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Titelthema

Ein neuer Gefallenenkult

Titelthema - Ein neuer Gefallenenkult
Nordfriedhof ~ Düsseldorf ~ Deutschland © Sven Fennema

Der Ukrainekrieg ist auch ein Kampf um die Toten. Über Kriegsehrenmale und die Gedenkkultur in Russland und der Ukraine

Katja Makhotina01.11.2023

Je mehr Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergeht, desto größer wird seine Bedeutung für osteuropäische Gesellschaften, und vor allem für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Besonderheit der erinnerungskulturellen Situation liegt im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine: Ein Nachfolgestaat der siegreichen Sowjetunion, die Russische Föderation, hat einen anderen Nachfolgerstaat, die Ukraine, angegriffen, führt Krieg gegen seine Menschen und seine Kultur, und bezieht sich dabei auf das Erbe und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Die politische Instrumentalisierung der Toten des Zweiten Weltkrieges entfaltet gerade heute eine ungemein starke sinnstiftende, einerseits integrierende, andererseits exkludierende Kraft.

Neue Wache in Berlin

Am 8. Mai 2023, an dem "Tag der Befreiung", war zu beobachten, dass die staatliche ukrainische Gedenkpolitik an das Kriegsende einen grundlegenden Wandel erfahren hat. Zum ersten Mal hatte die offizielle Vertretung der Ukraine darauf verzichtet, an Gedenkzeremonien an sowjetischen Ehrenmalen teilzunehmen und legte ihren Kranz an der Neuen Wache, der Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Berlin nieder. Gewählt wurde somit eine in Deutschland umstrittene Gedenkformel, steht sie doch für ein pauschales Gedenken und die Kultur des Verschweigens und die Tabuisierung der NS-Tätergesellschaft der alten Bonner Republik, in der die deutsche Wehrmacht sich als Opfer stilisierte. Dieses Konzept machte Verfolger und Verfolgte gleich, was zunehmend fragwürdig erschien.

Noch umstrittener war in der Zeit ihrer Einweihung als Mahnstätte des wiedervereinten Deutschlands in den 1990er Jahren die zentrale Figur der Neuen Wache – die Pieta von Käthe Kollwitz, die die Mutter mit ihrem toten Sohn darstellt. Diese vor dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Figur würde, so die Kritik, ausgerechnet die jüdischen Opfer ausschließen, und somit die Viktimisierung der Deutschen noch stärker sakralisieren. Die sakrale Sprache und die christliche Überhöhung der Opfer bietet im Jahr 2023 aber offenbar der ukrainischen offiziellen Seite eine Möglichkeit, im öffentlichen Raum Deutschlands doch den Toten des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Dies ist ein äußerst wichtiges Zeichen dafür, dass der postsowjetische Staat sich nicht in den sowjetischen Ehrenmalen repräsentiert sieht. Das Gedenken sollte ent-sowjetisiert werden, steht doch das Sowjetische nun grundsätzlich für ein fremdes, gewaltsam aufoktroyiertes System. Daraus folgt das Lesen von sowjetischen Ehrenmalen und Gedenkstätten als "russischen Orten", die sie keineswegs bei ihrer Entstehung 1945-1946 waren, nun aber seit 2022 durch die Instrumentalisierung seitens pro-russischer Kreml-Aktivisten zu solchen geworden sind.

Mutter Heimat in Kiew

In unserer Wahrnehmung stehen sowjetische Kriegsehrenmale für schlichte kommunistische Monumentalpropaganda. Doch die Umstände ihrer Entstehung waren äußerst vielfältig: Es waren mitnichten nur aufoktroyierte Zeichen der Macht aus Moskau (im Gegenteil, es wurde Wert daraufgelegt, dass die Denkmale nicht wie Fremdkörper erscheinen), sondern lokale Initiativen von Überlebenden, jüdischen Gemeinschaften, Veteranen sowie Parteibeamten vor Ort.

Neues Symbol für den Kampf der Ukraine gegen Russland: die rote Mohnblume © Adobe Stock Photo

Vor allem in der letzten Welle der Denkmalsetzung, in den frühen 1980ern, als die Sowjetunion bereits im "reifen Kommunismus" stagnierte, mussten die Kriegsdenkmale nationale Form tragen – folkloristische, traditionelle Elemente wie Tracht oder Epos-Motive. Die 1981 aufgestellte Mutter-Heimat-Statue in Kiew wurde vom ukrainischen Künstler Vasili Borodaj geschaffen und lässt in der Ausgestaltung auch Folkloreelemente erkennen. Während die Kriegsdenkmale in den baltischen Republiken nach 1991 gleich als Zeichen der sowjetischen Fremdbesatzung aufgefasst und an den Rand gedrängt wurden, behielten die sowjetischen Ehrenmale in der Ukraine (wie auch in Belarus) ihre wichtige Stellung. Die deutsche Gewalt hatte im ukrainischen Familiengedächtnis tiefe Spuren hinterlassen. So blieben die sowjetischen Denkmale gesellschaftlich und politisch wichtige Orte des Gedenkens. Erst 2014, nach der russischen Annexion der Krim, begann die Symbolpolitik sich zu ändern. Das Gedenken sollte europäische Form annehmen und sich von der sowjetischen – oder der noch in Russland praktizierten – entfernen. Dazu gehörten die Einführung eines neuen Feiertages am 8. Mai (der Tag des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg), eines neuen Begriffes  ("Zweiter Weltkrieg" statt des "Großen Vaterländischen Krieges") und einer neuen Symbolik (rote Mohnblume). Hier begann auch die Analogiesetzung von ukrainischen Helden und Gefallenen des Zweiten Weltkrieges mit den ukrainischen Soldaten, die gegen russische Einmischungspolitik im Osten der Ukraine kämpften.

Russlands Großangriff gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 führte in der Ukraine zu einer sofortigen Reaktion im Umgang mit den Kriegsehrenmalen. Denkmale wurden demontiert oder gestalterisch umgedeutet: die Begriffe "sowjetisch" wurden aus den Inschriften entfernt, die Mahnmale in nationalen Farben gestrichen. Die Mutter Heimat bekam im Sommer 2023 das ukrainische Wappen (Dreizack) auf ihr Schild, das vormals das sowjetische Wappen trug.

Am sinnfälligsten ist die Praxis der Beisetzung der Gefallenen des aktuellen Krieges an den Soldatenfriedhöfen des Zweiten Weltkrieges. Der Satz Robert Musils, "nichts ist unsichtbarer als ein Denkmal" kann und wird hier in absehbarer Zeit nicht greifen, denn ein bestehender Gefallenenkult wird verstärkt – und ein neuer geschaffen: die Denkmale für Soldaten spielen hier die zentrale Rolle. Auch in den (meist sowjetischen) Kriegsmuseen und Gedenkstätten in der Ukraine wird der Befreiungskampf der Gegenwart in eine Parallele zum Kampf gegen den deutschen Faschismus gestellt. Das Hinzufügen der nationalen Perspektive ist für die Ukraine eine Möglichkeit, das Gedenken zu ent-sowjetisieren.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stimmte am 8. Mai die Gesellschaft auf den "eigenen Sieg" ein, einen Sieg, der tatsächlich ein ukrainischer sein wird – und zukünftig die neue nationale Sinnstiftung leisten soll. Es ist ein Hinweis darauf, dass in der Hierarchie der Erinnerungsorte der aktuelle Krieg aufgrund seiner nationalen Eindeutigkeit einen wichtigeren Platz einnehmen wird.

Friedhöfe in Russland

Die gleiche Praxis mit gegensätzlicher Erinnerungslogik ist in Russland zu sehen. Die Orte der Erinnerung an den deutsch-sowjetischen Krieg 1941-1945 werden vom Staat für die Trauer um die Toten des aktuellen Krieges genutzt. Die Parallelisierung der beiden Kriege ist jedoch viel künstlicher und offenbart ihre schräge Konstruktion in der Frage nach der Funktion des Gefallenenkultes: Starben die Soldaten 1941-1945 im deutschen Vernichtungskrieg für die Befreiung ihrer Heimat, sind die heutigen staatlich geehrten Toten Angreifer, Besatzer, oft Verbrecher. Die Parallelen, die der Staat zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Krieg gegen die Ukraine aufmacht, pervertieren die Erinnerungskultur und verletzen jene Menschen, die den Tag des Kriegsendes als wichtigsten Gedenktag an ihre Angehörigen sahen. Das wird noch weiter zur De-Sakralisierung der Kriegserinnerung beitragen. "Mein Land hat die Erinnerung an den Krieg verraten. Alles, wofür meine Vorfahren gekämpft haben und gestorben sind, wurde mit Füßen getreten", sagte eine Frau Namens Anastasia am 8. Mai 2022 in Chabarowsk, Russland. "Heute fahren wir zum Friedhof, auf dem meine Opas, Kriegsveteranen, und meine Oma, eine Arbeiterin an der Heimatfront, begraben sind. Ehrlich gesagt, ist es gut, dass sie jetzt nicht mehr am Leben sind. Sie hätten diesen Albtraum nicht überlebt."

Katja Makhotina

Dr. Ekaterina Makhotina ist promovierte Osteuropahistorikerin und vertritt die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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