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Das Verhältnis des berühmtesten Thomaskantors zur Musikstadt an der Pleiße

Bach und Leipzig – eine Mésalliance?

Hans-Joachim Schulze15.03.2012

Sich erleichtert zurücklehnen konnten die mit der Wiederbesetzung des Thomaskantorats befaßten Leipziger Stadtväter in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur bei zwei Gelegenheiten: Im April 1723, als die beschwerliche Suche nach einem Nachfolger für den im Juni des Vorjahres verstorbenen glücklosen Johann Kuhnau endlich zum Erfolg geführt hatte, und im August 1750, als mit Gottlob Harrer ein Protégé des allmächtigen Premierministers Graf Brühl als neuer Stelleninhaber bereits feststand und die Ära des unbequemen Zeitgenossen Johann Sebastian Bach zu Ende gegangen war. In den Ratssitzungen von 1750 hagelte es spitze Bemerkungen wie „der Cantor an der Thomas Schule, oder vielmehr der Capell Director, Bach“ sei verstorben, „die Schule brauche einen Cantorem und keinen Capellmeister, ohnerachtet er auch die Music verstehen müste“, und „Herr Bach wäre zwar wohl ein großer Musicus aber kein Schulmann gewesen“.

Wohl nur durch Akteneinsicht hätte sich verifizieren lassen, daß der Name Bach erst kurz vor Weihnachten 1722 erstmals im Ratsprotkoll aufgetaucht und auch in der Folgezeit – ungeachtet einer auf Ratskosten absolvierten vielbeachteten Kantoratsprobe Anfang Februar 1723 – eher unter „ferner liefen“ verbucht worden war. Erst Anfang April konnte man sich dazu durchringen, mit dem Anhalt-Köthener Hofkapellmeister Johann Sebastian Bach einen Nichtakademiker und „bloßen Musicus“ zu berufen und diesem die Möglichkeit einzuräumen, bestimmte Unterrichtsverpflichtungen einem Vertreter anzuvertrauen. Wenige Tage später, am 22. April 1723, stimmten die annähernd dreißig Mitglieder des Ratskollegiums der Berufung zu und setzen das erforderliche Procedere in Gang, das Ende Mai mit dem förmlichen Dienstantritt seinen Abschluß fand.

Unklare Motive für den Wechsel

Was Johann Sebastian Bach veranlaßt hat, den Rang eines Hofkapellmeisters – wenn auch in einer relativ kleinen Residenz – mit der Stellung eines Schulkantors zu vertauschen, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Alle einschlägigen Argumente, die Eintrübung des Köthener Musikhimmels nach der Heirat des Fürsten mit einer angeblichen „Amusa“, eine gewisse Fluktuation in der Hofkapelle, religiöse Konflikte zwischen Reformierten und Lutheranern im Anhaltischen, die günstigeren Ausbildungsmöglichkeiten für die Bach-Söhne in einer größeren Stadt, liefern doch nur Teilaspekte und ließen sich gegebenenfalls leicht entkräften. Waren es also die Versprechungen bezüglich der Arbeits- und auch der Verdienstmöglichkeiten in der Leipziger Stelle, oder war es schlechthin die Anziehungskraft der Stadt?

Ein früherer Aufenthalt Bachs in Leipzig im Dezember 1717 zwecks Begutachtung der neugebauten Orgel in der Universitätskirche St. Pauli war zeitlich mit einem Aufbruch zu neuen Ufern zusammengefallen: Der hartnäckig erkämpften Entlassung aus den Diensten des Weimarer Hofes war der ersehnte Aufstieg in die Position eines Hofkapellmeisters gefolgt. Ob der möglicherweise auf der Durchreise absolvierte Kurzbesuch Bachs allererste Begegnung mit der florierenden Messe-, Handels-, Buch- und Musikstadt war, bleibt freilich ungewiß. Was ein halbes Jahrhundert später das Staunen des jungen Goethe hervorrief, dürfte allerdings auch den nachmaligen Thomaskantor bereits beeindruckt haben: Das kompakte, geschlossene Stadtbild mit seinen vielen prächtigen, Einflüsse von Italien bis zu den Niederlanden spiegelnden, aber auch Züge eines spezifischen „Leipziger Barock“ ausprägenden Neubauten, das bunte Treiben in den Straßen, insbesondere zu Meßzeiten, die Vielfalt in Handel und Gewerbe, das akademische Leben, die Aktivitäten auf den Gebieten von Literatur, bildender Kunst und Musik, nicht zuletzt der Buchhandel mit seinem konkurrenzlosen Angebot an Neuerscheinungen und Antiquaria.

Unbestreitbar war eine solche Stadt auch ein bedeutendes Musikzentrum. Doch was im 17. Jahrhundert noch durchaus praktikabel gewesen war und sogar der Herausbildung einer Art „Leipziger Stils“ in bestimmten Genres nicht im Wege gestanden hatte, erwies sich in der Folgezeit zunehmend als Hemmnis: Das Festhalten der Führungsschichten des Bürgertums an den noch aus dem ausgehenden Mittelalter überkommenen Organisationsformen, die geringe Risikobereitschaft hinsichtlich der Schaffung neuer Institutionen, das Vorherrschen des Amateurs als Konsequenz.

Das angesehene, wenngleich relativ gering besoldete und nur mittels permanenter hektischer Aktivität auch finanziell attraktiv zu gestaltende Thomaskantorat sowie die Zunft der Stadtpfeifer und Kunstgeiger bildeten die einzigen stabilen Musikinstitutionen der Stadt. Daß seit dem Auftreten Georg Philipp Telemanns in Leipzig zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Musikdirektorat der Neuen Kirche zu einer Gegenposition zum Thomaskantorat, zur Grundlage eines „Kontrastprogramms“ gegenüber der Musikpflege an Nikolai- und Thomaskirche ausgebaut wurde, hat Ursachen, die an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden können. Hier wie dort rechnete man mit der – möglichst unentgeltlichen – Mitwirkung musikbeflissener Studenten, einem Faktor, der in günstigen Fällen zu beachtlichen Leistungen führen konnte, infolge der unausbleiblichen Fluktuation jedoch die Instabilität zum Prinzip erhob.

Konfliktpotentiale, und nicht nur struktureller Art, waren insoweit allenthalben vorhanden. In welchem Maße die Kantoratsbewerber von 1722/23 hiervon unterrichtet worden waren, entzieht sich in Ermangelung von Dokumenten unserer Kenntnis. Georg Philipp Telemann ließ im Oktober 1722 seine Hamburger Dienstherren wissen, daß die Leipziger Stelle bei vertretbarer Arbeitsbelastung ein Monatseinkommen von hundert und mehr Talern abwerfen werde. Den folgenden Kandidaten, Fasch, Graupner und auch Bach, dürfte der Regierende Bürgermeister ähnliche Avancen gemacht haben. Vielleicht wurde bei Vorgesprächen oder Privatkorrespondenzen auch das Fernziel erwogen, das Leipziger Thomaskantorat nach Hamburger Vorbild in Richtung auf ein städtisches Musikdirektorat zu erweitern.

Von dergleichen Zukunftsplänen, wenn sie denn jemals geschmiedet worden sein sollten, wäre am Ende wenig übriggeblieben. Ende Oktober 1730 beklagt der Thomaskantor Bach sich über ein Jahreseinkommen von nur 700 Talern sowie über allerlei berufliche Mißhelligkeiten, die ihn veranlaßten, nach einer anderen Arbeitsmöglichkeit Ausschau zu halten. Wenige Monate zuvor hatte er, vielleicht auf Anraten des kurzzeitig in Leipzig wirkenden befreundeten Thomasschulrektors Johann Matthias Gesner, dem Rat eine umfangreiche Denkschrift über die Organisierung, Stabilisierung und Finanzierung der Leipziger Kirchenmusik übergeben. Von einer Reaktion auf diese Demarche ist in den Akten nichts zu lesen. Statt dessen heißt es in zeitlicher Nähe, „es thue der Cantor nicht allein nichts, sondern wolle sich auch diesfals nicht erklären“.

Aus Zeugnissen dieser und ähnlicher Art hat die Nachwelt schließen zu müssen geglaubt, Bachs Leipziger Jahre seien unter den Auspizien einer „wunderlichen und der Music wenig ergebenen Obrigkeit“ Stationen eines permanenten Leidensweges gewesen. Außer acht gelassen wird bei diesem bequemen Denkmodell, daß das relativ reiche Material über Konflikte in Leipzig nicht zuletzt den – im Unterschied zur Situation anderer Wirkungsorte – weitgehend intakten Leipziger Archivbeständen zu verdanken ist. Eingaben und Beschwerden über wirklich oder scheinbar entzogene Einkünfte aus der Universitätsmusik, über Streitigkeiten mit dem Thomasschulrektor über die Entscheidungskompetenz bezüglich der Einsetzung von Präfekten des Thomanerchors oder über die Streichung von Gratifikationen für die bei der Kirchenmusik mitwirkenden Studenten gelten insoweit häufig als Belege schwerer existentieller Krisen, während vergleichbare Vorgänge in den der Leipziger Zeit vorangehenden Jahrzehnten gern als eher akzidentiell gewertet werden.

 

Letzten Endes führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß Johann Sebastian Bach für mehr als 27 Jahre in Leipzig verblieben ist – länger als an allen anderen Wirkungsstätten zusammengenommen – und hier ein Oeuvre geschaffen hat, das zwar keineswegs ungeschmälert auf die Nachwelt gekommen ist, dessen erhaltene Teile jedoch so gewichtige Beiträge umfassen wie die Passionsmusiken nach Matthäus und Johannes, die h-Moll-Messe, die Oratorien für Weihnachten, Ostern und Pfingsten, eine Fülle von geistlichen und weltlichen Kantaten, dazu Motetten, Choräle, Werke für Tasteninstrumente, Kompositionen für das studentische Collegium musicum. Entstanden ist das alles wohlgemerkt neben den täglichen dienstlichen Aufgaben, der Organisation und Durchführung der Musiken in kirchlichen, öffentlichen und privaten Räumen und insbesondere einer zeitraubenden Unterrichtstätigkeit für die offenbar überaus zahlreichen Privatschüler.

Insofern ist bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, daß Johann Sebastian Bach in Leipzig seinen Platz gefunden hat und in keiner anderen Stadt eine solche Ernte hätte einbringen können.