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Von der Verantwortung der Naturwissenschaft

 - Von der Verantwortung der Naturwissenschaft
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Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zeichnete Anfang November 2023 den Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2023 aus. Lesen Sie hier die Dankesrede des Wissenschaftlers

28.11.2023

"Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinaus schweifen zu lassen." – Mit diesen Worten artikulierte einst der Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso das Spannungsfeld zwischen Literatur und Wissenschaft – in diesem Fall der Natur­forschung. Einzig in seinen Gedichten, für die er als einer der großen Erzähler der deutschen Literatur gerühmt wird, ließ er jener schier unerschöpflichen Einbildungs­kraft freien Lauf, die der sprachbegabte Romantiker umgekehrt aus seinem wissenschaftlichen Werk ausschloss. Und erst nachdem er sich als Naturwissenschaftler etabliert hatte, nahm Chamisso seine poetische Produktion wieder auf, die ihn seinerzeit – neben Uhland und noch vor Goethe – zu einem der meistgelesenen Lyriker werden ließ.

Auch als Naturforscher war Chamisso ein Spätberufener. Erst ab 1812, da ist er bereits dreißig, beginnt er ein entsprechendes Studium; und erst nach seiner dreijährigen Weltreise findet er eine Anstellung am Herbarium im Botanischen Garten zu Berlin-Schöneberg, wo er sich dann einen Namen als Botaniker macht. Als dieser doppelt Begabte – spät im Leben und auf der Höhe seines dichterischen Ruhms – auf Vorschlag keines Geringeren als dem ebenfalls vielbegabten Alexander von Humboldt zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin gewählt wird – was einem Ritterschlag für Naturkundler gleichkommt –, da schreibt Chamisso dankbar und froh an einen Freund, dies geschehe "ungeachtet meiner Dichterei, die da nicht gilt."

Indem Sie – die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung – heute hier in Darmstadt Ihren Preis für wissenschaftliche Prosa an einen Naturkundler in Gestalt eines Evolutions­biologen vergeben, ehren Sie unter 60 Preisträgern in sechs Jahrzehnten – nach meiner Rechnung, und ich habe es in Ihren Annalen nachgezählt – zum fünften Mal überhaupt einen Naturwissenschaftler und erst zum dritten Mal einen Zoologen beziehungsweise Evolutionsbiologen. Daher fühle ich mich gleich doppelt geehrt, wofür ich mich hiermit vielmals bei Ihnen, der Akademie und der Jury, bedanken möchte.

Meist waren unter Ihren Preisträgern Philosophen oder Historiker; und während die Liste der gekrönten Häupter unter den Geisteswissenschaftlern erschreckend eindrucksvoll ist – im Sinne von einschüchternd – stellt sich einerseits die Frage nach dem Verhältnis der beiden von Charles Percy Snow einst unterschiedenen geisteswissenschaftlich-literarischer Kultur und naturwissenschaftlich-technischer Kultur. Andererseits wirft es die Frage auf, wie sich das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur heute bestimmen lässt und welche Rolle schreibende Naturforscher spielen (sollten).

Offenkundig ist, dass wir vergleichsweise "spät zur Party gekommen" sind; ähnlich verspätet, wie umgekehrt einst Chamisso zur Naturkunde kam. Wieso aber, so müssen wir fragen, gelingt anderen diese Verbindung besser, und zudem in einer preiswürdigen Sprache?

Literatur – so sagt es Salman Rushdie, der vor wenigen Tagen nicht weit von hier den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt – stille eines unserer elementaren Grundbedürfnisse. Denn wir seien das einzige Geschichten erzählende Wesen. "Wir sind Tiere", so Rushdie, "die sich Geschichten über uns selbst erzählen, um herauszufinden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein." Naturwissenschaft, so ließe sich dann ergänzen, versucht zu erklären, wo dieses geschich­tenerzählende Tier und wo seine Geschichten herkommen. Damit haben beide, Literaten wie Wissenschaftler, viel gemeinsam, denn beide erzählen Geschichten. Nur tun sie es eben auf andere Weise. Rushdie sagt, seine "Superkraft" sei seine Fantasie; mit ihr erträumt und erschafft er sich die Welt. Die Superkraft der Wissenschaft dagegen ist die Empirie, mit der sich – durchaus sehr bewusst in Begrenzung der Fantasie – die eine Welt überprüfbar abbilden lässt, von der es dann zu berichten gilt.

In einer ersten Annäherung an die Beantwortung unserer Frage könnten wir also versuchsweise, aber mit einer trügerischen Trivialität, behaupten, dass Naturforscher ihren Fokus auf Fakten und Befunde legen, weniger auf ihre Fantasie und die Form der Vermittlung – darauf, wie wir unsere Geschichten erzählen. Doch das stimmt nur bedingt, und besagte Trivialität weiß ihre Brisanz mit Tücke zu verbergen.

Zum einen versuchen sich immer mehr meiner Kollegen seit vielen Jahren durchaus erfolgreich an verschiedenen Wegen des Wissenstransfers; auch wenn man darüber streiten kann, ob etwa Science Slams oder Social Media-Aktivitäten wesentlich zur Verbesserung dieses Transfers von Wissen beitragen und sich unsere Geschichten so wirklich gut erzählen lassen. Zweifelsohne gibt es viel zu erklären, aber wir müssen als Wissenschaftler vorsichtig sein, dabei nicht nur viel zu wissen, sondern stattdessen nur mehr viel zu meinen, wie in vielen Pod­casts und Blogs oder Tweets.

Zum anderen – und das scheint mir der wichtigere Punkt – ist die Vermittlung von Faktenwissen aus der Naturforschung fraglos ein durchaus schwieriges Geschäft; zudem eines, das gerade hierzulande viel zu wenig gezielt und mit geeigneten Maßnahmen gefördert wird, was wiederum für allgemeines Ansehen sorgen würde. Denn richtig ist auch, dass das, was wir heute als Wissenstransfer bezeichnen, unter vielen Forschern noch immer als verpönt gilt. In meiner Disziplin etwa rümpft man weiterhin die Nase über jene, die den engen Fachzirkel verlassen und sich an eine breite Öffentlichkeit wenden.

Hinzukommt noch etwas: Dass das Schreiben von verständlichen Büchern weiterhin nicht als karriereförderlich gilt, schon gar nicht in der Zunft der Zoologen. Dagegen wird im angloamerikanischen Sprachraum ein gut lesbares, also im besten Sinn populärwissenschaftliches Buch als Krönung der wissenschaftlichen Karriere angesehen. Bei uns aber wird die Naturwissenschaft von Literatur und Schreiben nach wie vor getrennt – und als Weg der Wissensvermittlung eben zu wenig gewürdigt. Auch deshalb ist mir dieser Preis und die Auszeichnung Ihrer Akademie so wichtig.

Sie könnten übrigens – und dies völlig zurecht – einwerfen und einwenden, dass doch gerade die Naturwissenschaft seit jeher eine enge Verbindung zu den Künsten und zur Literatur pflegt. Denken wir an Universalgelehrte wie Goethe und Humboldt, die Naturforschung und literarisches Schreiben elegant verbunden haben. Wenn wir etwas genauer hinsehen, dann ist diese Verbindung allerdings auch in der historischen Perspektive durchaus problematisch. Keine Frage: Goethe konnte noch beides. Aber schon Alexander von Humboldt ist daran gescheitert, als er versuchte die Ästhetik von Kunst und Literatur mit der Empirie der Naturkunde zu verbinden. Ich kann dies hier nicht weiter ausführen, will aber erwähnen, dass sich Naturforscher erst von Humboldts Ansatz und Schreibweise der unmittelbaren Verknüpfung von Empirie und Fakten mit Ästhetik und Poesie lösen mussten, bevor insbesondere ihre Reisewerke wirkliche Erfolge wurden. Dagegen: Mit Humboldts wahrhaft ausuferndem Werk – darunter übrigens kein vollständig lesbarer Reisebericht – schlagen sich Literaturwissenschaftler bis heute herum.

Zwar profitierte vor allem Chamissos heute noch gelesener Bericht der "Reise um die Welt" von seiner seltenen literarischen Begabung; und nachweislich – Ernst Osterkamp hat dies in zwei Aufsätzen getan – lebt auch Chamissos gefeierte Lyrik von seiner breiten naturkundlichen "Erfahrung" der Welt. Und trotzdem hat Chamisso ganz bewusst das Literarische vom Wissenschaftlichen getrennt – allein schon durch die jeweilige Sprache. Prosa und Lyrik schrieb der gebürtige Franzose auf Deutsch. Doch seine bis heute bedeutenden naturkundlichen Studien – nicht nur die Beschreibung neuer Pflanzen- und Tierarten, sondern allen voran die zum Generationswechsel von Meerestieren – hat er zwar auch dem Zeitgeist geschuldet, aber wohlweislich auf Latein verfasst.

Warum ich das alles erzähle? Weil wir daraus lernen, dass es früher, zu Zeiten von Chamisso und Humboldt, zwar sehr wohl diese gleichsam interkulturelle Grenzverletzung zwischen Wissenschaft und Dichtkunst, zwischen Fantasie und Empirie, gab; dass sich aber beide Kulturen bereits diesseits und jenseits eines sich formenden Grabens aufzustellen begannen. Als Grenzgänger ist gerade Chamisso zugleich auch ein Grenzzieher; weil er erkannte, dass sich zumindest ein Humboldt'sches Kunst- und Literaturverständnis und strenge Wissenschaft nicht wirklich vertragen. Als Autor der wundersamen Erzählung vom "Peter Schlemihl" – jenem Mann, der seinen Schatten verkauft – hat sich Chamisso im sich professionalisierenden Wissenschaftssystem angreifbar gemacht. Weniger seine frühen Gedichte, aber gerade diese erfolgreiche Novelle ließen ihn in den Augen vieler als "wissenschaftlichen Märchendichter" erscheinen – zumal er mit der Metagenese der Manteltiere, jenem erwähnten Generationswechsel der Salpen, als Erster ein geradezu unglaubliches Phänomen im Tierreich entdeckte. Deshalb war er gerade in seinen Anfangsjahren als Botaniker bemüht, jede Grenzverletzung zwischen Literatur und Wissenschaft strikt zu vermeiden und es zu unterlassen, wie er sagte, "ästhetische Träumereien mit naturwissenschaftlichen Anschauungen zu vermischen."

Wir stellen also fest: Fantasie und Empirie, Literatur und Wissenschaft vertragen sich nicht wirklich; und auch bei Chamisso – anders als von Humboldt erhofft – finden wir nicht wirklich eine funkenschlagende Synthese der beiden Kulturen.

Könnte dies daran liegen, dass – erinnern wir uns an Salman Rushdie – die Literatur von möglichen Welten, realen wie irrealen, erzählt, während die Naturwissenschaft uns diese eine reale Welt zu erklären versucht?

Vielleicht kommen wir zur Beantwortung unserer Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wissenschaft, wenn wir in den Blick nehmen, was denn im Unterschied zur Literatur die eigentliche Aufgabe der (Natur-)Wissenschaft ist. Ehrungen wie diese heute sind immer ein besonderer Anlass diese Frage zu stellen; zumal sich eine solche Ehrung für einen Naturwissenschaftler auch als Aufforderung verstehen lässt, sich unsere Verantwortung bewusst zu machen, wie wir diese eine Geschichte der Welt erzählen.

Halten wir zunächst einmal fest, dass wir in einer Welt leben, die immer mehr von der Wissenschaft geprägt ist. Denken Sie an die vielen Dinge, die unser aller Leben, die unseren Alltag prägen – von Atom- oder Solarenergie bis zum Smartphone, vom Klimageschehen über mRNA-Impfstoffe bis zur Künstlichen Intelligenz. Wir brauchen Wissenschaftler, uns diese Welt zu erklären – idealerweise auch mit den Mitteln der Literatur.

Zwar hatte sich Chamisso auferlegt, die Fantasie aus der Wissenschaft zu verbannen. Und doch braucht es natürlich gerade in der Forschung immer auch eine feine Prise Fantasie. Denken Sie etwa an Alexander Flemings Entdeckung der Antibiotika, das Atommodell oder die Konfiguration der DNA-Superhelix – da war neben Befunden immer auch viel Fantasie im Spiel.

Und umgekehrt dürfen wir keinesfalls die Wissenschaft aus der Literatur verbannen; auch wenn die schreibende Zunft und andere Künste die Forschung nun vergleichsweise spät wiederentdecken. Der indische Autor Amitav Ghosh hat in einem Essay vor geraumer Zeit gefordert, dass mehr Autoren über das Klima als Menschheits­krise schreiben und insbesondere die erzählende Literatur des Westens sich den Auswirkungen des Klimawandels widmet sollte. Immerhin seien die Klimaereignisse unserer Zeit, wie er es nannte: "Destillationen der gesamten Menschheitsgeschichte". Seitdem haben Schriftsteller unterschiedlicher Couleur – darunter etwa der Vogelliebhaber Jonathan Franzen oder der studierte Literat T. C. Boyle – die geforderte literarische Behandlung nachgeholt (oftmals in Form von "CliFi", dem neu entstandenen Genre der "Climate Fiction").

Inzwischen können wir konstatieren, dass längst zu viele nur über das Klima und seine Auswirkungen schreiben. Ich möchte dagegen – wenig überraschend für einen Biosystematiker und damit auch Biodiversitätsforscher – daran erinnern, dass wir mit der Biodiversitätskrise, landläufig Artensterben genannt, eine mindestens ebenso große Bedrohung vor uns haben, die den meisten Menschen aber, anders als der Klimawandel, in ihrer Dimension und Dynamik noch weitaus weniger bewusst ist. Wir leben in einer Welt, in der die Natur rapide aus unserem Leben schwindet, weil wir ihr keinen Raum mehr lassen. Für mich ist dieser dramatische Verlust und Verfall der Arten und ihrer Lebensräume tatsächlich die wahre Krise des 21. Jahrhunderts. Und auf sie gilt es mit allen Mitteln aufmerksam zu machen – etwa, indem wir diese eine Geschichte des Lebens erzählen.

Daher freue ich mich, als Naturwissenschaftler und als Vermittler von Wissenschaft, über den heutigen Preis. Preise sind immer auch Vertrauensspender – in diesem Fall in die Bemühungen zur Vermittlung von Wissenschaft. Ich verstehe diese Ehrung daher als Ermutigung und Ermunterung zur weiteren Kommunikation. Hier aber muss ich diese mit einem letzten Gedanken schließen.

Zwar lebt Wissenschaft ohnehin vom Wissenstransfer; Wissenschaft ohne Kommunikation ist keine. Zum Forschen gehört ganz unmittelbar die Kenntnisgabe und mehr denn je auch die Überprüfung des Neuentdeckten und des Mitgeteilten. Denn als Wissenschaftler ist es zum einen unsere Aufgabe, Fakten zu erforschen und Befunde zu ermitteln, zum anderen aber auch diese Tatsachenfeststellungen auf den Tisch zu legen und zu vermitteln. Keinesfalls dürfen wir dies allein anderen überlassen.

Doch längst geht es nicht mehr nur darum, die Welt im Licht der neuesten Wissenschaft zu erklären. Immer wichtiger wird es, auch den Wissens-Prozess sichtbar zu machen – also zu zeigen, wie Wissenschaft funktioniert. Über die Vermittlung von Wissen gewinnt die Wissenschaft Ansehen; über die Aufklärung der Wissens-Wege aber gewinnt sie das in sie gesetzte Vertrauen. Das ist die aktuelle Aufgabe gerade der Naturwissenschaft – und zugleich ihre große Herausforderung.

Matthias Glaubrecht


Matthias Glaubrecht (RC Hamburg) ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des geplanten neuen Hamburger Naturkundemuseums (Evolutioneum) am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels.

Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung der Dankesrede zur Vergabe des Sigmund-Freud-Preises 2023 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und wurde feierlich in Darmstadt verliehen.