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Über die Verdrängung der Vergangenheit nach 1945 und ihre Omnipräsenz in der Gegenwart

» … maßgeblich von dieser Situation geprägt «

Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht über die Verdrängung der Vergangenheit nach 1945 und ihre Omnipräsenz in der Gegenwart

16.02.2015

Der 8. Mai 1945 gehört zu den markanten Daten unserer Geschichte. Lange wurde darüber gestritten, ob er ein Tag der Niederlage oder der Befreiung, des Triumphs oder der Schmach gewesen ist. Das Urteil darüber hing letztlich immer von den Erlebnissen der Betroffenen ab. Siebzig Jahre später, wo die Zeitzeugen kaum noch am Leben sind, ist es an der Zeit, den 8. Mai als das zu betrachten, was er jenseits der Schicksale von Millionen Menschen war – ein Wendepunkt der europäischen Geschichte, der die Entwicklung unseres Kontinents bis heute entscheidend prägt.

Herr Gumbrecht, Sie stammen aus einer deutschen Akademikerfamilie, sind selbst 1948 im Nachkriegsdeutschland geboren und haben hier die ersten Jahrzehnte Ihres beruflichen Wirkens verbracht. Auf der anderen Seite sind Sie seit einem Vierteljahrhundert in Stanford ansässig und seit gut 15 Jahren US-amerikanischer Staatsbürger. Was bedeutet Ihnen der 8. Mai 1945?
Durch diese, wenn Sie so wollen, doppelte Identität hat auch das Datum für mich zweierlei Bedeutungen. Zum einen das Ende des Nationalsozialismus, und zwar durchaus im Sinne einer Befreiung, auch wenn dies ein Begriff ist, der jahrzehntelang ausschließlich von der DDR in Anspruch genommen wurde. Zum anderen war dieses Ende des Nationalsozialismus in Deutschland keine Selbstbefreiung, sondern erfolgte durch die Alliierten. Dies sehe ich als großes historisches Verdienst meines jetzigen Landes. Dazu gehört auch die sogenannte „Reeducation“, über die man heute wohl nicht mehr gern – und gewiss nicht mehr viel – redet. Insgesamt aber steht der 8. Mai 1945 für den Beginn einer Entwicklung Deutschlands hin zu einer stabilen Nation. Wobei mir natürlich klar ist, dass dies lange Zeit nur für den Westen galt und erst seit wenigen Jahren für das wiedervereinigte Deutschland.

Sie haben sich 2012 in Ihrem Buch „Nach 1945“ mit der Nachkriegszeit auseinandergesetzt und diese als eine Phase der „Latenz“ und als Ursprung unserer Gegenwart bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Ich bin in jener Stadt geboren und aufgewachsen, die im Europa des Zweiten Weltkriegs nach Dresden am meisten zerstört worden war, in Würzburg. Dennoch ist es Teil meiner Kindheits- und Teenager-Erinnerung, dass über die Ursachen, die zu dieser Zerstörung geführt hatten, kaum gesprochen wurde und dass das Wenige, von dem die Rede war, nicht wirklich hinterfragt werden konnte. Es war nicht so, dass wir den Eindruck hatten, die Erwachsenen lügen uns an, aber es gab bestimmte Dinge, die nicht zu thematisieren waren, auch in der Schule nicht. Im Geschichtsunterricht war das „Dritte Reich“ von den Lehrplänen zwar vorgeschrieben, aber unsere Lehrer machten oft Andeutungen im Sinne der Geste: „Wenn ich euch sagen könnte, was ich wirklich weiß.“ So hatten wir immer den Eindruck, dass irgendetwas ungesagt blieb. Das verbinde ich mit „Latenz.“

Und wie hat sich diese Situation später ausgewirkt?
Ich glaube, dass meine Generation maßgeblich von dieser Situation geprägt wurde. Wir haben sehr lange, im Grunde bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit einer geradezu freudianischen Gewissheit geglaubt, dass es da irgendetwas Verdrängtes oder Tabuisiertes gebe; etwas, das man der Elterngeneration sozusagen abpressen müsse. Deshalb konfrontierten 1968 die jungen Studenten – nicht nur in Deutschland – die ältere Generation mit der Forderung: „Ihr müsst jetzt sagen, was wirklich geschehen ist.“ Und wenn wir „dies“ wüssten, so setzten wir voraus, dann wäre diese Latenzsituation in eine Situation der Offensichtlichkeit transformiert und die Geschichte könnte sich weiterentwickeln.

Warum hat das nicht funktioniert?
Meine These ist, dass sich hinter dem Rücken unserer Generation etwas Grundsätzliches verändert hatte, nämlich das, was man die „soziale Konstruktion der Zeit“ nennen kann. Ich verwende dafür das Wort „Chronotop“. Erst seit dem späten 18. Jahrhundert hatten die westlichen Kulturen mit einem historischen Bewusstsein gelebt. Dazu gehörte die Annahme, dass die Vergangenheit verarbeitet werden müsse, damit man sie hinter sich lassen und die Zukunft als einen offenen Horizont von Möglichkeiten ansehen könne, der zu gestalten war. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch hat sich dieser besondere Chronotop – zunächst fast unbemerkt – verändert. Wir leben heute vor allem umgeben von einer Zeitlichkeit, in der wir die Vergangenheit nicht mehr hinter uns lassen können, weil sie sozusagen die Gegenwart überschwemmt.

Inwiefern?
Wir leben in einer Zeit – unser Gespräch ist ein Beispiel dafür – in der beständig Gedenktage zu begehen sind. Das war wohl noch nie so obsessiv wie heute. In unserer neuen Gegenwart stehen gleichsam viele Vergangenheiten nebeneinander. Und deshalb scheint sich unsere Geschichte eben auch nicht mehr zu bewegen.
Ein anderer Grund dafür, dass wir uns von Vergangenheit überschwemmt fühlen, sind die elek-tronischen Erinnerungsmöglichkeiten. In Silicon Valley redet man oft davon, dass wohl keine E-Mail je definitiv zu löschen ist. Und sobald man einen Internetzugang hat, ist von jedem Ort dieser Welt aus das gesamte Wissen der Menschheit verfügbar. Auf die Vergangenheit bezogen bedeutet dies, dass sich jeder – auch ohne persönliche Erinnerungen und Verbindungen zu Auschwitz, dem Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung – sich ein lebendiges Bild von diesen Ereignissen machen kann. Die Vergangenheit ist so präsent, dass eine Befreiung von ihr nicht mehr denkbar ist.

Brauchen wir angesichts dieser „Unverarbeitbarkeit“ der Vergangenheit einen radikalen Schnitt, damit für die Gegenwart wieder mehr Raum ist?
Über einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ist – zumal in Deutschland – immer wieder diskutiert worden. Ich finde den Gedanken grundsätzlich unangemessen. Erstens würden durch einen solchen „Schlussstrich“ die dokumentierten Erinnerungen der Zeitzeugen ja nicht wirklich verschwinden. Und vor allem meine ich zweitens, insbesondere mit Blick auf das zweite Viertel des 20. Jahrhunderts, dass die Verbrechen in Deutschland oder auch in der Sowjetunion historisch bis heute singuläre Fälle von Grausamkeiten waren, eine Systematisierung und Industrialisierung des Tötens, die zu vergessen wir nicht riskieren dürfen.
Für die neuen Generationen hoffe ich, dass das Verhältnis zum „Dritten Reich“ eines Tages nicht mehr so traumatisch ist, wie es das für mich und viele Deutsche meiner Generation war. Ich habe zwei Enkel in Deutschland, und mein Sohn ist Oberstleutnant bei der deutschen Luftwaffe. Ich hoffe (und ich weiß), dass sie ein von meinem verschiedenes Verhältnis zu dieser Vergangenheit haben. Aber ich möchte doch nicht, dass meine Enkelkinder, wenn sie etwa an Dachau vorbei fahren (sie leben in der Nähe), nicht wissen, wofür dieser Name steht.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die deutsche Vergangenheitsbewältigung?
Die New York Times hat einmal – mit Recht – geschrieben, was ich als wahr und großartig ansehe, dass Berlin die einzige Hauptstadt der Welt ist, deren zentrales Denkmal, das Holocaust-Mahnmal, die größte Schande der nationalen Geschichte vergegenwärtigt. Dennoch werde ich nie verstehen, warum so viele junge Israelis eine solche Begeisterung für Berlin empfinden. Deutschland ist sicher weit davon entfernt, das Erbe des „Dritten Reichs“ in seiner vieldimensionalen Gesamtheit verarbeitet zu haben. Und nicht jede Maßnahme der sogenannten „Vergangenheitsbewältigung“ war erfolgreich. Aber bei all meiner Kritik an Deutschland, die manchmal vielleicht etwas einseitig ist, kenne ich eben keinen anderen Fall in der Geschichte, wo eine Nation derart konsequent versucht hat, die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit zu analysieren und als Warnung lebendig zu halten.  

Viele Repräsentanten Ihrer Generation unterstellen der Ära Adenauer bis heute eine gewisse „Biedermeierlichkeit“. Und sie nehmen in Anspruch, dass die Aufarbeitung der NS-Zeit erst mit der Studentenrevolte angefangen hat. Andererseits erscheint ein Standardwerk wie Eugen Kogons „Der SS-Staat“ schon 1946. Der Eichmann-Prozess, der auch die deutsche Öffentlichkeit aufwühlte, fand 1961 statt. Und die Auschwitz-Prozesse begannen 1963, also ebenfalls Jahre vor der Studentenrevolte. Ist die Vergangenheitsbewältigung durch die 68er nicht ein Mythos Ihrer Generation?  
Ich glaube, dass wir es auch hier mit parallelen Bewegungen innerhalb derselben Gesellschaft und vergangenen Zeit zu tun haben. Natürlich gab es Bücher wie das von Kogon und die von Ihnen genannten Prozesse. Andererseits gab es eben auch jenes Gefühl von Latenz und jene apolitische Biedermeierlichkeit. Ich habe dieses Wort in meinem Buch zwar nicht gebraucht, aber es beschreibt sehr gut die Stimmung jener Jahre. Mein Vater zum Beispiel war während des „Dritten Reichs“ wohl weder ein Nazi noch ein Gegner des Regimes gewesen. Doch als er 1957 den NS-Wirtschaftsminister Walther Funk nach dessen Entlassung aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau operierte, waren meine Eltern wohl ohne jede Ambivalenz sehr stolz auf diesen „prominenten“ Patienten. Und mit dieser Haltung standen sie nicht allein da.
Deshalb glaube ich, dass eine andere, vielleicht „vertiefte“ Wahrnehmung des „Dritten Reichs“ und seiner Folgen tatsächlich erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre einsetzte. Sie waren ja ohnehin die Zeit eines entscheidenden Wandels in der westdeutschen Gesellschaft. Die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler war als Ereignis ebenso einschneidend wie die Radikalisierung der Studentenschaft, die mit dem Abgrund der RAF endete. Aus dieser Perspektive wird die RAF zum Symptom einer sich irreversibel steigernden Verzweiflung über die Unmöglichkeit, jene Vergangenheit hinter sich zu lassen. Vielleicht sollten wir „68“ nicht als den Zeitpunkt deuten, in dem die NS-Vergangenheitsbewältigung einsetzte, sondern als Moment eines entschlossenen (aber nicht immer erfolgreichen) Versuchs, die Biedermeierlichkeit der vorausgegangenen zwei Jahrzehnte aufzubrechen.

Sie haben eingangs die „Reeducation“ gelobt und gesagt, dass ohne sie die Demokratisierung Deutschlands nicht möglich gewesen wäre. Gehört es aber nicht auch zu den Bedingungen der deutschen Nachkriegs-Erfolgsgeschichte, dass es auch schon vor 1945 demokratische Traditionen gab? Die Weimarer Republik ist dafür trotz ihres Scheiterns ein ebenso gutes Beispiel wie die alten Reichsstädte, in denen seit Jahrhunderten freie Bürger ihr Gemeinwesen selbst verwalteten. In Afghanistan, Irak und anderen Ländern mussten die Amerikaner schmerzhaft erfahren, wie schwierig es ist, ohne entsprechende Traditionen einen Demokratisierungsprozess zu starten.
Natürlich hätte die „Reeducation“ ohne die von Ihnen erwähnten historischen Vorsaussetzungen nicht so erfolgreich sein können, da bin ich gewiss mit Ihnen einverstanden. Aber ohne die französischen, britischen, amerikanischen – und auch sowjetischen – Alliierten hätte sich Deutschland nie vom Nationalsozialismus befreien können, der 20. Juli 1944 belegt dies. Insofern war auch die „Reeducation“ eine notwendige Vorbedingung für das heutige demokratische Deutschland.
Allerdings dürfen wir sie uns nicht als drakonisches Erziehungsprogramm vorstellen. Die Maßnahmen der „Reeducation“ reichten vom Einsetzen unbelasteter meinungsbildender Politiker und Journalisten bis zur Einführung von Wahlen der Schülermitverwaltung, die es vorher nicht gegeben hatte. Zu ihr gehörte auch, dass ein Intellektueller wie Martin Heidegger, der dem NS-Regime bis zum Ende die Treue gehalten hatte, zwar publizieren aber nie mehr auf seinen Freiburger Lehrstuhl zurückkehren durfte. Gestalten wie er sollten nicht am institutionellen Neubeginn der Nation stehen, aber ihre Leistungen sollten der Nation nicht verschlossen bleiben.

Sie haben in Ihrem Buch die Frage aufgeworfen, ob es in der Zeit nach 1945 etwas Bleibendes gab, das für die Gegenwart Bedeutung hat. Was ist Ihre Meinung dazu?
Merkwürdig ist vor allem, dass jene Nachkriegszeit, der wir – ja nicht allein in Deutschland – so viel verdanken, in unserer Gegenwart kaum noch präsent ist. In der Literatur zum Beispiel hat man den zentralen deutschen Autor jener Jahre, Heinrich Böll, nahezu ganz vergessen. Und dies, obwohl er zu den wenigen deutschen Nobelpreisträgern der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte. Aus dem Alltagsleben der unmittelbaren Nachkriegszeit sollten wir an die „Trümmerfrauen“ erinnern, die – ja auch im wörtlichen Sinn – die ersten Grundsteine für den späteren Wiederaufstieg des Landes legten.
 In der Welt der Politik war wohl der erste Bundespräsident Theodor Heuss eine besonders positive (und heute kaum mehr erwähnte) Gestalt. Er verfügte über eine eigene Form bürgerlicher Liberalität, gepaart mit Gelassenheit und Intelligenz. Zudem steht Heuss – wie natürlich auch Konrad Adenauer – für die programmatische Anknüpfung der Bundesrepublik an die demokratischen und liberalen Traditionen vor 1933.
Schließlich sollten wir auch das Wirtschaftswunder nicht vergessen. Selbst wenn es Anteil daran hatte, dass die Gesellschaft wie geschildert in eine Biedermeierlichkeit fiel, war es doch einfach eine großartige kollektive  Leistung, dass ein am Boden liegendes Land in relativ kurzer Zeit wieder so produktiv werden konnte. Nicht zuletzt liegt in der damals vollzogenen wirtschaftlichen Erholung ja auch ein Grundstein für das heutige Gewicht Deutschlands. Eine politische Identität hingegen hat die Nation im internationalen Kontext kaum gefunden.

Das Interview führte René Nehring.