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Essay

Die Langzeitwirkung von Diktatur und Teilung

George Turner22.10.2014

In der Euphorie um den Fall der Mauer hatten zu Beginn der neunziger Jahre viele gemeint, die Angleichung der Lebensverhältnisse in der früheren DDR an die in der (alten) Bundesrepublik wäre innerhalb von fünf Jahren nach dem Beitritt erledigt. Nicht erst heute wissen wir es besser. Um zu erklären, warum der Zustand im deutsch-deutschen Verhältnis lange nicht befriedigte, muss man sich die unterschiedlichen Ausgangspositionen der Menschen vergegenwärtigen.


Das begann mit der sogenannten sozialistischen Bildung, die auf die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins abzielte, das seinerseits als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung angesehen wurde. Die Auswahl für weiterführende Schulen, vor allem die Zulassung zum Hochschulstudium, unter Berücksichtigung der sozialen Struktur der Bevölkerung, führte zunächst zu einer Bevorzugung von Arbeiter- und Bauernkindern. Später spielten die aktive Mitwirkung an der „Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft“ und die „Bereitschaft zur Verteidigung des Sozialismus“ eine entscheidende Rolle, womit der Weg für Funktionärskinder geebnet war.


Diese Selektion der Studierenden erklärt auch, warum diese von der Wende keineswegs begeistert waren. Universitäten werden allgemein als Hort kritischer Auseinandersetzung und als Nährboden für konkrete Veränderungen betrachtet. Davon war an den Hohen Schulen in der DDR nichts zu spüren. Für die zukünftigen Kader bedeutete die Wende Ungewissheit der persönlichen Zukunft. Diejenigen, die zur Zeit der Wende in führenden Positionen tätig waren, gehörten überwiegend der ersten Generation der Arbeiter- und Bauernkinder an, die eine weiterführende Ausbildung genossen.


Das Urteil der Bundesbürger über die Menschen in der früheren DDR fiel oft hart aus: spießig und kleinkariert. Ungerecht war das, weil zuvor keine Chance bestanden hatte, sich etwas anderes anzueignen. Das Leben war gleichförmig, uniform; Abläufe wiederholten sich. Um bestimmte Dinge brauchte man sich nicht zu kümmern, weil der Staat sie erledigte. Das bedeutete zwar eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit, hatte aber auch den Vorzug der Bequemlichkeit.


Sozialistisches Recht

Eng mit der Bildung zusammen hing die sozialistische Rechtsauffassung. Das Recht wurde als Instrument eingesetzt, mit dessen Hilfe die Gesellschaft durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei zu führen war, um sozialistische Ziele zu erreichen. Ein solches Verständnis, das über Jahrzehnte eingetrichtert wurde, hat über Stichtage von Gesetzesänderungen hinausgehende Wirkung. Im Jahr des Mauerfalls 55jährige, geboren 1934, waren 1945 elf Jahre alt. Sie hatten nichts anderes kennen gelernt als Diktatur in unterschiedlicher Form.


Der Gegensatz zwischen Ost und West war eklatant: auf der einen Seite das Recht als Mittel zum Zweck, untergeordnet dem gesellschaftspolitischen Ziel, unter Hintanstellung der Belange des Individuums, auf der anderen Seite die weitgehende Verrechtlichung aller Lebensbereiche, die dem Einzelnen eine nahezu uneingeschränkte Garantie gibt, seine Interessen geltend machen zu können.


Die Wissenschaft in der DDR erwies sich bei näherem Hinsehen als in vielen Bereichen nicht konkurrenzfähig. Es war sicher richtig, die vielerorts vorhandenen marxistisch-leninistischen Institute abzuwickeln. Aber warum nur in den neuen Ländern? Universitäten in der alten Bundesrepublik hatten sich zum Teil mit Hochschullehrern ausgestattet, die nichts anderes taten als die Heilslehren des Kommunismus zu predigen. Sie blieben – im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern aus der früheren DDR – weiter in Amt und Würden, wenngleich nicht mehr ganz so deutlich vernehmbar wie zuvor. So musste es als besonders diskriminierend empfunden werden, dass die einen abgewickelt wurden, während sich den anderen bis dahin ungeahnte berufliche Möglichkeiten durch freie Stellen an den Hochschulen in den neuen Ländern auftaten. Dies wirkte vor allem desillusionierend auf diejenigen, die im alten System von beruflichen Möglichkeiten ausgeschlossen waren. Sie sahen sich ein zweites Mal benachteiligt.


Wenn man sich darüber mokiert, dass auch Angehörige der alten Kader Einfluss behielten, muss man registrieren, dass keine Art „Ersatzbank“ – wie ansonsten bei einem politischen Wechsel – mit Auswechselpotential verfügbar war. Dabei darf ein weiteres Defizit nicht übersehen werden: Die DDR hat über Jahrzehnte einen Aderlass durch die Abwanderung und Flucht von Menschen erfahren, die – abgesehen von politischen Gründen – auch deshalb fortgegangen sind, weil sie ihre Aktivität und Einsatzbereitschaft nicht so entfalten konnten, wie sie es selbst wünschten. Dieses Potential an kritischer Intelligenz und Unternehmertum fehlte.


Individuell haben viele Menschen in den neuen Ländern einen Selbstwertverlust erfahren. Die schnelle Wiedervereinigung, von der großen Mehrheit herbeigewünscht, entpuppte sich im Nachhinein als Sturz von einer Lebenswelt in eine total andere. Man stand den neuen Bedingungen des Alltagslebens ratlos und unbeholfen gegenüber. Die Selbstwertbeschädigung wurde besonders bei eingetretener Arbeitslosigkeit erfahren. Sie wurde als ein besonders harter Schicksalsschlag empfunden, weil sie gerade an der Schwelle eines Neubeginns nach der politischen Wende eintrat. Sie traf zunächst vor allem die mittleren Jahrgänge und damit diejenigen, die in erster Linie Träger der Revolution gewesen waren. Erfahren wurde der Verlust der Tätigkeit als Ergebnis der vermeintlichen Kälte und Brutalität der kapitalistischen Marktwirtschaft, so wie die Bannerträger des Sozialismus dies früher immer gegeißelt hatten.


Manche Erkenntnisse über die Situation in der DDR sind erst im Laufe der Zeit eingetreten. Das hing sicher damit zusammen, dass im Westen ein geschöntes Bild existierte und gepflegt wurde. Wäre das vom Chef der zentralen Plankommission erstellte sogenannte „Schürer-Gutachten“ bekannt gewesen, hätte es manche falsche Einschätzung in der Bundesrepublik über die wirtschaftliche Situation in der DDR nicht gegeben.


Das Urteil über die „Ossis“ ist geprägt auch von Pharisäertum. „Wessis“ sollten sich schon einmal fragen, wie widerstandsfähig sie selbst gegenüber dem politischen System gewesen wären, ob sie nicht ähnliche Verhaltensmuster angenommen hätten, wenn Bedingungen und Umfeld entsprechend gewesen wären. Man stelle sich einmal vor, Deutschland wäre nicht in Ost/West, sondern in Nord/Süd geteilt worden (vor allem von britischer Seite wurde 1945 befürchtet, dass die Sowjets einen Zugang zur Nordsee für sich reklamieren würden, was dann aber nicht geschah). Der Anteil an Helden, Mitläufern und solchen, deren Verhalten nicht zu tolerieren ist, wäre bei der betroffenen Bevölkerung kaum anders als er in der DDR gewesen.


Wollte man eine Liste aufstellen, was zusammenwächst und was getrennt bleibt, so müssten die Menschen in Ost und West sich wie in zwei Formationen gegenüberstehen. Eine solche Vorstellung wurde genährt durch die in der Tat in politischen Blöcken verankerten beiden deutschen Staaten. Einer näheren Betrachtung aber hält sie nicht stand. Die Ostdeutschen sind – ebenso wie die Westdeutschen – keine ethnische Gruppe, also nicht etwa eine relativ eigenständige Kultur- und Lebensgemeinschaft, auch kein weitgehend homogener Menschenschlag. Durch die Medien, in denen vornehmlich Westdeutsche ihre Eindrücke wiedergaben, wurde dem Betrachter eine einheitliche Ostmentalität vorgeführt. Dabei kamen die regionalen Eigenarten, die historisch gewachsenen Erfahrungen und die Sprachbezirke zu kurz.


Verdeckte Unterschiede

Der Mauerfall als überraschend eingetretenes Ereignis, auf das man nicht vorbereitet war, hat in aller Deutlichkeit offenbart, dass hier zwei Staaten existierten, die sich auseinander entwickelt hatten. Vierzig Jahre getrennt bedeutet auch, dass der gemeinsame geschichtliche Hintergrund nicht mehr als identisch empfunden wird. In der DDR wurden die gemeinsamen Wurzeln eben anders interpretiert und wahrgenommen als in der Bundesrepublik.


Die gemeinsame Sprache hatte die Unterschiede zugedeckt. Weil wir uns „verstanden“, glaubten wir, auch die jeweils andere Seite zu begreifen. Wäre ein Land mit einer anderen Sprache beigetreten, wäre man in der Bundesrepublik vorsichtiger im Urteil und zurückhaltender in den Erwartungen gewesen. Von unseren „Brüdern und Schwestern“ – ein Begriffspaar, das im Übrigen seit spätestens Ende 1990 aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist – glaubten wir, mehr Gemeinsamkeit erfahren zu dürfen.


Die Frage, was zusammenwächst und was getrennt bleibt, lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Getrennt wird das bleiben, was seinen Ursprung im regionalen, landsmannschaftlichen hat. Ein Zusammenwachsen wird es dort geben, wo man sich gemeinsam identifiziert, wo insbesondere im Verhältnis nach außen eine Interessengleichheit besteht.


Die Teilung Deutschlands konnte nicht in fünf Jahren überwunden werden. Dafür braucht es mindestens eine Generation. Mit dem 25jährigen Jubiläum des Mauerfalls ist diese Marke noch nicht ganz erreicht.

George Turner

Prof. Dr. George Turner (RC Berlin) war u.a. von 1986 bis 1989 Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin und bekleidete von 1989 bis 2000 einen Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der Universität Hohenheim. Zuletzt veröffentlichte er  „Hochschulreformen.: Eine unendliche Geschichte seit den 1950er Jahren“ (Duncker & Humblot Verlag, 2018).

 

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