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Rotary und der Zuwachs an Alten

Vom Segen der Langlebigkeitsgesellschaft

Nie konnten in der Geschichte so viele Menschen so gut alt werden. In den letzten zwei Jahrhunderten haben die Menschen hierzulande 30 Jahre an Lebenserwartung gewonnen. Wird irgendwo das Wachstum der Lebens­erwartung gefeiert? Im Gegenteil. In keinem Sorgenbarometer darf die Angst um die Bezahlbarkeit der Renten fehlen. Geballt ist von anderen Notstandsgebieten wie der Multimorbidität im Alter, von Demenz und Alzheimer die Rede
Von Peter Gross

Peter Gross16.01.2015

Die Langlebigkeitsgesellschaft, wie wir die Altersgesellschaft lieber nennen, eröffnet freilich eine ganze Reihe von einleuchtenden Vorzügen. Das Leben in der vormodernen Zeit und heute noch in weiten Teilen Afrikas, Asiens und Südamerikas erreichte und erreicht ein Durchschnittsalter von vielleicht 40 Jahren. Es wurde auf dem
Höhepunkt der Schaffenskraft dahingerafft. Krieg, Pest und Cholera ließen das Leben zu einem Torso verkümmern. Die Menschen stiegen die Lebensleiter hinauf und fielen, wenn sie oben waren, herunter. Der jähe und unzeitige Tod war die traurige Normalität. Das Leben wird heutzutage in einer großartigen Weise ganz. Es enthält Werden und Vergehen, Saat und Ernte. Schopenhauer hat sinngemäß geschrieben, dass die ersten 40 Jahre des Lebens den Text liefern, die zweiten 30 den Kommentar dazu. Meine Mutter ist 99 Jahre alt geworden, meine Schwiegermutter hat gerade ihren 97. Geburtstag gefeiert. Ihr sehr langes Leben verschafft ihnen die Möglichkeit, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Darüber hinaus sind die Älteren nicht mehr die Älteren von früher. Die Vorstellung von überalterten Rotary Clubs muss deshalb korrigiert werden. Im Durchschnitt sind gegenüber der Gründung der Clubs die Clubmitglieder zehn Jahre jünger. Und auch das sogenannte Altershandicap, also die Anfälligkeit für Alterskrankheiten, tritt sehr viel später auf.

Ein grandioses Zeitfenster
Das Wachstum der Lebenserwartung öffnet ein in der bisherigen Geschichte unbekanntes Zeitfenster. Dieses Geschenk darf nicht unberührt und achtlos liegen gelassen werden. Denn es birgt weitere, eigentlich evidente Vorzüge. So konnten in der bisherigen Geschichte nie so viele Generationen so friedlich miteinander leben. Kürzlich ist der älteste Mann der Welt gestorben. Er wurde 123 Jahre alt. Er hatte eine Tochter und einen Sohn sowie sieben Enkel, 15 Urenkel und fünf Ururenkel. Heute Geborene haben große Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Sie werden in der Regel nicht nur ihre Großeltern, sondern auch ihre Urgroßeltern und ihre Ururgroßeltern, eventuell noch ihre Urururgroßeltern kennen können. Sie wachsen in einer vielstimmigen Erinnerungskultur auf. Die Folgen sind noch gar nicht absehbar. Es wird etwa, was die richtige Deutung geschichtlicher Ereignisse betrifft, nicht mehr ein Richtig oder Falsch, sondern eine polyphone Deutung geben.

Schließlich und endlich lässt sich auch zeigen, dass eine Gesellschaft mit weniger Kindern, aber mit hoher Lebenserwartung doch ein wünschenswerteres Stadium der demografischen Evolution darstellt als eine demografische „Steinzeit“, in der es viele Kinder und eine tiefe Lebenserwartung gibt. Es ist mir unerfindlich, warum der Kindersegen außereuropäischer Kulturen dem hohen Wert der Kinder hierzulande vorgezogen wird. Unsere Kinder sind im Prinzip Wunschkinder – eine großartige Errungenschaft freiheitlicher offener Gesellschaften, in denen doch alles, von der Frisur bis zum Arbeitsplatz, der Selbstverantwortung unterstellt werden will. Nicht nur der Ökonom weiß, dass je seltener ein Gut desto wertvoller es ist. Kinder bei uns sind alle „Royal Babys“. Wird ein Kind hingegen in Somalia, in der Sahelzone, in Indien oder in Brasilien geboren, erwartet dieses eine grausame Wirklichkeit und häufig der Tod.

Herausforderungen
Gewiss ist das Altern nicht gegen Zumutungen gefeit und der Herausforderungen sind mannigfache. Insbesondere die Alters- und Hinterbliebenenversicherung beziehungsweise die Rentenversicherung bereitet Sorge und zwar in einem Maße, das leider die immaterielle Vorsorge, die Frage nach den Vorzügen und nach dem Sinn des Alterns lautstark verdrängt. Gerne wird dabei vergessen, dass es nicht die Jungen sind, welche die Alten im Umlageverfahren finanzieren, sondern dass die Erwerbstätigen und die Rentner über ihre Einkommen- und
Vermögensteuern auch die Kinder und die Jugend beziehungsweise die Einrichtungen, die diese besuchen, finanzieren. Hat jemand gerechnet, was die Aberhunderttausenden von Studierenden uns kosten? Hat jemand einmal gerechnet, was die Rentner für einen Beitrag dazu leisten?

Zumutungen
Was die Zumutungen des Alters betrifft, ist an die irreversible und letztlich auch unverfügbare Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Möglichkeiten, insbesondere bei Hochaltrigkeit zu denken. Aber auch der Abstieg, das Vergehen und das Schwächerwerden haben ihren Sinn. Das Aufstehen fällt schwerer, das Sterben leichter, hat der französische Philosoph Montaigne munter dazu beigesteuert. Daran ist viel Wahres. Schwer fällt es letztlich, den so ausgiebig diskutierten Alterskrankheiten wie Demenz und ihrer Unterform Alzheimer etwas Positives abzugewinnen. Gleichwohl, eine aufmerksame Betrachtung der entsprechenden Literatur zeigt, dass eine vorsichtige Neubewertung im Gang ist, deren Ursprung nicht zuletzt in den autobiografisch gefärbten literarischen Büchern zu diesen „Angstgegnern“ des Alterns vermutet werden kann. Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ (2012), David Sievekings „Vergiss mein nicht“ (2013) oder besonders anrührend Jonathan Franzens „Das Gehirn meines Vaters“ (Reinbek 2002) sind Beispiele dafür.

Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass die letzten Jahre der Beschäftigung mit Demenz und Alzheimer eine Geschichte der Annäherung an die offenbar nicht immer nur dämonischen Seiten dieser Krankheiten waren. So erreicht uns die Meldung, dass an der Universität Basel eine Pille des Vergessens entwickelt wurde, die hilft, schlimme Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu löschen. Hat eine Krankheit, die hilft zu vergessen, nicht nur eine leidvolle Vergangenheit, sondern auch eine angstmachende Zukunft, einen Sinn? Ist das langsame Verdämmern im Kreise der Angehörigen, so unverschämt sich das anhört, allenfalls eine Schule der Hingabe und der Zärtlichkeit? Und ist es nicht paradox, dass in der modernen Gesellschaft zwar lange und immer länger gelebt werden will, aber schnell gestorben? Das viel zitierte Buch „Kohelet“ (Prediger) im Alten Testament sagt auch, dass es nicht nur eine Zeit zum Leben, sondern eine Zeit zum Sterben gebe. Zeit zum Sterben – ist das ein möglicher Sinn?

Der epochale Sinn der Langlebigkeit
Tief im Innern des Aufstiegs der Langlebigkeitsgesellschaft schlummert noch eine Frage, deren Beantwortung nur vermutend und tastend sein kann. Nämlich ob die Alterung der modernen Gesellschaft nicht einen epochalen Sinn haben könnte. Liegt dieser eventuell in der Beruhigung einer hyperaktiven und ihre eigenen Lebensgrundlagen verzehrenden Gesellschaft? Die glänzenden Erfolge der westlichen Zivilisation beruhen bekanntlich auf einer extremen, sich in der Jetztzeit fortsetzenden Anstrengung ihrer Akteure. Der Aufstieg der Moderne wurde erkauft durch einen hohen Verschleiß an natürlichen und humanen Ressourcen. Steigende Geburtenzahlen und schnelles Wachstum der Bevölkerung machten diesen erst möglich. Die Grenzen dieses Programms eines immerwährenden und immer beschleunigteren Wachstums sind seit Jahrzehnten Gegenstand sorgenvoller Erörterungen. Vom Club of Rome in den 70er Jahren bis zu Stephen Emmotts neuester Apokalypse „Zehn Milliarden“ (2013), die davon ausgeht, dass wir gegen Ende dieses Jahrhunderts zehn Milliarden Menschen sein werden, dass wir ein beispielloser Notfall seien und nicht mehr zu retten.

Eine Karte der Welt, so der irische Schriftsteller Oscar Wilde, verdiente keinen Blick, wenn darauf nicht das Land Utopia eingezeichnet sei. Vielleicht ist die Annahme utopisch, dass mit dem Zuwachs an Alten, mit der Ausbreitung der Langlebigkeitsgesellschaft sich eine beruhigende Wirkung im Innern der Langlebigkeitsgesellschaft entfaltet: Oasen der Ruhe, Räume der Behutsamkeit und Langsamkeit, Orte des Nachdenkens und der Erinnerung. Aber angesichts der grassierenden Müdigkeitserscheinungen und der auf Erschöpfung beruhenden Krankheitsbilder in der modernen Gesellschaft, von Burn-out bis zu den endemisch um sich greifenden Depressionen, könnte der geschichtliche Sinn von Langlebigkeitsgesellschaften im Versuch einer Abkehr von der Kraftmeierei und Beschleunigung liegen und eine latente Weltmäßigung beinhalten. Und Weltmäßigung wieder ist, wer möchte das im Innersten seines unruhigen Herzens bestreiten, auch was das Los unserer Nachkommen, unserer Kinder und Kindeskinder betrifft, ein Gebot der Stunde.

Wir leben in einem gigantischen Selbstversuch, denn früher oder später werden auch die Bevölkerungen anderer Kontinente auf den von Japan, den USA und Europa vorgegebenen Pfad einschwenken, was sollten sie denn, angesichts ihres Elends, anderes wünschen als eine beruhigte Bevölkerungsstruktur. So sind wir Weltmarktführer einer Entwicklung, die früher oder später alle Kulturen, und zum Glück, durchlaufen werden. Die Welt schaut auf uns, wie wir mit dieser Entwicklung umgehen.

Und Rotary?
Was die rotarischen Clubs betrifft, wird nun seit Jahren über eine Überalterung ihrer Mitglieder geklagt. Die Clubs sollten, so die verbreitete Annahme, schon bei ihrer Gründung eine betont flache Alterspyramide anstreben und diese durch eine kluge und nachhaltige Aufnahmepolitik über die Jahre hinweg flach zu halten versuchen (vgl. Past-Gov. Peter Gut 2009).

In Anlehnung an die gemachten Ausführungen wäre es allerdings von Nutzen, sich zu vergegenwärtigen, dass die Gesellschaft selbst einen Alterungsprozess durchläuft, dass die Menschen immer älter werden und die Bevölkerungspyramide sich sukzessive in eine vasenförmige Struktur verwandelt hat. Die Frage ist deshalb, wie weit die Clubs nicht eher diese neue Struktur spiegeln müssten. Wird nämlich die Bevölkerung älter, werden auch die Clubs älter. Alt ist heute nicht mehr alt wie früher, auch wenn die Pensionierungsgrenzen über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger gleich geblieben sind. Das heißt nicht, dass die Clubs der Rekrutierung von jüngeren Mitgliedern keine Beachtung schenken müssten. Insbesondere die alten Clubs haben einen deutlichen Nachholbedarf. Rotary sollte in seiner Mitgliederstruktur nicht nur die unterschiedlichen Weltanschauungen oder den Anteil der Frauen in der Bevölkerung spiegeln, sondern auch die Altersstruktur repräsentieren.

Auf der anderen Seite wäre es angesichts der Bevölkerungsentwicklung falsch, den Altenüberhang, insbesondere in den alteingesessenen Clubs, zu dramatisieren. Denn er birgt auch Vorteile. So sind viele Clubs Mehrgenerationenwerkstätten geworden, nicht mehr nur zwei, sondern drei Generationen verbürgen in ihnen eine vielstimmige Erinnerungskultur. Rotary sollte deshalb nicht nur die Überalterung ihrer Clubs beklagen, sondern sich auch die Vorteile vor Augen halten, die diese Entwicklung mit sich bringt. Und dazu gehört auch die doch eher den Älteren eigene Ruhe und Abgeklärtheit. Von der auch die Jungen nur lernen und profitieren können.

 

Peter Gross
Peter Gross (RC St. Gallen) ist emeritierter Professor der Universität St. Gallen (HSG) und Verfasser des Werkes „Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu?“ (Herder Verlag). 2015 erschien außerdem sein Buch „Ich muss sterben“ (Herder Verlag).