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Flüchtlingswelle

Die Pflicht zur Rettung und die offene Tür

Über die ökonomische Ursache der Flüchtlingsströme und zwei höchst unterschiedliche Ansätze für eine angemessene Hilfeleistung

Paul Collier25.02.2016

Die große hässliche Tatsache der Welt, in der wir leben, ist das extreme Ungleichgewicht zwischen den Gesellschaften. Die Trennlinie verläuft zwischen gewalttätig und sicher, arm und wohlhabend. Dieses Phänomen ist historisch gesehen relativ jung und hat sich erst in den vergangenen 200 Jahren herausgebildet. Die Ungleichheit entstand nicht nur, weil manche Gesellschaften in Gewalt und Armut verfielen, sondern auch, weil eine Minderheit der Gesellschaften sich aus den antiqierten prekären Lebensverhältnissen befreite. Diese Minderheit, die bemerkenswert friedlich und in nie da gewesener Weise wohlhabend geworden ist, hat sich inzwischen auf mehr als eine Milliarde Menschen ausgedehnt. Dennoch ist es immer noch eine Minderheit.

Die meisten Länder und Regionen der Welt leben seit Jahrzehnten in Frieden. Der aktuelle Aufwärtstrend der Gewalt begann vor gerade einmal fünf Jahren, und sein Andauern ist unwahrscheinlich. Ferner ist seit 1990 das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Ländern kleiner geworden. Circa fünf Milliarden Menschen leben in Gesellschaften, die zwar immer noch ärmer als die wohlhabende Milliarde sind, dennoch holen sie auf. Die deutlichsten Beispiele sind China – ein Land, in dem mehr Menschen der Armut entkommen sind als je zuvor in der Geschichte – und Indien, das derzeit ein Wachstum von mehr als 7 Prozent verzeichnet. Somit bleiben noch ca. eine Milliarde Menschen, die in immer noch in massenhafter Armut verstrickten Gesellschaften leben. Auch diese werden aufholen, es wird jedoch mehrere Jahrzehnte dauern.

In der Zwischenzeit stehen wir einem massiven globalen Ungleichgewicht gegenüber. Friedliche und wohlhabende Gesellschaften existieren zeitgleich zu Gesellschaften, die in Gewalt explodieren, sowie Gesellschaften verzweifelter Armut. Eine verständliche Reaktion auf dieses Ungleichgewicht ist, dass viele Menschen aus prekären Gesellschaften in die erfolgreichen Länder gelangen wollen. Umfragen haben ergeben, dass ca. 40 Prozent dieser Bevölkerungen eine Auswanderung erwägen. Tatsächlich lässt sich kaum verstehen, weshalb bei offenen Grenzen die meisten Anderen nicht folgen sollen. Stellen Sie sich selbst in dieser Situation vor und fragen Sie sich, welche Wahl Sie treffen würden.

Doch hätte eine Migration solcher Größenordnung zwei offensichtliche Folgen: Sie würde erfolgreiche Gesellschaften, die ihre Grenzen öffneten, in unvorhersehbarer Weise verändern. Und sie würde die Auswanderungsgesellschaften um die ehrgeizigen und von Unternehmungsgeist getragenen Teile der Bevölkerung berauben.

ANGEMESSENE ANTWORTEN

Doch wie sollen wir mit der Situation umgehen? Auf die Herausforderungen durch Gewalt und Armut gibt es nur eine praktische Antwort als Lösung. Wir in den wohlhabenden Gesellschaften sollten alles in unserer Macht stehende tun, um die schrittweisen Prozesse zu beschleunigen, die zu Frieden und wirtschaftlicher Annäherung führen. Dies ist sowohl unsere moralische Pflicht als auch unser eigenes Interesse. Wie ich in meinem Buch „Die unterste Milliarde“ vorgeschlagen habe, gibt es vieles, was wir tun können. Ich zögere, unhöflich zu sein, aber bis jetzt hat Deutschland dazu geneigt, es sich auf der Basis der Anstrengungen der anderen wohlhabenden Gesellschaften zu einfach zu machen. Man denke hierbei zum Beispiel an die Verbesserung der Sicherheit in fragilen Ländern. Letztes Jahr hörte ich auf der Münchner Sicherheitskonferenz Bundeskanzlerin Merkel öffentlich die Bitte eines hochrangigen französischen Politikers um Unterstützung in der Sahel-Zone zurückweisen, in die Frankreich tapfer Truppen zur Stabilisierung der Krise in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik geschickt hat. Hinzu kommt die wirtschaftliche Unterstützung für arme Gesellschaften, damit diese wieder wirtschaftlichen Anschluss finden. Trotz großer steuerlicher Mühen hat Großbritannien seine Unterstützung für das UN-Ziel von 0,7 Prozent des BIP gesteigert und widmet die Hälfte dieses Geldes Staaten, die sowohl arm als auch fragil sind. Deutschland tut keines von beiden.

Stattdessen öffnete Deutschland in einer Reaktion, die in vielem dem Wunsch mancher deutscher Politiker geschuldet ist, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, im September seine Grenzen – ohne auch nur die anderen Mitglieder des Schengen-Bereichs hierzu zu konsultieren. Dies erzeugte eine vollständig vorhersehbare Reaktion: Von der ganzen Welt stürmten Menschen aus konfliktreichen und armen Gesellschaften nach Deutschland. Hoffnungsvolle Menschen veräußerten ihren Besitz zu Ausverkaufspreisen und erwarben dafür Plätze auf von Kriminellen betriebenen Booten. Das Ergebnis ist, dass Hunderte unnötig ertranken.

ALTERNATIVE HILFSMÖGLICHKEITEN

Tatsächlich gibt es auch eine andere Weise, die Pflicht zur Rettung syrischer Flüchtlinge zu erfüllen. Sie besteht darin, die syrischen Nachbarländer zu unterstützen, die einen sicheren Hafen geboten haben, wie dies im Rahmen internationaler Gesetze ihre Pflicht ist. In Jordanien sind beispielsweise mehr Flüchtlinge als in Deutschland, obwohl das Land eine deutlich kleinere Bevölkerung besitzt. Dies ist ein lebenswichtiges Prinzip, das es zu bewahren gilt, da die Nachbarländer für die Flüchtlinge am einfachsten zu erreichen sind und somit die beste Zuflucht für die Ärmsten und Bedürftigsten darstellen. Von hier aus ist auch die Rückkehr am einfachsten möglich, sobald die Gewalt ein Ende hat. Dieses Prinzip lässt sich jedoch nur bewahren, wenn die Zufluchtsländer nicht mit der finanziellen Last allein gelassen werden. Schändlicherweise lässt die reiche Welt die Regierungen der Zufluchtsländer die Rechnung bezahlen. Infolge dessen sind Jordaniens Schulden seit 2011 von 70 Prozent des BIP auf 90 Prozent gestiegen. Die Regierung von Bundeskanzlerin Merkel hingegen halbierte im Jahre 2014 den ohnehin schon bescheidenen Beitrag Deutschlands zu Jordaniens finanziellen Lasten.

Bei der Pflicht zur Rettung geht es jedoch nicht nur um eine Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkünften. Die Flüchtlinge wünschen sich, so viel Normalität wie möglich zu erhalten, und dies bedeutet u.a. den Erhalt der Selbstachtung durch Ausübung einer Arbeit. Die Zufluchtsländer haben keine rechtliche Verantwortung, Arbeitsplätze für Flüchtlinge bereitzustellen. Oftmals reichen die Jobs nicht einmal für die eigenen Bürger. Dennoch ist die Schaffung von Arbeitsplätzen ein grundlegender Bestandteil der internationalen Hilfe. Glücklicherweise hat die Globalisierung dies unkompliziert gemacht. Deutsche Unternehmen haben allein mehr als eine Million Arbeitsplätze in Polen und in der Türkei geschaffen, und Jordanien besitzt viele Industriegebiete, in denen sich ähnliche Arbeitsplätze ansiedeln lassen. Die Handelsbeschränkungen der Europäischen Union gegenüber Jordanien erfordern eine temporäre Lockerung, dies ist jedoch bereits auf dem Weg. Im Gegenzug ist die Regierung des Landes bereit, Flüchtlinge arbeiten zu lassen. Was ist nun besser - Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, oder deutsche Unterstützung für Flüchtlinge in den sicheren Zufluchtsländern?

BEITRAG UND RECHTE DER WOHLHABENDEN

Um zu sehen, weshalb es äußerst unethisch wäre, einer Gesellschaft das Recht, den Zuzug zu begrenzen, zu verweigern, ist Botswana zu betrachten, ein kleines Land im südlichen Afrika. Vor fünfzig Jahren war es bitterarm, inzwischen ist es recht wohlhabend. Dank der umsichtigen Bürger und ihrer Regierung wurde Botswana zu einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaften weltweit. Im Gegensatz hierzu verzeichnete Nigeria Einnahmen von mehr als einer Billion Dollar aus dem Handel mit Öl – und blieb dennoch arm. Die Bevölkerung Nigerias ist ca. 80 Mal größer als die von Botswana. Wenn es Botswana nicht gestattet gewesen wäre, die Zuwanderung zu beschränken, wäre sein Volk im Zuge einer großen Zuwanderung von Nigerianern schnell zur kleinen Minderheit geworden. Erfolgreiche Gesellschaften wie Botswana und Deutschland, die mit Anstrengungen Wohlstand erreicht haben, besitzen ein moralisches Recht, diesen zu bewahren.

Erfolgreiche Gesellschaften haben jedoch nicht nur Wohlstand geschaffen, sondern auch Großzügigkeit. Die Bereitschaft der Bessergestellten, Steuern zu zahlen, die als Transferleistung an ärmere Menschen gehen, ist ein gütiges Nebenprodukt einer gemeinsamen nationalen Identität. Eine harte, aber in der Forschung bekannte Tatsache ist, dass je höher der Anteil an Einwanderern in einer Gesellschaft ist, desto geringer ist die Bereitschaft der Bessergestellten, für sie Steuern zu zahlen. Aus diesem Grunde ist es leider völlig rational und verständlich, wenn die ärmere Hälfte einer großzügigen Gesellschaft Einwanderung fürchtet. Dies muss nichts mit Rassismus zu tun haben.

Doch auch wenn die wohlhabenden Gesellschaften nicht die moralische Pflicht zum Öffnen ihrer Grenzen haben, haben wir selbstverständlich die Pflicht zur Rettung derjenigen, die vor Konflikten fliehen mussten. Die Bereitstellung finanzieller Mittel für sichere Zufluchtsländer sowie von Arbeitsplätzen für die von ihnen beherbergten Flüchtlinge sind unsere Aufgabe, da wir dazu am besten in der Lage sind.

Am 4. Februar trat ein internationales Konsortium von Ländern zu einer in London stattfindenden Konferenz zusammen, das sich auf diesen Ansatz einigte. Kanzlerin Merkel nahm an dieser Sitzung teil; ich bin jedoch peinlich berührt zu sagen, dass Deutschland hinter den Kulissen ein unangenehmer Teilnehmer war, spitzfindig und verzögernd. Ich verstehe nicht, weshalb. Der britische Wirtschaftsminister ist mit einer Gruppe von CEOs nach Jordanien geflogen, um nach Möglichkeiten für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu suchen. In Deutschland könnten mehr Firmen, die in näherem Kontakt mit Jordanien stehen, das Gleiche tun. Vielleicht ist die Bundeskanzlerin überzeugt, dass Einwanderung den einzigen Weg darstellt.

Ich jedenfalls danke den Rotariern für diese Gelegenheit, die deutsche Wirtschaft zu einem Umdenken zu ermutigen.

 

 

Paul Collier
Paul Collier ist Professor für Ökonomie und Direktor des Zentrums für afrikanische Wirtschaft an der Blavatnik School of Government der Oxford University. Zuletzt erschien von ihm "Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist", (Siedler Verlag, 2017). www.ox.ac.uk