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Martin Luther

Freigeist am Anfang der Moderne

Wie Martin Luther durch die Suche nach dem „wahrhaft menschlichen Menschen“ zum Reformator der Kirche wurde

Joachim Köhler01.07.2016

Nur wenige Jahre, nachdem Columbus die Neue Welt entdeckt hat, wird Martin Luther zum Entdecker des neuen, das „wahrhaft menschlichen Menschen“. Seine welthistorische Vision geht ihm auf, nachdem er in seiner Jugend die Leiden erfahren hat, die Menschen einander antun: die Verbrennung Andersgläubiger, die Unterdrückung der persönlichen Freiheit, die heuchlerische Ausbeutung Ahnungsloser – aber auch die unmenschlichen Leiden, die der Mensch sich selbst antut, indem er die zerstörerische Kraft in seinem Inneren gegen sich selbst wendet Heute spricht man von Depression, Luther nannte es „Anfechtung“. Viele seiner Begriffe sind altmodisch – sein Denken ist es nicht.

Schritte zur Selbstbefreiung
Luther gehört nicht ins dunkle Mittelalter, sondern sozusagen in die dunkle Moderne: Die Welt ist mit Geldverdienen und globaler Expansion vollauf beschäftigt, was vom einzelnen Menschen strikte Anpassung verlangt. Wer nicht mitmacht, geht unter. Der Unternehmersohn macht nicht mehr mit. Ein Gewitter bietet ihm die Chance, aus dem Rattenrennen auszusteigen. Er trotzt dem Vater und bricht mit der „realen Welt“, um seine Seele in einer besseren zu heilen.

Es ist der erste von vier dramatischen Befreiungsschritten. Mit seinem Eintritt ins Kloster befreit Luther sich vom Vater und dem Leistungsprinzip, um sein Leben Gott und der Kirche zu weihen. Leider muss er bald feststellen, dass nach dem Leistungsprinzip vor dem Leistungsprinzip ist. Wie in der „realen Welt“ dreht sich alles um gesellschaftlichen Aufstieg und Geld, das auf findige Weise eingetrieben wird. Das erhoffte Heil ist hier nicht zu finden, im Gegenteil: Luthers Sündenbewusstsein wird geschärft, Angst vor Gottes Zorn und endlose Selbstanklagen stürzen ihn in eine Verzweiflung, die noch tiefer ist als jene, die ihn ins Kloster trieb.

Sein Beichtvater Johannes Staupitz, hoher Ordensfunktionär, öffnet ihm die Augen für Gottes Güte und einen Heiland, der nicht richtet, sondern rettet. Durch die Lehren des sympathischen Mannes taucht Luther in eine neue Welt ein, die im Gegensatz zur strengen Wissenschaft der Scholastik steht. Die Erleuchtung, die der Suchende in der Mystik findet, ist nichts anderes als das Menschsein selbst, das mit Gott im Reinen ist, wie dieser liebende und schenkende Gott mit seinem Geschöpf. Der Name für diese Verwandlung lautet Christus, der die Schwäche und Sterblichkeit des Menschen auf sich nimmt, während dieser im Gegenzug die Glückseligkeit des Gottessohns erhält. Ein ungleicher Tausch, und doch für beide, nach Luthers Ausdruck, ein „fröhlicher Wechsel“. Und das Beste ist, dass der Ort, an dem dieses Wunder auf Gegenseitigkeit geschieht, nicht irgendwo im Paradies oder Nirwana liegt, sondern im Hier und Jetzt.

Die Lehren seines Mentors Staupitz führen zum zweiten großen Befreiungsgeschehen in Luthers Leben. Bei seinem „Turmerlebnis“ geht ihm schlagartig auf, dass die Angst seines Lebens eine Schimäre war, die mit Gott nicht das Geringste zu tun hat. Denn Gott liebt die Menschen, und als Gegenleistung erwartet er nur, dass er, wie ein guter Vater von seinen Kindern, wiedergeliebt wird. Nicht durch frommen Lebenswandel und Gutestun wird der Mensch gerechtfertigt, sondern durch seinen Glauben daran, dass er durch Gottes Liebe bereits gerechtfertigt ist.

Luthers endgültige Entscheidung gegen die Papstkirche wird zum Fanal. Auch dank Staupitz, der ihn dazu „aufstachelt“, führt der Anschlag der Ablassthesen am 15. Oktober 1517 zu seinem dritten Befreiungsschritt: der Absage an die Papstkirche, ihre mafiosen Praktiken und ihre scholastische Ideologie. Luthers Hauptangriffspunkt, der Sündenablass gegen Geld, ist auch vielen Klerikern längst suspekt, was sie nicht hindert, finanziellen Nutzen daraus zu ziehen.

Luther nimmt nicht nur den flagranten Missbrauch ins Visier, sondern die ganze Organisation, die sich Gottes Kirche nennt und in Wahrheit ein Unterdrückungssystem darstellt. Für den Christen, so der Reformator, kommt es nicht darauf an, nach Bedarf Buße für die einzelnen Verfehlungen zu leisten, sondern sein ganzes Leben soll Buße sein. Das heißt nicht, mit Asche auf dem Haupt und Reue im Herzen herumzuschleichen, sondern dass man sein Bewusstsein umwandeln muss: weg vom moralischen Leistungszwang und der Selbstvergötterung des Ich, weg von der Verfallenheit an die Dinge und die Gier, mit der man hinter ihnen herjagt – hin zum Glauben, der einem zusichert, dass man bereits alles geschenkt bekommen hat. Gottes Liebe schenkt ganz oder gar nicht. Sie liebt ganz oder gar nicht. Und der Name dafür ist Christus.

Angriff auf die Kirchenhierarchie
Dass Luther damit am Papstthron und am Geschäftsmodell unzähliger Kleriker rüttelt, macht ihn praktisch über Nacht in ganz Europa bekannt und in Rom verhasst. Die eigentliche Revolution, mit der Luther die Welt verändern wird, betrifft aber nicht den Ablass, von dem der Klerus selbst bald Abstand nimmt, sondern die Kirche als Institution. Ist jeder Mensch gleichermaßen von Gott geliebt, so sind Priesterhierarchie, Messen und Wallfahrten überflüssig. Denn Gott ist nicht, wie Luther es scherzhaft ausdrückt, da oben bei den Störchen oder unten bei den Fischen zu finden, sondern in dir selbst. Die Frage ist also nicht mehr: Was muss ich anstellen, um einen zornigen Gott gnädig zu stimmen, sondern: Wie kann ich mich seiner Liebe würdig erweisen? Luthers Antwort: Indem man zum „wahrhaft menschlichen Menschen“ wird.

Die Antwort der Papstkirche fällt erwartungsgemäß aus. Man verdammt, verleumdet, verflucht, und löst damit nur das Gegenteil des Erwünschten aus. Mit jeder Breitseite, die aus Rom abgefeuert wird, gewinnt der Wittenberger Mönch an Bedeutung. Das trotzige Geschick, mit dem er die Attacken beantwortet, schenken ihm den Ruhm und die Verehrung, die der Papst längst verspielt hat.

Luthers Abrechnung mit einer Kirche, die Gott nicht dient, sondern benutzt, die die Schafe nicht weidet, sondern schlachtet, findet ihren Höhepunkt in seinem Hauptwerk „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Der Mensch, so liest man darin, kann seine wahre Freiheit nur gewinnen, wenn er zum Christenmenschen wird. Das heißt, dass den Glaubenden nichts mehr von Gottes Liebe trennt, wodurch er, obwohl in die Zeit hineingeboren, schon über sie hinausgehoben ist. Es heißt aber auch, dass der Mensch seine tatsächliche Souveränität zurückstellen muss, um zum „dienstbaren Knecht“ aller zu werden, wozu, nebenbei bemerkt, auch Gott selbst sich nicht zu gut war.

Da ein Angriff auf die Kirche zugleich ein Angriff auf die hierarchische, angeblich gottgegebene weltliche Ordnung ist, lässt die Antwort der Staatsmacht nicht auf sich warten. Später wird Kaiser Karl V. sagen, er hätte besser daran getan, Luther gleich zu verbrennen. Tatsächlich ist dieser, erst ahnungslos und widerwillig, dann immer selbstbewusster in eine Position hineingewachsen, die der Kaiser als Bedrohung empfinden muss. Die Konfrontation der beiden, die in Worms stattfindet, führt für Luther zu seinem vierten Befreiungserlebnis, dem wichtigsten überhaupt. Mit seinem welthistorischen Statement, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, trotzt er dem gesamten Machtapparat, der „von Gottes Gnaden“ gnadenlos über die Menschheit herrscht.

Neue Formen der Gemeinschaft
Der Rest, möchte man sagen, ist bekannt. Auf die vier Befreiungsschläge, mit denen Luther zu Luther wird, folgt deren Umsetzung ins „wirkliche Leben“. Sie beginnt auf der Wartburg mit der Übersetzung des Neuen Testaments, die es allen Gläubigen ermöglicht, selbst herauszufinden, woran sie eigentlich glauben. Da die alte Kirche zudem mit ihrer Heilsanmaßung als „antichristlich“ demaskiert ist, verlangen die Gläubigen nach neuen Formen der Gemeinschaft. Luther muss organisatorisch improvisieren, und das gelingt so gut, dass bald darauf ein Großteil Deutschlands sich zum evangelischen Gottesdienst versammelt. Fortan kommt man ganz ohne Priester in funkelnden Ornaten, ganz ohne deren magische Handlungen und Wandlungen aus, denn als Gemeinde ist man bereits „ein Herz und eine Seele“.

Über Luthers Schwächen lässt sich nicht hinwegsehen. Begnadeter Polemiker, der er von Anfang an war, wird er zunehmend aggressiv gegen alles, was sich der neuen Gemeinde entgegenstellt. Die alten Anfechtungen kommen wieder, die Depressionen und Selbstvorwürfe, dazu die Angst, dass die zerstörerische Macht im Menschen, die er „Teufel“ nennt, auch sein Werk und das hieß eigentlich Gottes Werk zerstören könnte. Bald sammelt der Kaiser seine Truppen gegen ihn, und die rebellierenden Bauern wollen sich die Freiheit, die Gott schenkte, mit der Waffe in der Hand erkämpfen. Zu allem Überfluss gehen die Juden, die er so gerne eingemeinden würde, nicht auf seine Missionsversuche ein. Da er seine neue Freiheit von immer neuen Feinden bedroht glaubt, reagiert Luther mit wachsender Erbitterung.

Doch der grimmige und bissige Luther bietet nur die halbe Wahrheit. Zugleich ist er der heitere Luther, der in der christlichen Freiheit auch die Freiheit zum Lachen, Singen und Musizieren findet, und der sich seine Christen gar nicht anders vorstellen kann, als dass sie vor Freude über das Gottesgeschenk Luftsprünge vollführen und Psalmen singen. Der Bierernst der Theologen ist ihm zuwider, für ihn ist Gott kein zorniger, sondern ein „lachender Gott“.

Wer dem Reformator heute seine oft wenig delikate Ausdrucksweise vorwirft, übersieht, wie sehr dieser hemdsärmelige, zu jeder Art von Scherz aufgelegte Luther dem gesellschafts- und kirchenkritischen Till Eulenspiegel gleicht, sowohl in der Derbheit wie in der feinsinnigen Ironie. „Wer da will weise sein“, so zitiert er gern den Apostel Paulus, „der muss ein Narr werden.“ Und das gilt für jeden Menschen, der sich nicht der Unfreiheit der „political correctness“ und des Leistungszwangs unterwirft, sondern so frei ist, immer auch ein wenig närrisch zu sein. Erst damit erweist er sich als Luthers „wahrhaft menschlicher Mensch“.


 

Luther. Biographie eines Befreiten

Mit Sympathie und psychologischem Gespür lässt Joachim Köhler den großen Glaubenskämpfer der deutschen Geschichte lebendig werden. „Christsein heißt, von Tag zu Tag mehr hineingerissen werden in Christus.“ Dieses Bekenntnis des Reformators steht im Mittelpunkt von Köhlers Biographie, die Luthers dramatische Entwicklung in drei Stadien – Bedrängnis, Befreiung und Bewahrung – darstellt. Sie zeichnet sowohl Luthers existenzielle Glaubenserfahrungen nach als auch die Anfechtungen psychologischer und politischer Art, mit denen er lebenslang zu ringen hatte.
Joachim Köhler: Luther. Biographie eines Befreiten, Evangelische Verlagsanstalt, 320 Seiten, 22,90 Euro
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