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Titelthema Nordkorea

Russische Technologie

Titelthema Nordkorea - Russische Technologie
Propaganda-Gemälde Kim Jong Ils, welches in der Nationalgalerie in Pjöngjang hängt. © martin sasse/laif

Das rasant fortschreitende Raketenprogramm offenbart viele Unstimmigkeiten – was produziert das kleine Land trotz begrenzter Ressourcen selbst?

Markus Schiller01.09.2023

Nordkoreas Raketenprogramm gilt für viele als Sinnbild des abgeschotteten Landes: Unnahbar, rätselhaft, geheimnisvoll, gefährlich. Immer wieder schafft es das kleine Land, mit spektakulären Raketenstarts im Zentrum globaler Berichterstattung zu stehen. Aber was steckt wirklich dahinter? Um das zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.


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Am Anfang des nordkoreanischen Raketenprogramms steht ein Gründungsmythos, in dem sich die von der Herrscherdynastie der Kims etablierte Juche-Ideologie widerspiegelt, welche eine totale Unabhängigkeit des Landes von der Außenwelt propagiert. So lautet das gängige Narrativ, dass das gesamte Programm darauf fußt, dass man in den 1980er Jahren drei sowjetische Raketen des Typs 8K14, im Westen besser bekannt als Scud B, aus ägyptischen Beständen kaufte, diese mal schnell eigenständig nachbaute, und ab 1987 zunächst den Iran, und dann zahlreiche weitere Länder mit hunderten dieser Raketen belieferte. Iran schoss diese auch gleich dutzendfach auf seinen damaligen Erzfeind Irak ab, es handelte sich also um operationelle Waffensysteme. Darauf aufbauend soll Nordkorea die Scud B erfolgreich in verschiedene Richtungen weiterentwickelt haben, zu inzwischen knapp 40 verschiedensten Raketentypen aller Größen und Reichweiten, natürlich ohne jede fremde Hilfe.

Betrachtet man das Programm nun durch die Brille des Ingenieurs, so offenbaren sich bei diesem Narrativ zahllose Unstimmigkeiten.

Jedes Einzelprogramm kostet Geld, Arbeitskraft und andere Ressourcen, die alle nur begrenzt verfügbar sind, weshalb man sparsam damit umgehen muss. Das gilt auch für Länder wie Nordkorea, augenscheinlich aber nicht für dessen Raketenprogramm. Dort wird mal in diese technologische Richtung entwickelt, dann in jene, Raketen werden „operationell eingeführt“ und sang- und klanglos wieder ausgemustert, parallel finden sich Systeme gleicher Leistung, die dann wieder im Nirgendwo verschwinden. Manchmal werden großspurig Prototypen gezeigt, die niemals gestartet werden, und Entwicklungstests finden auch eher selten statt, man entwickelt immer gleich vom Reißbrett in die Serienproduktion hinein – so zumindest die Eigendarstellung. Dieser Mangel an echten Entwicklungsaktivitäten ist, zusammen mit immer wieder auftauchenden verblüffenden Ähnlichkeiten mit sowjetischer Technologie, der gemeinsamer Nenner aller nordkoreanischen Raketen. Denn immer wieder sehen Triebwerke oder Gesamtauslegung der Raketen so aus, wie man sie von sowjetischen Geräten her kannte.

Das kann nun zwei Gründe haben. Entweder die Nordkoreaner sind tatsächlich in der Lage, mit minimalem Aufwand und sehr begrenzten Ressourcen in einem isolierten Land ohne sonstige nennenswerte Industrie beliebige Hochtechnologieprodukte in Serienqualität aus dem Ärmel zu schütteln. Oder sie bekommen massive Hilfe aus dem Ausland. Hierzu lohnt sich ein genauerer Blick auf den erwähnten Gründungsmythos.

Spezialgerät notwendig

Selbst westliche Länder sind beim Versuch, alte sowjetische Raketentechnik nachzubauen, an ihre Grenzen gestoßen. Der Irak hatte beispielsweise in den 1980er Jahren deutsche Firmen beauftragt, Scud-Komponenten nachzubauen, was nur sehr bedingt gelang. Die USA versuchten in den 2000ern erfolglos versucht, ein russisches Hochleistungstriebwerk für die Raumfahrtrakete Atlas V nachzubauen – nach mehreren Jahren beschloss man, lieber russische Originaltriebwerke einzubauen.

Die Geschichte eines schnellen Nachbaus der Scud, und das noch nachweislich ohne viele Tests, ist daher wenig glaubwürdig. Dazu kommt, dass es sich bei Scud B um ein umfangreiches Waffensystem mit Unmengen an Spezialgerät zu Unterstützung und Betrieb handelt, einschließlich Startfahrzeug, Vermessungsfahrzeugen, speziellen Tankfahrzeugen und vielem mehr. Hatte Nordkorea diese auch nachgebaut, obwohl man ja nur die Raketen als Vorlage aus Ägypten erhielt? Wie sich bald herausstellte glichen nämlich nicht nur die nordkoreanischen Raketen, sondern alle Teile des Systems den sowjetischen Originalen bis ins kleinste Detail, bis hin zu den kyrillischen Beschriftungen.

Fraglich ist auch, warum Nordkorea sein Talent des exakten Nachbaus und der problemlosen Weiterentwicklung bis heute auf ballistische Raketen beschränkte. Warum kopierte man beispielsweise nicht auch deutsche Luxusautos, oder sowjetische Flugabwehrraketen, die schon damals bei Nordkoreas Kundenstamm mindestens ebenso begehrt gewesen wären wie die Scud? Warum außerdem hatte Moskau keinerlei Einwände dagegen, dass Nordkorea mit dem Export von Raubkopien eines der wichtigsten Rüstungsexportgüter Millionen verdiente, während man selbst leer ausging? Denn zufälligerweise wurde zeitgleich in den 1980er Jahren die inzwischen veraltete originale Scud B aus den Beständen der Roten Armee zu Tausenden ausgemustert – die hätte man ja auch gegen gutes Geld verkaufen können. Bis heute ist übrigens unklar, wo ein Großteil dieser ausgemusterten sowjetischen Systeme verblieben ist!

Diese Unstimmigkeiten ziehen sich bis heute durch das nordkoreanische Programm. Zwar testet man inzwischen tatsächlich häufiger, vielleicht um den Anschein eigener Aktivitäten zu wahren, vielleicht wird inzwischen auch tatsächlich einiges selbst gemacht. Denn während Kim Il Sung und Kim Jong Il über den Zeitraum von knapp 30 Jahren für 8 verschiedene Raketentypen an insgesamt nur 9 Tagen ihrer Regierungszeit überhaupt Raketen starteten (insgesamt keine 30 Stück!), hat der derzeitige Herrscher Kim Jong Un seit 2014 bis Mitte 2023, also in weniger als 10 Jahren, an über 100 Tagen bereits über 200 Raketen verschiedenster Bauart verschossen.

Immer wieder ertappt man Nordkorea jedoch dabei, wie es versucht, im Rahmen seiner Raketenerfolge der Welt etwas vorzumachen. Und nach wie vor haben viele Raketen und deren Komponenten verblüffende Ähnlichkeit mit russisch-sowjetischer Hardware.

Größte mobile Rakete der Welt

Auf alle Raketentypen einzugehen würde den Rahmen sprengen, einige sollen jedoch kurz erwähnt werden Da ist zum einen die Hwasong-15, deren erfolgreicher Erstflug im November 2017, natürlich ohne vorherige Testaktivitäten, klar zeigte, dass Nordkorea nun in der Lage war, das gesamte Territorium der USA zu erreichen. Oder die wenig später vorgestellte Hwasong-17, die größte mobile Rakete der Welt. Beide angetrieben von Triebwerken, die starke Ähnlichkeit mit alten sowjetischen Entwicklungen zeigen. Und obwohl man beide Raketen inzwischen einige Male erfolgreich verschossen hat (immer nur steil nach oben und vor Nordkoreas Küste wieder ins Meer hinein, um nicht aus Versehen ein anderes Land zu treffen), präsentierte man der Welt im April dieses Jahres den erfolgreichen Erstflug der Hwasong-18, die eine vergleichbare Reichweite wie die -15 und -17 bietet, aber auf vollständig anderen Technologien basiert, also wieder von Grund auf neu entwickelt werden musste. Oder aber vielleicht einfach eingekauft wurde, denn auch diese Rakete ähnelte wieder mal verblüffend einem bekannten russischen Gegenstück.

Dennoch scheint es für viele Beobachter bis heute ein Rätsel zu sein, wie das kleine Land all das schafft. Denn schließlich sei Nordkorea ja streng sanktioniert, und es betone ständig seine Eigenständigkeit. Oder sollte China vielleicht seinem Nachbarn hierbei unter die Arme greifen…? Dass die technologische Handschrift russisch ist, und auch Russland direkt an Nordkorea grenzt, wird ausgeblendet.

Nun soll all das aber keinesfalls den Eindruck erwecken, dass Nordkoreas Raketen kein Grund zur Besorgnis wären. Es gibt keinerlei belastbare Zahlen zur tatsächlichen Anzahl der verschiedenen Raketen in Nordkorea. Und selbst wenn es sich um importierte Einzelstücke aus Russland handeln sollte: Im Fall eines Konflikts ist es egal, wo die eingesetzten Raketen produziert wurden, und auch eine einzelne Atomrakete, die auf Südkorea, Japan oder die USA fällt, wäre eine Katastrophe. Es gilt jedoch, bei der Einordnung des Raketenprogramms und der resultierenden Bedrohung sowie der Ableitung von Strategien zum Umgang mit Nordkorea nicht die Eigendarstellung der Kim-Diktatur zum Maßstab zu nehmen. Vielmehr sollte man mit klarem Blick betrachten, was Nordkorea tatsächlich macht, was es mit seiner Strategie aktuell und zukünftig erreichen will, und wie man mit diesen Realitäten umzugehen hat.

Markus Schiller

Markus Schiller, RC Chiemsee, bietet mit seiner Firma ST Analytics Analysen zu Raketen- und Raumfahrtprojekten an. Er forschte zuvor zum nordkoreanischen Raketenprogramm.

© Martina Schiller