kann. Mit raffinierten Trainingstechniken wird die Leistungsfähigkeit entweder haarscharf an der Grenze des Erlaubten entlang gesteigert oder durch Doping über diese hinweg manipuliert.

Das Wort „Manipulation“ verbirgt eine Tatsache, die für den legitimen Sport besonders schmerzhaft ist: Der gedopte Sportler bewegt seine Beine so schnell und technisch perfekt, dass er eine Fabelzeit erzielt – die Kräfte sind geliehen, der Lauf ist wirklich. So ist es auch bei stimmungssteigernden Psychopharmaka. Der künstlich stimulierte Beglückte muss sein Glück auch ausdrücken können. Der Auslöser des Glücks ist künstlich, der Gefühlsausdruck ist echt. Will uns der gedopte Sport damit sagen, dass es nur auf das Ergebnis, auf das gesteigerte Menschentum ankommt, egal, wie das Ergebnis erreicht wurde? Wenn es keine Rolle mehr spielt, ob Kraft und Wohlbefinden tatsächlich den Lebensumständen abgerungen worden sind, genießt man ihre Wirkungen in der Überzeugung, dass man für seine Verbesserung „etwas getan“ hat. Es gibt dann keinen Grund für ein schlechtes Gewissen.

Biochemische Verbesserungen

Ob echt oder nicht, die (legale) trainingstechnische und die (bisher verbotene) biochemische Verbesserung wird von den Einzelkämpfern in den verschiedenen Konkurrenzen gegen andere Bewerber eingesetzt. Der aufgerüstete Körper kann sich des Beifalls sicher sein, wenn seine Leistungen die Erwartungen übertreffen. Die Freude über die Ergebnisse des enhancement in allen Bereichen übertönt die Bedenken: Der Mensch ist dabei, eine Grenze zu überschreiten. Das hat er in seiner Geschichte schon mehrfach getan. Aber dieses Mal ist es anders: Es geht nicht um die Gattung, nicht um die führende Klasse oder die ganze Nation. Sondern es ist das Individuum, das sich als Einzelkämpfer gegen alle anderen durchsetzen will. Die Bereitschaft, sich diesen Zielen und Mitteln hinzugeben, ist bei den Beteiligten nahezu unbegrenzt. Sie haben sie zu einer verinnerlichten zweiten Persönlichkeit gemacht.

Wenn die Unzufriedenheit mit sich selber die Selbstachtung zerfrisst, wenn man den eigenen Ansprüchen nicht genügt, wird die Steigerung der Physis über ihre Möglichkeiten hinaus zu einem geradezu moralischen Gebot. Am spektakulärsten geschieht dies in der Reproduktionsmedizin und bei der Kopplung von Mensch und Rechner. Hier wird an neuen Menschen-Modellen gearbeitet, die nicht mehr auf die alte Verletzlichkeit reagieren, sondern den Menschen ausschließlich von seiner möglichen Stärke her definieren: durch die Verbesserung des Erbguts und Züchtung eines Menschen mit gesteigerten körperlichen Fähigkeiten. Mit einem implantierten Chip könnte er mit Computern verbunden werden, Zugriff auf die Bestände des Weltwissens haben und in direkter Kommunikation mit unzähligen „Followers“ in sozialen Netzwerken stehen. Wenn diese Möglichkeiten so weit entwickelt sein werden, dass man sie auf dem Markt kaufen kann, wird sich die Frage stellen: Darf man seine Kinder schon vor der Geburt um ihre Chance bringen, zu den Privilegierten zu gehören? Eine zukünftige Moral wird dies verneinen.

Die Neu-Definition des Menschen der Stärke betrachtet nur einen schmalen Teilbereich des Menschlichen: das effiziente Handeln in der Konkurrenz gegen andere Menschen. Sie dient der Produktion von Sieger-Typen. Was aber wird ein solcher „höherer“ Mensch für sich selbst sein? Wird er ein Selbst-Verhältnis entwickeln, in dem er sich selbst beherrscht, seine Ambitionen kontrolliert und andere Menschen zur Geltung kommen lässt? Dieses alte Ideal wurde seit der griechischen Antike nie ganz außer Kraft gesetzt. Mit der Öffnung des Horizonts durch das Prinzip der perfectibilité scheint es dieses Gegengewicht nicht mehr zu geben. Die Vernunft, die nach dem Ideal der Aufklärung die Geschichte des Menschen leiten sollte, hat sich auf die Seite von Macht und Herrschaft geschlagen.

Gunter Gebauer
Prof. Dr. Gunter Gebauer ist em. Professor für Philosophie und Soziologie des Sports an der Freien Universität Berlin. Er war u. a. Präsident der Philosophical Society for the Study of Sports und Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. www.gebauer.cultd.net