https://rotary.de/gesellschaft/vom-schlachtfeld-zum-innerstaatlichen-konflikt-a-4015.html
Gedanken zur Zukunft des Krieges

Vom Schlachtfeld zum innerstaatlichen Konflikt

Der Militärtheoretiker Martin van Creveld fragt, wohin sich der Krieg der Zukunft entwickeln könnte

Martin van Creveld14.10.2013

Krieg, diese schrecklichste und leider doch all zu verbreitete menschliche Aktivität erfährt derzeit eine tiefgreifende Verwandlung. Jahrtausende lang wuchs der Maßstab, in dem er geführt wurde, immer mehr an. Auch wenn es Unterbrechungen und sogar temporäre Rückzüge gab, setzte sich dieser Prozess immer weiter fort. Er erreichte in der Zeit von 1914–1945 seinen Höhepunkt, als, mit der Ausnahme von Südamerika, sieben bis acht sogenannte Großmächte – je nach entsprechender Zählweise – praktisch die gesamte Erde besetzten. Selbstverständlich taten diese, was Großmächte schon immer getan haben: sich mit Händen und Füßen gegenseitig bekämpfen. Hierzu mobilisierten sie zehn Prozent ihrer Bevölkerungen, für die dieser Zustand über Jahre anhielt. So belief sich die Anzahl der Deutschen, die während des Zweiten Weltkrieges eine Uniform, entweder der Wehrmacht oder der Waffen-SS trugen, auf nahezu 18 Millionen. Die entsprechende Zahl für die Sowjetunion betrug 33 Millionen.

Sobald ein Konflikt zu einem Ende gelangt war, begannen die Menschen über den nächsten Konflikt nachzudenken, von dem sie glaubten, dass er noch größer und grausamer sein würde als die vorherigen. Tatsächlich brach jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg kein solcher Konflikt aus. Der Hauptgrund, und nach meiner Auffassung  der einzige Grund, weshalb dies nicht erfolgte, waren die Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki. Jahretausendelang bestand die wichtigste Folge von Siegen immer darin, sicherzustellen, dass der Sieger überleben würde. Mit der steigenden Zahl von Atomwaffen trat jedoch eine sehr reale Möglichkeit zu Tage, dass die eine oder andere Krieg führende Nation „gewinnen” könnte – was auch immer dies zu bedeuten hat – und dennoch vom Angesicht der Erde vernichtet werden könnte. Mit anderen Worten: Der Krieg veränderte sich von einem politischen Instrument in etwas eher Selbstmordartiges. Und so ist es bis zum heutigen Tag geblieben, wenn man von einigen Versuchen absieht, Raketenabwehrsysteme einzusetzen.

Änderung der Kriegsbereitschaft

Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass sich die wichtigsten Staaten nicht mehr länger in bitterem Ernst bekämpfen. Dieser Prozess begann mit den Supermächten und erstreckte sich dann weiterhin auf ihre Alliierten in der NATO und im Warschauer Pakt. Situationen, bei denen sich dies ebenfalls bemerkbar machte, war das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und China, China und Indien sowie Indien und Pakistan. Auch im Nahen Osten hat das (verdeckte) Vorhandensein von Atomwaffen in den Händen Israels für einen großen Unterschied gesorgt. Seit 1945 haben keine zwei Mächte ersten oder auch zweiten Ranges in einem wie auch immer gearteten Umfang gegeneinander Krieg geführt. Anstatt dessen wurden alle Kriege entweder durch Mächte ersten oder zweiten Ranges gegen Staaten dritten oder vierten Ranges geführt – wie dies immer noch in Syrien passieren kann – oder anderweitig zwischen den Ländern dritten und vierten Ranges untereinander. Die Größe der beteiligten Streitkräfte nahm proportional ab.

Leider bedeutet der Rückgang der Kriegsführung zwischen einzelnen Staaten in großem Umfang nicht das Ende von Krieg. Stattdessen nahm der Krieg, quasi gelähmt durch die Ausbreitung von Atomwaffen, neue Formen an. Dieser Prozess nahm seinen Ausgangspunkt in den Kolonialländern. Während die Menschen sich erhoben und versuchten, sich von ihren imperialistischen Herren zu befreien, wurden viele von ihnen Zeuge grausamer bewaffneter Konflikte, in denen Millionen von Menschen ihr Leben ließen. Viele der fraglichen Länder gewannen zwar ihre Unabhängigkeit, waren jedoch von gleichermaßen grausamen Bürgerkriegen innerlich zerrissen. Die Liste der Staaten, denen dieses Schicksal widerfuhr, ist nahezu endlos: Sie beginnt mit Afghanistan (und Angola) und endet mit Zaire.

Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels scheint die Zeit der großen zwischenstaatlichen Kriege zu einem Ende zu gelangen. Dies gilt jedoch nicht für die innerstaatlichen Kriege. Beurteilt man die Häufigkeit, mit der diese aufgetreten sind – seit 1945 waren mehr als 90 Prozent aller bewaffneten Konflikte dieser Art – scheinen innerstaatliche Kriege ein großes Thema unserer aller Zukunft zu sein.

Wandel der Formen

Jahrzehntelang glaubte man, dass solche Konflikte auf die sogenannte „Dritte Welt“ beschränkt seien. Der Bosnien-Krieg 1992–95 bewies jedoch, dass dem nicht so war. Kann das gleiche auch in anderen entwickelten Ländern passieren? Die Geschichte zeigt, dass dies passieren kann. Insbesondere zwei Faktoren können eine solche Situation herbeiführen: wirtschaftliche Schwierigkeiten einerseits sowie ethnisch-religiöse Spannungen andererseits. Diese beiden Faktoren können einzeln oder auch zusammen wirken. Unter bestimmten Umständen können Sie sich gegenseitig verstärken und somit zu einer explosiven Mischung führen.

Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten muss nur wenig gesagt werden. Vor 2400 Jahren wies Plato in „Der Staat“ auf die Schere zwischen Reichtum und Armut als den wichtigsten Grund für Bürgerkriege hin. Solche Kriege brachten Nachbarn gegen Nachbarn und Bruder gegen Bruder auf. Daher sind sie, wie er schreibt, „das Schlimmste auf der Welt.” Es gab sie bereits früher, und unter den entsprechenden Bedingungen könnte es sie sicherlich wieder geben. Dies umso mehr, da in einer Welt der Atomwaffen der Ausgang, zu dem externe Kriegsführung traditionell geführt hat, nicht mehr länger verfügbar ist. Somit werden Länder zu Hochdruckkesseln, deren Sicherheitsventile versperrt wurden.

Bei ethnisch-religiösen Spannungen ist die Situation komplexer. Historisch betrachtet scheint es, dass wenn eine ethnische Minderheit ungefähr 20 Prozent einer Bevölkerung ausmacht, die Gefahr von Gewalt sehr real wird. Dies war z.B. in Frankreich in den 1560er Jahren der Fall. Das Ergebnis war ein über vierzig Jahre andauernder Bürgerkrieg. Nun war dies auch nicht eine Frage von Franzosen, die gegen Franzosen kämpften. Es waren eher, beinahe von Anfang an, ausländische Söldner und andere europäische Herrscher, die sich aktiv an den Auseinandersetzungen beteiligten. Manchmal gründete ihre Beteiligung auf der Hoffnung, Beute zu machen, Gebiete zu erobern und als Außenseiterchance, die Krone zu gewinnen. In anderen Fällen rief eine der Krieg führenden französischen Parteien – oder beide – selbst die Fremden in der Hoffnung hinzu, ihre heimischen Feinde schlagen zu können. Die gefragtesten der Söldner waren die Schweizer. Auch wenn sie selbst Protestanten waren, hatten sie bei der entsprechenden Bezahlung keine Bedenken, ihre Glaubensgenossen zu bekämpfen. Zu den Herrschern, die sich irgendwann einmal in diesen Krieg einschalteten, gehörten Königin Elizabeth I. von England, König Philip II. von Spanien – damals weitgehend als der mächtigste Herrscher Europas betrachtet, der später zu Elizabeths gefährlichstem Feind wurde – sowie Prinz Wilhelm von Oranien, der die Holländische Rebellion gegen eben diesen König Philip anführte. Von diesen Herrschern war der erste Protestant (wenn auch kein Calvinist, eine Konfession, zu der sich die meisten Hugenotten bekannten). Der zweite war Katholik, der dritte Calvinist. Zu den weniger berühmten Akteuren gehörten der Calvinist Herzog Wolfgang von der Pfalz, verschiedene aufeinander folgende Päpste und diverse italienische Herrscher. Als Heinrich von Navarra, später als König Heinrich IV. von Frankreich bekannt, dem Krieg schließlich ein Ende machte, waren Hunderttausende gestorben.

Muss sich die Geschichte wiederholen? Definitiv nicht. Kann sie es? Definitiv ja. Wird sie es in diesem Fall tun? Vielleicht. In jedem Fall ist ein Eintreten dieser Möglichkeit viel wahrscheinlicher als die Annahme eines konventionellen Krieges mit großem Ausmaß. Auch wenn es stimmt, dass die Umstände sich in den einzelnen europäischen Ländern voneinander stark unterscheiden, lassen sich jedoch nur in wenigen von ihnen, wenn überhaupt, solche Konflikte wie in den vorherigen Absätzen beschrieben, ausschließen. Und derjenige, der sich sowohl in dieser als auch in anderer Hinsicht weigert, seinen Blick auf diesen Umstand zu richten und einfach seinen Kopf in den Sand steckt, wird sein blaues Wunder erleben.
Martin  Creveld
Martin van Creveld ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er hat mehr als 30 Bücher in 20 Sprachen veröffentlicht und gilt weltweit als einer der herausragenden Militärhistoriker. www.martinvancreveld.com