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Eiszeit statt Partnerschaft

Der lange Weg zur deutsch-russischen Entfremdung

Igor Gretskij01.04.2016

Seit dem Zerfall der Sowjetunion erlebte das deutsch-russische Verhältnis verschiedene Phasen: von der gegenseitigen Faszination bis hin zur gegenwärtigen tiefen Krise. Von dem 1991 kollabierten Sowjetimperium erbte das neue Russland einen guten Fundus an Verbindungen mit der Bundesrepublik. Die von der sowjetischen Führung bereits Ende der 80er Jahre eingeleitete „Perestroika“ wurde in der westdeutschen politischen Landschaft positiv aufgenommen. Innerhalb von drei Jahren (1989 bis 1991) konnten sich die Regierungen beider Länder über viele komplexe Fragen verständigen: von der deutschen Einheit, dem Abzug der sowjetischen Truppen und der Finanz- und Lebensmittelhilfe für Moskau bis hin zur Frage der Zukunft der KSZE und der Situation am Persischen Golf. Diese Zeit lässt sich mit Fug und Recht als Höhepunkt der deutsch-russischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einstufen. Die politische Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern war in dieser Etappe der postsowjetischen Geschichte ausgesprochen effektiv. Warum hat sich die Atmosphäre im gegenseitigen Verhältnis derart verschlechtert?

Erwartungen nach dem Kalten Krieg

Dies lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass sich die Wahrnehmung Deutschlands im russischen Establishment in den seitdem verstrichenen 25 Jahren wesentlich verändert hat. Michail Gorbatschow betrachtete die Bundesrepublik als einen zuverlässigen Partner und war der Meinung, dass eine enge Kooperation mit Deutschland ein organisches Element der sowjetischen Politik sei. Die Sympathie war gegenseitig. In der Bundesrepublik sah man in Gorbatschow einen progressiv denkenden sowjetischen Politiker der neuen Generation, der die „Breschnew-Doktrin“ aufgegeben, die „Perestroika“ verkündet, eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa angeboten und versucht hat, die sowjetische Gesellschaft zu demokratisieren. Bundeskanzler Kohl unterstützte Gorbatschow voll und ganz, war sich jedoch völlig darüber im Klaren, dass seine Ansichten bei weitem nicht von der ganzen Elite des Landes geteilt wurden. Da in der sowjetischen Politik traditionsgemäß das Militär und die Geheimdienste eine große Rolle spielten, befürchtete der Bundeskanzler, dass in der UdSSR, sollte die Perestroika scheitern, sich eine Art Bonapartismus hätte etablieren können.

Wie Michail Gorbatschow deklarierte auch der erste Präsident Russlands, Boris Jelzin, eine Politik demokratischer Reformen und betrachtete Deutschland als einen Partner, der Russland in seiner verzweifelten wirtschaftlichen Situation mit Anleihen und Krediten helfen konnte. Ende der 90er Jahre entfiel etwa die Hälfte der Auslandsschulden Russlands auf Deutschland. Jelzin suchte zugleich aber auch nach Möglichkeiten, die Rückschläge der inländischen Reformbemühungen durch beeindruckende Aktivitäten auf dem internationalen Parkett zu kompensieren, wobei er auf einen massiven Beistand Berlins rechnete. Als Verhandlungspartner war Jelzin für den deutschen Bundeskanzler eher unbequem und weniger vorhersagbar, damals aber war Deutschland zu vielen Zugeständnissen bereit, um Russland auf dem Weg der demokratischen Reformen zu behalten. Mit wesentlichem Beistand Berlins ist es Russland gelungen, Mitglied solch angesehener Organisationen wie der G7 und des Europarats zu werden. Jelzin bemühte sich auch um die geopolitische Gestaltung der Beziehungen mit Berlin. Unter starkem Einfluss des konservativen Teils seiner Umgebung versuchte er, als Gegengewicht zu den USA eine russisch-deutsch-französische Achse zu schmieden, wurde jedoch in dieser Frage nicht von Kanzler Kohl unterstützt. Als es in der zweiten Hälfte der 90er Jahre deutlich wurde, dass die demokratischen Umgestaltungen in Russland nicht richtig vorankommen, verloren auch die Beziehungen Russland-Deutschland an Dynamik.

Mit dem Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins schienen die deutsch-russischen Beziehungen einen neuen Impuls erhalten zu haben. Der russische Präsident sprach fließend Deutsch, blickte auf Erfahrungen der Arbeit in der DDR zurück, seine Rede im Bundestag 2001 wurde mit viel Applaus aufgenommen. Moskau zeigte sich bereit, die demokratischen und marktwirtschaftlichen Umgestaltungen fortzusetzen und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und ihrem Schlüsselmitglied Deutschland aktiv auszubauen. Aber trotz seiner Bemühungen um eine gleichberechtigte Mitgliedschaft in der europäischen Familie der konsolidierten Demokratien klammerte Russland die Reformen der Institute seiner Zivilgesellschaft aus. Wladimir Putin vertrat die Ansicht, dass die russisch-deutschen Beziehungen gemäß dem Prinzip „deutsche Technologien gegen russische Naturressourcen“ zu gestalten seien. Es gehe also nur um eine wirtschaftliche Modernisierung, nicht jedoch um eine politische. Dies kam insbesondere darin zum Ausdruck, dass die Regierung die Regeln für die Aktivitäten der ausländischen NGOs in Russland bedeutend verschärfte. Dieser Ansatz löste in Deutschland ernste Besorgnis aus. Obwohl es bis 2014 in der bilateralen Agenda Russland-Deutschland keine kritischen Streitigkeiten gab, stauten sich allmählich Meinungsunterschiede an.

Wendepunkt in der Partnerschaft

Nichtsdestoweniger haben die beiden führenden Repräsentanten bis 2008 das Verhältnis zwischen beiden Ländern als „strategische Partnerschaft“ gewertet. Es ist zu vermerken, dass Präsident Putin diesen Begriff häufiger benutzte als Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dies ist nicht nur damit zu erklären, dass Deutschland zu den wichtigsten Handelspartnern Russlands zählte. Für die russische politische Elite war Berlins Beistand in den internationalen Angelegenheiten wichtiger. Dabei wurde das Handeln Deutschlands in der internationalen Arena durch das Prisma des Amerika-Zentrismus betrachtet, der sich ab Mitte der 2000er Jahre im russischen politischen Diskurs bedeutend verstärkte. Gemäß diesem Paradigma sei die deutsche Außenpolitik nicht selbständig, sondern den USA-Interessen untergeordnet. Deshalb lenken beliebige Differenzen zwischen Berlin und Washington besondere Aufmerksamkeit der russischen Medien auf sich, sie werden stets als Streben Deutschlands nach einer selbständigen Rolle in der Weltarena gedeutet. Deshalb wurden die Nichtbeteiligung Deutschlands an den militärischen Operationen im Irak und die 2008 in Bukarest geäußerte negative Einstellung Berlins zur Idee George W. Bushs, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, hoch eingeschätzt. Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass man in Russland den „Schulmeisterton“ am häufigsten dem Westen allgemein oder den USA, jedoch nicht Deutschland vorwirft.

Den Wendepunkt in den russisch-deutschen Beziehungen markierten das Frühjahr 2014 und die Krise in der Ukraine. In diesem Kontext werden in Russland Deutschland und seine Außenpolitik ambivalent wahrgenommen. Einerseits zeigt man sich im Kreml dadurch unangenehm überrascht, dass Deutschland die führende Rolle bei der Verhängung der EU-Sanktionen gegen Russland wegen der Krim-Annexion und der Separatistenunterstützung im Donbass gespielt hat, denn bis dahin hatte die Wirtschaft in der bilateralen Agenda den Vorrang gehabt. Zugleich ist sich das russische Establishment durchaus darüber im Klaren, dass es Bundeskanzlerin Merkel schwer fällt, alle 28 EU-Staaten zusammenzuhalten und die Verlängerung der Sanktionen gegen russische Beamte und Unternehmen durchzusetzen. Um es Berlin noch schwerer zu machen, greift Moskau zu den unterschiedlichsten Instrumenten: von lautstarken Medienkampagnen zum Thema EU-Zerfall und zur Auflösung der Euro-Zone bis hin zu Kontakten mit europäischen Rechtsradikalen und zu Annäherungsversuchen mit Staaten wie Ungarn, die Slowakei, Griechenland und Italien.

Andererseits sieht man klar, dass sich die Situation im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und den Minsker Vereinbarungen mit jedem Tag verschlimmert, was immer höhere Kosten für alle Parteien, die dort direkt oder indirekt involviert sind, verursacht. In diesem Kontext wird Deutschland von Russland zweifellos als Partner gesehen, der einen großen Beitrag zur Ausarbeitung eines akzeptablen Kompromisses leisten kann.
Heute wird viel davon gesprochen, dass die Beziehungen zwischen unseren Ländern einen Neubeginn brauchen. Ein einfaches Durchkreuzen der Liste der gegenseitigen Vorwürfe würde uns jedoch kaum erlauben, die Differenzen, die sich in den letzten Jahren angestaut haben, aus der Welt zu schaffen und dem deutsch-russischen Dialog zu einer neuen Qualität zu verhelfen. Nur wenige Jahre nach einem solchen Neustart würden wir uns höchstwahrscheinlich mit den gleichen Problemen konfrontiert sehen. Eine Renaissance unserer bilateralen Beziehungen wäre nur auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Ziele möglich. Ein Reset würde den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland nicht aus der Krise helfen, sie benötigen ein neues Fundament.


Die Ukraine-Krise hatte nicht nur das deutsch-russische Verhältnis auf der Regierungs- ebene schwer belastet, sondern auch die Arbeit des Petersburger Dialogs, in dem sich seit 2001 Vertreter der Zivilgesellschaft beider Länder regelmäßig treffen. Die Hauptveranstaltung 2014 fiel aus und wurde erst im Oktober 2015 nachgeholt, allerdings ohne die Spitzen der Regierungen beider Länder. Mitte Juli 2016 soll nun das 15. Jahrestreffen stattfinden – erstmals seit 2012 wieder in Russland am Gründungsort St. Petersburg. www.petersburger-dialog.de

Igor Gretskij
Dr. Igor Gretskij ist Historiker und Dozent am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität St. Petersburg sowie Mitglied des russisch-deutschen Jugend-Forums im „Petersburger Dialog“. www.spbu.ru

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