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Ein Leitbild für eine aktivierende Kulturpolitik

Kulturstaat Deutschland

Das Humboldt-Forum im neuen Berliner Schloss ist gegenwärtig das be­deutendste Bauprojekt Deutschlands. Welche Aussage trifft ein Land, wenn es ein derart markantes Vorhaben in seiner politischen Mitte den Kulturen der Welt widmet? Und was folgt daraus für den kulturellen Föderalismus? Diesen und weiteren Fragen zur Rolle der Kultur widmen sich die Beiträge dieses Titelthemas.

Oliver Scheytt15.05.2015

Kulturpolitik zielt in Deutschland weniger auf die „Kultur des Staates“ – als Staats- oder Leitkultur – als vielmehr auf die „Kultur im Staat“ ab. Staatskultur ist die Antwort auf die Frage: Wie gibt sich der Staat? Symbolik nach innen und außen, wie Nationalhymne, Flagge oder der Tag der Deutschen Einheit, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die  Verpackung des Reichstagsgebäudes durch Christo im Jahre 1995 ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich ein Staatssymbol durch eine Kunstaktion verwandelt hat und in eine dauerhaft neuartige Form der kollektiven Wahrnehmung gebracht wurde. Die gläserne Kuppel von Norman Foster hat sodann den Reichstag zum architektonischen Sinnbild der neuen Berliner Republik werden lassen, ja als Symbol für einen demokratischen und pluralen, offenen und toleranten (Kultur-)Staat.

Mit dem Humboldt-Forum entsteht in Berlin ein weiterer Ort, dem in einem hohen Maße Symbolfunktionen für Deutschland zugeschrieben werden. Doch die Kultur in Deutschland ist trotz aller seit der Wiedervereinigung gewachsenen Aufmerksamkeit für die Kultur in der Bundeshauptstadt nach wie vor entscheidend von den kulturellen Aktivitäten in den Bundesländern, Regionen und Kommunen geprägt. Daher soll es im Folgenden nicht um die „Staatskultur“ in Berlin gehen, sondern angesichts der von kultureller Vielfalt geprägten kulturellen Identität unseres Landes um den „Kulturstaat Deutschland“.

Staatsrechtliche Grundlagen

Wird von „Kulturstaat“ gesprochen, schwingt die Frage mit, welche Rolle der Staat im Verhältnis zur Kultur spielt, wie also Kultur durch den Staat (mit-)gestaltet wird und was mit Begriffen wie Schutz, Pflege, Förderung, Indienstnahme, Neutralität, Identität, Integration, Kulturhoheit oder kulturelle Autonomie ausgedrückt wird. Mitunter werden angesichts der Vielfalt der Kultur(en) und der daraus resultierenden Unschärfe der unterschiedlichen Kulturbegriffe unter Verfassungsjuristen Zweifel geäußert, welche „Kultur“ im Verhältnis von Kultur und Staat mit dem Wort „Kulturstaat“ angesprochen ist.

Dieser Reflex ist indes schon deshalb fragwürdig, weil Verfassungstexte Schutz und Pflege der Kultur als staatliche Aufgabe festschreiben, ohne dass dieser Begriff ausdrücklich definiert wird. In Länderverfassungen, aber auch in den Kommunalverfassungen wird die Kulturförderung ausdrücklich angesprochen. Bayern hat in Artikel 3 Abs. 1 seiner Verfassung sogar eine eigene Kulturstaatsklausel: „Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl.“

Zu wenig beachtet wird zudem Artikel 35 des Einigungsvertrages, also eine seit 1990 existierende Bestimmung mit Verfassungsrang auf Bundesebene, dessen Abs. 1 lautet: „Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.“ Mit diesem Text des Einigungsvertrages wird das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat konstituiert. Die Bestimmungen des Einigungsvertrages haben als Verfassungsrecht den höchstmöglichen Rang in der Rechtsquellenhierarchie.

Nicht von ungefähr wurde auf die kulturellen Wurzeln und Traditionen in dem Moment zurückgegriffen, als sich Deutschland mit der Wiedervereinigung als größerer und einheitlicher Staat neu konstituiert.

Die Bundesrepublik Deutschland ist somit politisch und verfassungsrechtlich nicht nur als Rechtsstaat und Sozialstaat, sondern auch als Kulturstaat zu verstehen, dessen strukturelle Ausdifferenzierung kulturelle Offenheit und Freiheit gewährt. Es gibt jedoch keine zentrale „Definitionsmacht“, vielmehr werden Kultur und Kulturpolitik in der föderativen Kompetenzordnung des Kulturstaates Deutschland von den unterschiedlichsten Institutionen, Ebenen und Akteuren verantwortet und mitgestaltet. Die Vielfalt der Kulturzentren in Deutschland mit den kulturellen Stärken der Metropolen und Regionen von München bis Hamburg, von Berlin bis zur Metropole Ruhr, vom Rheinland über Frankfurt a.M. bis nach Stuttgart und Nürnberg, von Bayreuth bis Leipzig und Dresden sowie die Vielfalt der regionalen kulturellen Identitäten und Initiativen haben eine weit vor Begründung der Bundesrepublik Deutschland zurückreichende Tradition.

Kulturelle Vielfalt

Das auch durch die UNESCO-Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt völkerrechtlich geschützte Pluralitätsprinzip genießt im Kulturstaat Deutschland so bereits durch die vom Grundgesetz vorgesehene Trägervielfalt eine verfassungsrechtliche Stütze. Der Begriff „kultureller Trägerpluralismus“ bringt dies als in der Verfassungsrechtslehre einschlägiger Begriff treffend zum Ausdruck. Das Leitbild „Kulturstaat Deutschland“ umfasst daher das Prinzip des „kooperativen Kulturföderalismus“.

Kulturpolitik findet auf den verschiedenen Ebenen des Kulturstaates Deutschland allerdings ihre je spezifische Ausprägung:

  • Kommunale Kulturpolitik gestaltet die Basis des Kulturstaates Deutschland. Vor Ort werden mannigfaltigste kulturelle Träger aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aktiviert. Die Kommunen haben aufgrund der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie einen eigenen Kulturgestaltungsauftrag.
  • Die Länder sollten ihre Kulturhoheit nicht nur im Verhältnis zum Bund behaupten, sondern vor allem mit Blick auf Kommunen, Regionen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aktiv gestalten: Kulturregionen sind als Scharnier zwischen Kommunen und Ländern zu stärken. Die Länder sollten ihre Zurückhaltung im Erlass von Kulturfachgesetzen insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung (Musikschulen, Bibliotheken) aufgeben, um die kulturelle Infrastruktur in diesen Bereichen aus dem Bereich der „freiwilligen Leistungen“ herauszuführen.
  • Der Bund hat seine Gesetzgebung auf ihre „Kulturverträglichkeit“ hin permanent zu überprüfen. Bundeskulturpolitik sollte sich nicht allein in Bundeshauptstadtförderung erschöpfen, sondern sich auch den national und international bedeutsamen kulturellen Herausforderungen auf der Basis der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes stellen.
  • Die wachsende Bedeutung der Europäischen Union für kulturelle Belange erfordert zudem eine intensive Reflexion europäischer und internationaler Kulturpolitik in Deutschland.
    Doch die Rolle des Staates in der Kultur sollte nicht nur mit Blick auf die „Kulturträger“ auf den verschiedenen Ebenen des Staates, in Markt und Zivilgesellschaft, sondern vor allem auch in Bezug auf das Individuum als „Kulturbürger“ reflektiert werden. Im Fokus der Kulturpolitik steht das Individuum als souveräner, engagierter und (kultur-)kompetenter Bürger:
  • Der aktivierende Kulturstaat setzt auf die Partizipation des Bürgers als Souverän in politischen Netzwerken. Der Bürger kann mit seinen Rechten und Funktionen auch innerhalb von Institutionen und Zusammenschlüssen Kulturpolitik aktiv mitgestalten.
  • Der aktivierende Kulturstaat setzt auf Bürgerengagement – auf den Bürger als Ko-Produzenten, der sich für das Gemeinwohl, ja das öffentliche Gut Kultur einsetzt. Der Bürger bringt sich mit seinen finanziellen Möglichkeiten und persönlichen Fähigkeiten in kooperative Arrangements ein. Auch Unternehmen und Wirtschaft übernehmen (Mit-)Verantwortung im kulturellen Leben und für die kulturelle Infrastruktur in Deutschland.
  • Der aktivierende Kulturstaat zielt auf die Förderung der Kulturkompetenz eines jeden Bürgers ab. Auf Basis der Reflexion des gesellschaftlichen Wandels und im Blick auf aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen setzt er auf die Entwicklung der individuellen kulturellen Fähigkeiten jedes Einzelnen. Er sorgt für Teilhabe, Zugang und Vermittlung.

Steuerung in und durch Netzwerke

Angesichts der gesellschaftlichen Komplexität und der Fülle kultureller Akteure realisiert sich Kulturpolitik in der Gestaltung und Steuerung von Netzwerken. Dafür bedarf es eines neuen Verständnisses kulturpolitischer Steuerung: Ein wesentliches Element der Aktivierung besteht in der Bereitstellung von Arenen für den kulturpolitischen Diskurs, in dem sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf einen tragfähigen Konsens verständigen können. Die aktivierende Kulturpolitik setzt daher auf gesellschaftliche Selbststeuerung und Koordination, agiert eher im Diskurs als im Diktat, eher kontextuell als regulativ und eher reflexiv als repräsentativ.

Die auch in der alltäglichen kulturpolitischen Praxis heute üblichen Formen der Interaktion und Kooperation, der Moderation und Verhandlung, der Konsensstiftung und Vereinbarung sind Regelungsformen einer „Cultural Governance“. Diese umfasst die Gesamtheit der vielfältigen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Kulturinstitutionen in einem kontinuierlichen Prozess ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln, ihre unterschiedlichen Interessen ausgleichen und kooperatives Handeln initiieren. Wesentliche Elemente der aktivierenden Kulturpolitik sind daher Kommunikation, Koordination, Kooperation und Konsens.

Das Leitbild „Kulturstaat“ könnte und sollte durch eine kulturelle Staatszielbestimmung im Grundgesetz („Der Staat schützt und fördert die Kultur“) auch verfassungsrechtlich ausdrücklich verankert werden.

Oliver Scheytt
Prof. Dr. Oliver Scheytt (RC Essen) war von 2006 bis 2011 Geschäftsführer der Ruhr.2010 GmbH und gründete 2011 die Kulturexperten Dr. Scheytt GmbH. Zu seinen Büchern gehört u.a. „Kulturstaat Deutschland. Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik“ (transcript, 2008). Zuletzt erschien „Die Kulturimmobilie: Planen - Bauen - Betreiben. Beispiele und Erfolgskonzepte“ (transcript, 2016). kulturexperten.de