https://rotary.de/gesellschaft/zuhause-ohne-vaterland-a-8109.html
Schwierigkeiten mit dem Heimat-Gefühl

Zuhause ohne Vaterland

Gedanken zur Identität unserer Gesellschaft, die sich nicht nur in diesen Tagen auf dramatische Weise verändert, sondern auch in der Vergangenheit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterlag.

Jochen Schimmang30.09.2015

Von Peter Härtling gibt es einen Roman mit dem schönen Titel „Nachgetragene Liebe“, der sich seinem Vater widmet. Das Verhältnis von Teilen meiner westdeutschen Generation und vielleicht auch noch der nachfolgenden zur alten Bundesrepublik Deutschland ist ein klassisches Beispiel solch nachgetragener Liebe. In den vierzig Jahren ihrer Existenz war diese Republik ganz gewiss kein Identifikationsobjekt. Den Rechten und Konservativen oder denen, die man so definierte, war sie zu bescheiden, zu wenig großdeutsch und zu westlich. Die besondere Ironie bestand darin, dass es gerade der streng konservative Kanzler Konrad Adenauer war, der diese „Verwestlichung“ unerbittlich vorantrieb, auch gegen seinen „nationalen“ Antipoden aus der Sozialdemokratie, Kurt Schumacher.

„Adenauersche Linke“

Den Linken oder denen, die sich dafür hielten, war die alte Bundesrepublik zu reaktionär, zu spießig, nicht reformfähig und deshalb dringend revolutionsbedürftig. Diese Sicht hatte zumindest das für sich, dass bestimmte Mentalitäten und Praktiken aus der Zeit des Nationalsozialismus ungebrochen fortwirkten, vor allem im Bereich der Erziehung und des Verhältnisses zur Obrigkeit. Diese Linken hatten immerhin die Ausweichmöglichkeit des sehnsuchtsvollen Blicks nach Westen, wobei Frankreich lange Zeit an erster Stelle stand, bevor es durch die Beatles und die Rolling Stones von London abgelöst wurde. 1968 – hier als kulturelle Chiffre und nicht so sehr als politische Bewegung verstanden – „hat dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, überhaupt erst bewohnbar gemacht“, so die These von Hans Magnus Enzensberger in einem Interview mit der ZEIT   1995. Dem stimme ich zu.

Dann aber, angefangen mit dem Mauerfall, ging die alte Bundesrepublik unter. Das ist damals nur von wenigen bemerkt worden, weil der Blick naturgemäß gebannt nach Osten ging, in jenes unbekannte Land, das bald wahlweise „neue Bundesländer“, „Beitrittsgebiet“, „Ostdeutschland“ oder einfach „ehemalige DDR“ hieß. Nur die „westdeutschen Linken“ – es ist kein Zufall, dass ich mich hier ständig gezwungen sehe, die Begrifflichkeiten durch Anführungszeichen in Frage zu stellen – nur die westdeutschen Linken also hatten offenbar schon früh eine dumpfe Ahnung, ein diffuses Gefühl des Verlusts, den sie gerade erlitten. Mancher mag sich noch an den Skandal erinnern, den die damalige Frankfurter Kulturdezernentin Linda Reisch, geboren 1950, mit ihrem Satz auslöste: „Mit Leipzig verbindet mich nichts, mit der Toskana dagegen viel.“ Dabei gab diese Feststellung nur den Erfahrungsstand eines erheblichen Teils der Bundesbürger wieder. Erinnern mag man sich auch an den SPIEGEL-Artikel des damals erfolgreichsten deutschen Autors, Patrick Süskind, geboren 1949, der seine Fassungslosigkeit angesichts der kollektiven Räusche zum Ausdruck brachte und damit punktgenau das Empfinden jener Altersfraktion traf, der ich angehöre. Er endete so: „Ja, und ein wenig traurig bin ich, wenn ich daran denke, dass es den faden, kleinen, ungeliebten, praktischen Staat Bundesrepublik Deutschland, in dem ich groß geworden bin, künftig nicht mehr geben wird.“

Das ist lange her. Das sind die Stimmen der „posthumen Adenauerschen Linken“, wie der Historiker Heinrich August Winkler das zehn Jahre später in einem Interview genannt hat. Ein Begriff, der mir in seiner Kühnheit und Paradoxie ausgesprochen gut gefällt und in dem ich mich wiederfinden kann. „Adenauersche Linke“, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Die Bundesrepublik Deutschland gibt es übrigens immer noch, aber damit ist nicht mehr jener Staat gemeint, den die andere Seite (und manchmal auch wir selbst) gern mit BRD abkürzte. Einem solchen Abkürzungsstaat kann man erst eine gewisse Liebe, ja Zärtlichkeit entgegenbringen, wenn er verschwunden ist. Doch ist die Sehnsucht nach den Zeiten des rheinischen Kapitalismus, als es noch eine Deutsche Bundesbahn und eine Deutsche Bundes­post gab und die Läden abends um halb sieben schlossen, zwar nachvollziehbar und durchaus literaturfähig, aber selbstverständlich hätten die Modernisierungsschübe, die inzwischen über Deutschland hinweggegangen sind, uns auch unvermindert erreicht, wenn die Teilung bestehen geblieben wäre und wir noch heute in unserem „prächtig gedeihendem“ (Süskind) Bonner Provisorium leben würden.

Also wäre es an der Zeit, nun in der gar nicht mehr so neuen, größeren Bundesrepublik Deutschland mit den fünf neuen Bundesländern (das „Beitrittsgebiet“ ist inzwischen aus der politischen Terminologie verschwunden) anzukommen? Zu sagen: Hier bin ich zu Hause, dies ist mein Land, an dem ich Wohlgefallen habe? Kein Zweifel, dass vieles dafür spricht. Deutschland, das gewichtige Land im Zentrum Europas mit seiner enormen Wirtschaftskraft, verhält sich im Großen und Ganzen politisch vorbildlich: gemäßigt und ohne Großmannssucht. Seine Kanzlerin steht geradezu idealtypisch für diese Mäßigung. Auch die unnachgiebige Haltung des Bundesfinanzministers im Griechenland-Streit ist nicht als Großmachtpolitik zu sehen, sondern Ausdruck seines glühenden Glaubens an den Ordoliberalismus, dessen Sachwalter er ist. Hier handelt es sich nicht um Machtstreben, sondern um Ideologie und reine Lehre, eigentlich eher eine „linke“ Spezialität. Marx oder Hayek, das macht in der Intensität des Glaubens keinen Unterschied. Aber das reicht so wenig aus, das Bild des hässlichen Deutschen wiederauferstehen zu lassen, wie die Hasstiraden, Brand- und Mordanschläge gegen Flüchtlinge, die uns in diesen Wochen beschäftigen. Denn es sind nicht allein die wirtschaftlichen Perspektiven, die einen Großteil der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak besonders nach Deutschland streben lassen, es ist auch die Überzeugung, dass sie – neben einigen anderen Ländern wie Schweden – dort die besten Aussichten haben, menschlich behandelt zu werden.

Warum also fällt es mir und vielen Anderen meiner Generation schwer zu sagen, dass ich mich in diesem so zivilisierten, ja freundlichen Land vorbehaltlos zu Hause fühle? Warum stören mich, der ich ein glühender Fußballfan bin, trotzdem anläss­lich von Welt- und Europameisterschaften die Fanmeilen mit ihren überwiegend jugendlichen Fans in Schwarzrotgold, die gar nicht mehr wissen, wie dieses Land vor 1990 ausgesehen hat? Warum mag ich dieses Land am liebsten vom ICE-Fenster aus, wenn die Landschaft und die Orte an mir vorbeifliegen, oder als lokale Folklore und Hintergrund von mittelmäßigen Krimiserien im Fernsehen?

Optimistische Perspektiven

Dafür gibt es vermutlich zwei Gründe, die eng zusammenhängen. Auf der Ebene der äußeren Erscheinung sind die Ungleichzeitigkeiten zwischen den verschiedenen Regionen des Landes manifest. Entgegen aller Festreden ist die deutsche Einheit keineswegs hergestellt, und der Riss zwischen den „alten“ und den „neuen“ Bundesländern ist nach wie vor deutlich sichtbar. Die 1989er-Rufe nach „Deutsch-land-ei-nig-Va-ter-land!“, die Patrick Süskind in seinem SPIEGEL-Artikel so befremdet haben, sind keineswegs Wirklichkeit geworden. Das hängt damit zusammen – und hiermit komme ich zum zweiten Grund –, dass der Begriff der Nation und des Nationalen nach 1989 einerseits einen großen Wiederaufschwung erlebt hat, in den mittel- und osteuropäischen Ländern zumal, dass aber seine Definition dort – und eben auch in der „ehemaligen DDR“ – weitgehend den völlig antiquierten ethnischen Kriterien des neunzehnten Jahrhunderts folgt. Das hat in unserem Land die bekannten „national befreiten“ und „doitschen“ Folgen gezeitigt und zeigt seine hässlichste Seite gerade jetzt wieder angesichts der Flüchtlingsströme. Gleichzeitig kann die ordoliberale Ideologie, die heute in „Europa“ (=EU) zwingend verbindlich ist, nationale Barrieren und Besonderheiten überhaupt nicht gebrauchen, was die Entfremdung zwischen den „Eliten“ und dem „Volk“ noch verschärft.

Der westdeutsche Bürger meiner Generation, der ungefähr so alt ist wie die Bundesrepublik (ich bin sogar noch ein wenig älter und ein Kind der britischen Zone), ist sowieso ohne den Begriff des Nationalen aufgewachsen. In der Ära vor der BRD war Deutschland gerade einmal 74 Jahre nationalstaatlich organisiert und endete in einer Katastrophe; seit 1990 gibt es wieder den Nationalstaat Deutschland, durchaus mit der erfreulichen Perspektive, diesmal nicht zwingend auf die Katastrophe zuzusteuern. Das ist begrüßenswert, so wie auch die Bonner Republik in ihrer Mäßigung und Bescheidenheit begrüßenswert war. In vielen Teilen dieses Landes fühle ich mich zu Hause, auch wenn der ICE anhält und ich aussteige. Mit einigen wenigen verbindet mich eine stille Zuneigung und zärtliche Liebe. Andere sind mir fremd und werden es vermutlich auch bleiben, wobei die Fremdheit nicht unbedingt nur entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze verläuft. Bis heute bin ich, aus einer eigenartigen Scheu heraus, nicht in der Heimat meines Vaters gewesen, der 1987 gestorben ist und aus der Niederlausitz kam, aus Spremberg, sorbisch Grodk. Ihm trage ich meine Liebe bis heute nach. Vaterländische Gefühle entstehen dabei aber nicht. 

Jochen Schimmang

Jochen Schimmang ist Schriftsteller und Publizist. 2009 erschien  „Das Beste, was wir hatten“, ein Roman über die letzten Jahrzehnte der Bonner Republik (Edition Nautilus). Vor kurzem erschien „Christian Morgenstern. Eine Biografie" (Residenz Verlag).

www.residenzverlag.com

Weitere Artikel des Autors

3/2014 Dichtung von subversiver Kraft