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Zu Besuch auf Deutschlands einziger Polio-Station

Im Kampf gegen eine fast vergessene Krankheit

Die Kinderlähmung ist in Deutschland verschwunden, trotzdem ist die Koblenzer Polio-Station ständig ausgebucht: Rund 70.000 Menschen leiden an Folgeschäden dieser Krankheit.

Matthias Schütt31.01.2016

Irina Schultheis sucht ihr Taschentuch. Das Gespräch über ihre Polio-Geschichte belastet die zierliche 46-Jährige stärker, als sie zeigen mag. Die Krankenschwester stammt aus Kasachstan, lebt seit vielen Jahren in Deutschland, und das Thema Kinderlähmung (im Fachjargon: Poliomyelitis; kurz: Polio) war für sie abgeschlossen, seit sie die Krankheit als Kleinkind überstanden hatte. Es waren ja keine Symptome geblieben, keine sichtbaren jedenfalls. Jetzt aber empfindet sie die neue Diagnose wie eine Drohung: Post-Polio-Syndrom (PPS). Das ist eine Folgeerkrankung, die oft erst Jahrzehnte nach der Polio-Infektion eintritt. Seit Jahren schmerzen Irina Schultheis immer wieder die Beinmuskel; in letzter  Zeit sind die Schmerzen heftiger geworden. Zwar glaubte sie nicht an Spätfolgen ihrer Polio, hat sich aber zum Check-up auf die Polio-Station im Brüderhaus Koblenz des Katholischen Klinikums Koblenz-Montabaur einweisen lassen.

»An PPS stirbt man nicht«
Tage zwischen Hoffen und Bangen vor dem Urteil PPS. Für sie wäre das wie lebenslänglich, sagt Frau Schultheis, „weil es dann nicht mehr besser wird mit den Schmerzen“. Sie hat sich mit der Prognose bereits vertraut gemacht, schließlich ist sie selbst Krankenschwester.

Es wird viel gelacht auf dieser Station, und auch mal geweint, etwa wenn der allmähliche Umstieg in den Rollstuhl unvermeidlich wird. Auf dieser einzigen Spezialstation für Polio-Patienten in Deutschland geht es nicht um Leben und Tod. Die meisten kommen auf Termin, um zum Beispiel eine neue Orthese anzupassen, also ein Hilfsmittel zur Stabilisierung von Gliedmaßen. „An PPS stirbt man nicht“, erläutert Chefarzt Dr. Axel Ruetz (RC Koblenz), „wir kümmern uns darum, die Lebensqualität so gut wie möglich zu erhalten. Natürlich ist die Verschreibung eines Rollstuhls eine einschneidende Veränderung, aber sie ist auch eine neue Chance, am Leben teilzunehmen, wenn man sich mit Orthesen nicht mehr sicher fühlt.“

Obwohl die Kinderlähmung in Deutschland seit vielen Jahren verschwunden ist, kann Koblenz sich vor Anmeldungen kaum retten. Die 34 Betten sind auf Monate hinaus ausgebucht, auch die ambulante Sprechstunde des Chefarztes ist regelmäßig überlaufen. Rund 70.000 Menschen in Deutschland, schätzt Ruetz, leiden an Polio-Folgeschäden, etwa ein Drittel davon sind Zugewanderte. Die heimtückische Kinderlähmung, die Millionen Menschen getötet oder zu Krüppeln gemacht hat und die Rotary zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und weiteren Partnern seit 35 Jahren bekämpft – hier in Koblenz ist sie nach wie vor Tagesgespräch. Hier treffen Menschen aufeinander, die sich vor Einführung der Impfung Anfang der 1960er Jahre mit Polioviren infiziert hatten, die auch später auf einen Schutz verzichteten und erkrankten, bei denen die  Imfpung nicht anschlug oder sogar negative Folgen hatte. 

Viele sind zum dritten, vierten oder fünften Male hier. „Das schafft eine für ein Krankenhaus untypische enge Bindung zwischen den Patienten und uns“, sagt Krankenschwester Dagmar Schweitzer, und Oberarzt Randolf Comtesse ergänzt: „Die Arbeit entspricht viel mehr als auf anderen Stationen dem klassischen Bild des Arztes, der den ganzen Menschen in den Blick nehmen muss.“ Ein Patient sagt es so: „Hier werde ich verstanden und aufgefangen.“ Und immer wieder fällt das Wort „Demut“. Auch wer deprimiert den Verfall seiner Leistungsfähigkeit feststellen muss, findet immer noch einen Leidensgenossen, an dem er sich aufrichten kann.
Die familiäre Nähe erklärt sich aus den Krankheitsbiografien, die bei den meisten Polios, wie die Patienten hier heißen, ähnlich verlaufen. Sie sind oft im Alter zwischen 55 und 65 plus und nach den in den 60er Jahren üblichen Erziehungsmethoden aufgewachsen. „Meine Eltern haben mich getriezt, die Lähmung im Bein durch ständiges Training zu überwinden“, ist eine typische Aussage. Weil sie fit für die Leistungsgesellschaft werden sollten, haben sie die krankheitsbedingten Einschränkungen mit besonderem Ehrgeiz bekämpft – was ihnen heute im PPS-Stadium zu schaffen macht. Leistungsabfall, Muskel- und Gelenkschmerzen, Atemnot und weitere Beschwerden prägen jetzt den Alltag. Denn während in der Jugend der Ausfall der vom Virus geschädigten Nervenzellen von anderen Zellen aufgefangen wird, sodass sich die Lähmungen zurückbildeten oder zumindest stabilisieren ließen, verliert der Körper im Alter diese Fähigkeit zur Kompensation.

Das Kapital wird knapp
Die über Jahre extrem leistungsorientierten Patienten müssen jetzt lernen, mit den verbliebenen Kräften hauszuhalten. „Das ist wie bei einem Sparbuch“, erklärt Oberarzt Dr. Peter Niederle. „Das Guthaben ist die Leistungsfähigkeit, die jetzt unweigerlich abnimmt. Mit jeder Abhebung, also jeder Anstrengung bleibt weniger Kapital übrig.“ Ulf Jäger hat das bitter erfahren. Früher hat der 57-Jährige von Fußball bis Tennis keine sportliche Herausforderung ausgelassen, heute kommt er nur mit großer Mühe durch den Arbeitsalltag. Chefarzt Ruetz, der die Station seit 2009 aufgebaut hat, ist mit der Kinderlähmung groß geworden. Sein Vater infizierte sich nach dem Krieg als 20-Jähriger mit Polio. Die Berufswahl des Sohnes hat das nicht beeinflusst, aber in der Facharztausbildung zum Orthopäden stand ihm sein Vater des Öfteren vor Augen. Damals hörte der Sohn erstmals von PPS und erkannte viele Symptome wieder, die er zu Hause beobachtet hatte. Und er erkannte, dass sein Vater in den Kuren völlig falsch behandelt worden war. „Dort wurden Übungen angesetzt, die ihn extrem belasteten, sodass er nach der Rückkehr häufig stürzte und sich Brüche zuzog. Schon damals hätte man sehen können, dass er an einer typischen neurodegenerativen Erkrankung litt, die mit solchen Methoden jedenfalls nicht zu behandeln war.“

In Europa Spitze
Ruetz arbeitet sich intensiv in die Thematik ein, wird zum Polio-Fachmann und erhält 2009 von der rheinland-pfälzischen Landesregierung den Auftrag, ein Konzept für eine Polio-Station in Koblenz zu entwerfen. Ziel waren 15 Betten, um den geschätzten Bedarf im Bundesland abzudecken. Doch von Anfang an liefen Anmeldungen aus allen Teilen Deutschlands ein, was zum zügigen Ausbau der Station auf heute 34 Betten führte. Um den Bedürfnissen der Patienten optimal gerecht zu werden, wurden Mitglieder vom Bundesverband Poliomyelitis in die Pläne einbezogen. Was die Erfahrung mit Polio/PPS, Ausstattung und Behandlungsangebot betrifft, sieht der Chefarzt die Koblenzer Station auch im europäischen Vergleich in der Spitzengruppe. Ruetz und seine drei Kollegen sind Fachärzte für konservative Orthopädie, sie setzen vor allem auf Physiotherapie, Trainingstherapie und Schmerztherapie. Geduld mit sich selbst ist erste Patientenpflicht. Die schnelle Erschöpfung der Patienten erfordert eine zeitaufwendige Planung der notwendigen Leistungstests. In verschiedenen Nischen der Station sind Sitz-Ergometer installiert, an denen sie in Behandlungspausen trainieren können und Physiotherapeuten Laktatteste zur Ermittlung der Muskelbeanspruchung machen. Auch in der Turnhalle der Klinik sind die Polios immer wieder anzutreffen. Bei Ganganalysen per Video zum Beispiel wird in Gehtests bei normalem Spaziergangtempo ein Belastungsprofil der Füße erstellt, aber auch der subjektive und objektive Fitnessstand (Puls- und Sauerstoffmessung) ermittelt.

Über 300 Orthesen im Jahr
Gleich nebenan überprüft ein Orthopädietechniker bei einem Patienten, ob die vorhandene Orthese noch ihre Funktion erfüllt, wie sie gegebenenfalls optimiert werden kann oder ob eine neue notwendig ist. Für die Anpassung und das Training mit neuen Orthesen müssen die Patienten etwa eine Woche in Koblenz einplanen. „Wir bestellen über 300 Orthesen im Jahr, das dürfte der Spitzenwert in Deutschland sein“, schätzt Ruetz. Bei Kosten zwischen 2500 und 9000 Euro pro Orthese liegt das dafür vorgesehene Budget im Millionen-Euro-Bereich.

Der Chefarzt ist seit 2014 Mitglied im RC Koblenz. Der Kontakt kam zustande, als der Club sich zur Besichtigung der Station anmeldete. Als überzeugte Förderer von Rotarys Polio-Kampagne wollten die Mitglieder wissen, wie sie diese einzigartige medizinische Einrichtung unterstützen können. Auf der Station selbst sah Ruetz keinen Bedarf, wohl aber dort, wo Polio noch massenhaft verbreitet ist.

Nach einer Vortragsreise durch Nigeria hatte er mit Vertretern der Duderstädter Orthopädie-Firma Otto Bock, einem der weltweit führenden Fachbetriebe, ein Konzept für den Aufbau von Ausbildungswerkstätten im Bundesstaat Enugu entwickelt. Dort werden sich der Club und der Chefarzt demnächst nachhaltig engagieren, damit die vielen Opfer der Kinderlähmung auch in dem afrikanischen Land vom ärztlichen und orthopädietechnischen Know-how aus Deutschland profitieren können.