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Der Rothirsch im Kreuzfeuer der öffentlichen Interessen

Geweiht, gehegt – geächtet

Obwohl die Jagd die älteste Art der Nahrungsbeschaffung des Menschen ist, steht sie in jüngster Zeit unter massivem Druck. Die Beiträge des Titelthemas im Oktober setzen sich mit der Kritik der Tierschützer auseinander. Sie erläutern, warum Jagd notwendig ist, und hinterfragen zugleich, was sich an der traditionellen Art des Jagens ändern muss, damit das Waidwerk eine Zukunft hat.

15.10.2014

Der Rothirsch ist tief in der ländlichen Kultur unserer Heimat verankert. Kaum ein Dorf ohne eine „Gaststätte zum Hirschen“, kaum ein Wohnzimmer ohne den „röhrenden Hirschen“ als Ölbild. Doch kaum jemand weiß, dass die Lebensräume des Rotwilds vom Menschen begrenzt werden, und dass es wenig artgerecht in unserer Kulturlandschaft leben muss. Auch Rotwild in freier Wildbahn zu erleben ist für Naturfreunde nur an ganz wenigen Stellen in Deutschland möglich. Die Hirsche, eigentlich tagaktive Bewohner halboffener Steppenlandschaften, sind zu nachtaktiven Waldtieren geworden. Dafür trägt auch die Jagd Verantwortung, für die der Rothirsch die Krone des Waidwerks und der Höhepunkt jagdlichen Engagements ist. Gleichzeitig degradieren viele Waldbesitzer und Förster den Rothirsch zum Waldschädling und ungeliebten, braunen Rindenfresser. So steht er im Kreuzfeuer menschlicher Interessen.


Zerstörter Lebensraum

In Deutschland leben etwa 200.000 Stück Rotwild, zwischen 60.000 und 70.000 Tiere werden jedes Jahr erlegt. Doch obwohl Rotwild in fast allen Bundesländern beheimatet ist, ist seine flächenmäßige Verteilung eher bescheiden: Statistisch gesehen kommt Rotwild nur auf jedem vierten Hektar vor, dreiviertel der Fläche Deutschlands sind rotwildleer. Das übliche Argument an dieser Stelle lautet, dass die Lebensräume durch Übervölkerung und Zersiedlung der Landschaft ungeeignet sind. Allerdings hat Kastor, der stärkste jemals in Deutschland erlegte Hirsch, keine 30 Kilometer von der Hamburger Reeperbahn entfernt jedes Jahr selbst seinen Brunftplatz bezogen – im berühmten Duvenstedter Brook. Deutschlands Landschaften sind als Lebensräume also sicherlich viel geeigneter als es langläufig angenommen wird. Es ist vielmehr der fehlende politische Wille, der dafür sorgt, dass sich Rotwild in Deutschland nicht weiter ausbreiten darf. Dabei ziehen Forstwirtschaft und Naturschutz häufig an einem Strang. Die einen, um ihr Betriebsziel zu erreichen und die anderen, um die Fraßeinwirkungen der großen Pflanzenfresser in den Wäldern als relativ naturnahen Ökosystemen möglichst gering zu halten.


Die Konsequenz sind die zum Teil winzigen „Rotwild-Reservate“, bei denen es sich oft ausschließlich um Wald und damit um suboptimalen Lebensraum handelt. In neun Bundesländern darf die Wildart, dessen Biologie auf weiträumige Wanderungen ausgerichtet ist, nur in behördlich begrenzten Rotwildbezirken existieren. Außerhalb dieser Gebiete besteht ein zum Teil strenges Abschussgebot. So kann in Baden-Württemberg Rotwild nur auf 4 Prozent der Landesfläche legal existieren, im waldreichen Bayern nur auf 14 Prozent. Selbst im waldarmen und mit großen Grünlandniederungen ausgestatteten Niedersachsen kommt Rotwild auf 20 Prozent der Fläche vor. Hier darf sich Rotwild ebenso wie auch z.B. in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg seinen Lebensraum selbst suchen.


Dabei wären in vielen Regionen Deutschlands noch geeignete Lebensräume für Rotwild vorhanden. Die Beispiele des Duvenstedter Brooks oder der Üfter Mark am Rande des Ruhrgebietes zeigen, dass Rotwild selbst in der Nähe von Ballungsräumen zurechtkommt. Demgegenüber stehen viele große waldreiche Naturräume, in denen kein Rotwild lebt – weil es dort nicht leben darf. Ein besonders anschauliches Beispiel ist der Schwarzwald, Deutschlands größtes zusammenhängendes Mittelgebirge. Hier existieren zwei offizielle Rotwildbezirke im nördlichen und im südlichen Schwarzwald. Beide zusammen haben jedoch lediglich einen Flächenanteil von etwa 15 Prozent am gesamten Schwarzwald. Zwischen ihnen besteht ein 50 Kilometer langer Waldkorridor, in dem Rotwild per Gesetz eliminiert werden muss. Hier wird deutlich, dass die Rotwildbezirke nichts weiter als ein forstpolitisches Instrument sind, mit denen sich Holzproduzenten das Rotwild vom Hals halten wollen. Wo aber bleiben die Kormoranbezirke zur Vermeidung von Fischerei-Schäden? Welch einen Aufschrei würde es geben, wenn in Deutschland Wolfsreservate ausgewiesen werden würden, außerhalb derer jeder wandernde Wolf totgeschossen werden müsste! Das immer wieder und von Akteuren aus der Politik gern bemühte Prinzip der Nachhaltigkeit und damit des Ausgleichs ökonomischer, ökologischer und sozio-kultureller Interessen wird durch die Rotwildbezirke mit Füßen getreten. Daher ist die aus rein forstwirtschaftlichen Gründen motivierte Reduktion von Rotwildlebensräumen umgehend aufzuheben.


Leben in ständiger Panik

Rotwild reagiert extrem empfindlich auf Störungen durch den Menschen, soweit diese nicht wie z.B. land- und forstwirtschaftliche Arbeiten für die Tiere kalkulierbar sind. Die Folge von Störungen durch Jäger, Wanderer, Geocacher, Mountainbiker und vor allem Wintersportler lassen die Tiere in ständiger Panik leben und immer scheuer werden.


Auch jagdliches Handeln trägt zu der zunehmenden Scheu der Tiere bei: Die im europäischen Vergleich extrem langen Jagdzeiten in Deutschland, die mittlerweile weit verbreitete Nachtjagd, die fehlenden Wildruhezonen und die kleinen Reviere und ausgeprägten Revieregoismen haben in vielen Regionen das Rotwild zu einem heimlichen Waldgeist verkommen lassen. Ein Waldgeist, der nur noch in tiefster Dunkelheit die Einstände verlässt und tagsüber in den Dickungen und Stangenhölzern schält. Neben der immer intensiveren Nutzung der Lebensräume durch Erholungssuchende ist hoher Jagddruck eine wesentliche Ursache für die vielerorts ungelöste Wald-Wild-Problematik.


Insbesondere die Jagd in der kalten Jahreszeit, im Januar und Februar, provoziert die Schäden am Wald. In dieser Jahreszeit reduziert sich der Stoffwechsel der Tiere, sie leben „auf Sparflamme“. Werden sie jetzt u.a. durch Jagd gestört, können sie den durch die Störung bedingten Energiebedarf nur an der Waldvegetation stillen. Ein Ende der Bejagung am 31. Dezember, der vollständige Verzicht auf Nachtjagd und die Ausweisung von großzügigen Wildruhezonen in den Haupteinstandsgebieten würden helfen, Wildschäden zu senken und dem Rotwild ein artgerechteres Leben zu ermöglichen.


Unbedingt gehören dazu auch angepasste Wildbestände: Das mangelnde Verantwortungsbewusstsein von manchen Revierpächtern und Eigenjagdbesitzern, die sich auf Kosten des Waldes völlig überhöhte Wildbestände heranmästen, spielt all jenen in die Hände, die an Rotwildbezirken festhalten wollen. Dem Rothirsch wird damit kein Gefallen getan. Er wird sich in Deutschland erst großräumig verbreiten, wenn die Jagd ihre hausgemachten Probleme löst und glaubwürdig für einen artgerechteren Umgang mit Rotwild eintritt. Erst das schafft gesellschaftliche Akzeptanz und ist Voraussetzung für politischen Druck zur Auflösung der Rotwildbezirke.


Die Deutsche Wildtier Stiftung arbeitet seit vielen Jahren daran, Wege aufzuzeigen, wie das Miteinander von Rothirsch und Mensch gelingen kann. Das stiftungseigene rund 2.000 Hektar große Gut Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern ist dabei Modell, Anschauungsobjekt und Labor zur Erarbeitung von Lösungen gleichermaßen.


Das Gut bewirtschaftet rund 850 Hektar Wald und 1.200 Hektar landwirtschaftliche Fläche in arrondierter Lage. Die Agrarflächen teilen sich in 400 Hektar Grünland und 800 Hektar Ackerland auf. Da die Landwirtschaft nach den Vorgaben des ökologischen Landbaus erfolgt, werden rund 25 Prozent des Ackerlandes jedes Jahr mit Kleegras zur Stickstoffbindung bestellt. Das Grünland und das Ackerfutter werden über eine Herde von rund 200 Mutterkühen mit Nachzucht genutzt. Die im Rahmen einer extensiven Weidemast herangewachsenen Rinder werden in der Gourmet–Manufaktur Gut Klepelshagen vor Ort geschlachtet und verarbeitet.


Das Grünland und die Ackerfutterflächen in Waldnähe bieten dem Rotwild optimale Äsungsbedingungen. Alles, was das Wild im Offenland an Nahrung zu sich nimmt, entlastet die Waldvegetation. Und die mit dem Wildfraß verbundenen „Schäden“ sind auf Grünland, bei Klee und Luzerne zu vernachlässigen. Neben dem Angebot von attraktiver Äsung im Offenland spielt auf Gut Klepelshagen die Lenkung des Rotwildes durch den Faktor Störung eine bedeutende Rolle. Auf rund 300 Hektar Offenland im Kerngebiet von Klepelshagen herrscht ganzjährige Jagdruhe. Im Wald wird dagegen regelmäßig gejagt und damit auch bewusst gestört. Dem sehr lernfähigen Rotwild wird so vermittelt, dass der Aufenthalt im Offenland sicherer und damit stressfreier ist als der Aufenthalt im Wald.


Natürliche Lebensräume

Fast zu jeder Jahreszeit kann in Klepelshagen Rotwild tagsüber in der Jagdruhezone beobachtet werden. Oft sogar in großen Rudeln von bis zu 100 Tieren. Während diese Großrudel früher einen immensen Verbissdruck auf die Waldverjüngung ausgeübt haben, gehen die Tiere heute ihrem natürlichen Lebensrhythmus mit Äsen, Ruhen und Wiederkäuen im Offenland nach, und im Wald kann sich die Hauptbaumart Buche ohne Zaun natürlich verjüngen.


Der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit Rotwild in Klepelshagen liegt in der Integration von Forstwirtschaft, Landwirtschaft und Jagd. Alle drei menschlichen Nutzungsinteressen werden aufeinander abgestimmt und stützen sich gegenseitig, um den politischen Willen, dem Rotwild einen optimalen Lebensraum zu geben, so kostengünstig wie möglich umzusetzen. Vorteilhaft beim Modell Klepelshagen ist natürlich, dass das Eigentum an zusammenhängenden Agrar- und Waldflächen bei einem Eigentümer liegt. Ist das nicht der Fall – und das wird mehrheitlich in Deutschland der Fall sein – sind Flächeneigentümer und Bewirtschafter aufgerufen, miteinander die Herausforderung, dem Wild ein artgerechtes Leben zu ermöglichen, zu meistern. Hierbei kommt den Hegegemeinschaften eine entscheidende Rolle zu.


Heute sind Hegegemeinschaften meist „rechtlose“ Zusammenschlüsse der Jäger in einem Gebiet, die sich primär mit der Planung und Kontrolle des Abschusses auseinandersetzen. Die Hegegemeinschaften der Zukunft sollten sich für die Grundbesitzer und Bewirtschafter öffnen, mit stärkeren Kompetenzen ausgestattet werden und sich von „Abschussgemeinschaften“ zu „Wildschutz- und –nutzungsgemeinschaften“ weiterentwickeln.


Ein Leben mit Rothirschen ist möglich. Schwierig ist – wie der US-amerikanische Forstmann, Jäger und Wildbiologe Aldo Leopold (1887–1948) einst formulierte – nicht der Umgang mit Wildtieren, schwierig ist der Umgang mit den beteiligten Menschen.


Zu den Autoren:

Hilmar Freiherr von Münchhausen ist seit 2002 Geschäftsführer der Deutschen Wildtier Stiftung.

Dr. Andreas Kinser ist Referent für Forst- und Jagdpolitik bei der Deutschen Wildtier Stiftung.

Info: www.deutschewildtierstiftung.de