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Das edelste Grau

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Unter den insgesamt 1700 Kunstschaffenden, die im Archiv vertreten sind, finden sich 380 Frauen. Ein Schauregal widmet sich allein von Künstlerinnen geschaffenen Plastiken © Kevin Fuchs

Eine Reise ins Kunstarchiv Beeskow könnte Wunder wirken. Warum soll es nur mir so gehen?

Michael Hametner01.05.2024

Die Situation im Herbst 89 war euphorisch. Die Menschen wollten etwas Neues, und es war möglich. Denn das Experiment war gründlich gescheitert. Der Traum von der Gleichheit war geplatzt. Aber er muss doch Spuren hinterlassen haben, fragten sich einige, als sie das Neue angingen. Zum Beispiel in der Kunst. – So könnte man die Situation beschreiben, in der die Geburtsstunde des Kunstarchivs Beeskow schlug.

Die Situation (erst euphorisch, aber schnell verfahren)

2024, Das edelste Grau, hametner
Besucher bestaunen im Kunstarchiv Beeskow ein großformatiges Werk © Kevin Fuchs 

Das ist aber nur die Kurzfassung, und ihr fehlt ein Name: Besondere Leistungen in der Geschichte tragen immer den Namen einer Person. In unserem Fall ist es der von Herbert Schirmer. Er war über die ostdeutsche CDU bei der ersten und letzten freien Wahl zur Volkskammer in der DDR Kulturminister geworden. Er wusste aus seiner kurzen Zeit als Minister von Kunstwerken – Ölgemälden, Plastiken, Wandteppichen und anderen –, die als Auftragskunst entstanden und bezahlt worden waren und jetzt in öffentlichen Gebäuden herrenlos herumhingen oder herumstanden. In Wirklichkeit steht nirgendwo etwas herrenlos herum, und so verhält es sich auch mit der Kunst. Die Treuhand meldete sich. Lang und mühsam war der Weg, dieser Kunst einen neuen Besitzer zu verschaffen. Die ostdeutschen Bundesländer wurden die Besitzer. Aber Eigentum – das wissen wir – verpflichtet: zu Aufbewahrung, Präsentation und Erforschung. In diesem Moment bot Herbert Schirmer mit der Burg Beeskow seine Dienste an. Der Kunstbestand von Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern kam ab 1993 in seine Obhut und wurde zu dem, was heute das Kunstarchiv Beeskow ist: 17.000 Werke der bildenden Kunst, darunter 1500 Gemälde, und 1500 Arbeiten der angewandten Kunst.

Man hätte sagen können: Jetzt, wo das Land weg ist, kann die in ihrem Auftrag entstandene Kunst auch weg. Georg Baselitz, geboren im Osten Deutschlands, hatte die Künstler aus der DDR gerade als Arschlöcher bezeichnet. Freie Kunst konnte die Auftragskunst jedenfalls nicht sein, sagten Kritiker wie Baselitz. Herbert Schirmer wollte das die Geschichte entscheiden lassen. Zusammen mit Monika Flacke vom Deutschen Historischen Museum und Wolfgang Patig, dem letzten Direktor des Kunstfonds der DDR, sammelte er die Objekte ein. Die mitteldeutschen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gingen eigene Wege, aber sie sicherten ebenfalls den Bestand.

Die Idee (wer Ideen hat, ist fein raus)

Wie sollte man mit der Auftragskunst der DDR, über der das Fatum des „Sozialistischen Realismus“ gleich doppelt zu liegen schien, umgehen? Weitsichtige wussten, dass man sie auf der Suche nach dem verlorenen Staat brauchen wird. „Ohne umfassende Forschung“, schrieb am 6. April 1994 Monika Flacke in der Süddeutschen Zeitung, „besteht die Gefahr, dass sich die Mauer im Kopf festigt statt auflöst.“ Irgendwie ist die Kunst aus der DDR doch auch ein Vermächtnis, sagten die Hüter damals und hatten recht. Noch heute bewegt die Kunst aus der DDR Gemüter und Auktionshäuser. Die einen so, die andern so. 2023 hat der Maler und Aktionskünstler Daniel Richter – auch bei Bildpreisen von einer Million Euro angekommen – die gegenständliche Bildsprache als „beschissenen sozialistischen Realismus, der einfach nach Westen gewandert ist“ bezeichnet. Der figürlich-gegenständliche Realismus, die Themen, die Weltanschauung gilt mit dem Ende der DDR als entsorgt, will Daniel Richter sagen. Auktionshäuser, die DDR-Kunst anbieten, erzielen aber fünf- und sechsstellige Preise. 2023 stellte eine Kunstkritikerin in der Berliner Zeitung ihren Bericht über die neueste Versteigerung eines Leipziger Auktionshauses unter die Überschrift: „Von wegen ‚minderwertig‘! Ost-Werke erzielen heute Höchstpreise“.

Die Urteile schwanken. Deshalb hieß und heißt die Grundidee des Kunstarchivs Beeskow: bewahren und erforschen. Nicht die Kunst aus der DDR aufhübschen, sondern sie sachlich bewerten. Sie nicht – wie im deutsch-deutschen Bilderstreit Anfang der 90er Jahre geschehen – in Stellung bringen gegen die DDR, den Realismus und das Prinzip der Auftragskunst.

Die Bilder (ein Erlebnisbericht) 

2024, Das edelste Grau, hametner
Zum Beeskower Bestand gehören auch 1500 Werke der angewandten Kunst und des Laienschaffens, unter anderem zahlreiche Kleinformate © Kevin Fuchs

Ich habe das Kunstarchiv in Beeskow besucht. Dort, wo einst eine Schule ihre Turnhalle hatte, lagern jetzt die Bilder. Es sieht aus wie in jedem Kunstdepot eines Museums. Die beiden Damen, die mich führen, sind Andrea Wieloch, die Chefin des Museums Utopie und Alltag, zu dem außer dem Kunstarchiv Beeskow das Museum für Alltagskultur in Eisenhüttenstadt gehört, und Dr. Angelika Weißbach als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Auf jeder herausziehbaren Wand werden, je nach Bildgröße, fünf bis zehn Bilder präsentiert, die ganz kleinen haben Extraregale. Ich bekomme Bilder zu sehen, bei denen mir die Augen wehtun. Die Frage „Was hat sich der Künstler dabei gedacht?“ gilt in diesen Fällen nicht seiner künstlerischen Bildsprache, sondern seiner Anpassung an den Auftraggeber. Viele „Hausgemeinschaften“ und „sozialistische Kollektive“, viele Porträts „stolzer“ und „strahlender“ Bau- oder Werftarbeiter bestätigen die Vorurteile gegenüber dem Sozialistischen Realismus als zutreffende Urteile. Ich sehe auf einem Bild des Rostocker Malers Karlheinz Kuhn eine bunt gemischte Gruppe Badender, wie es sie überall auf der Welt geben könnte. Bei ihm heißt das Bild hochtrabend: Solidarität. Dass Kuhn ein guter Maler war, zeigt ein zweites Bild von ihm, ein Topf mit Alpenveilchen. Dem Lesenden Arbeiter von Jutta Damme kann ich wenig abgewinnen, auch dem Porträt der Arbeiterveteranin Roberta Gropper von Fritz Duda nicht. Ich tippe ganz wahllos auf die Rollwände. Bald frage ich die beiden Hüterinnen erschöpft nach Bildern von Künstlern, die mir vertraut sind. Nenne ihre Namen, will wissen, ob sie etwa auch vor dem Auftraggeber kapituliert haben. Bernhard Heisigs Sohn Walter Eisler hat ein Großes Hochzeitsstillleben gemalt, von Lutz Friedel, langjähriger Freund, führt man mir seine Große Frierende und das einst zu einem Highlight der Dresdner Kunstausstellung gewordene Warten auf Grün vor. Man konnte das Bild ganz leicht DDR-kritisch deuten. – Mir fällt auf, dass viele Künstlerinnen und Künstler Stillleben und Landschaften abgeliefert“ hatten, so Gudrun Petersdorff, Albrecht Gehse und Frank Ruddigkeit. Altmeister Curt Querner hat sich selbstverständlich keine Propaganda abverlangen lassen, sondern den ersten Schnee gemalt und Sighard Gille einen Weidenhain im Havelland. Norbert Wagenbretts Paar schaut ziemlich gequält und keine Spur optimistisch auf den Betrachter. Ein über zwei Meter großes Neo-Rauch-Gemälde mit dem Titel Kreuzung gehört ebenfalls zum Bestand. Darauf vier Menschen auf einer Kreuzung, alle tragen die Züge des Malers. Der Verkaufswert des Bildes würde ganz sicher das Geld für eine weitere Planstelle erbringen, aber jeglicher Gedanke an Verkauf auch nur eines Werks ist ausgeschlossen.

Deutung (mein Irrtum)

Nach einer Stunde intensivster Bildbetrachtung ein Fazit? Ich muss vorsichtig sein, bin ja kein Kunstwissenschaftler. Aber ein Urteil fällt nicht schwer: Die Kunst, die in der DDR im eigenen wie im staatlichen Auftrag entstanden ist, unterscheidet sich in gute und in schlechte Kunst, und manches nennt sich zu Unrecht so. Ich begreife das Wort Machwerk neu. Das Gelungene zeigt eine Bildsprache, die mir aus der westdeutschen Kunst dieser Zeit auch geläufig ist. Mit einer Ausnahme: abstrakte Kunst. Die gab es in der auf den Realismus eingeschworenen Kunst des Ostens so gut wie gar nicht.

Die Kunst aus der DDR grundsätzlich unter Propagandaverdacht zu stellen und den Sozialistischen Realismus als ihr Synonym zu sehen, scheint mir falsch. Wer die DDR-Kunst für grau hält, sollte bedenken: Das Grau hat viele Zwischentöne und war oft genug ein ziemlich edles Grau.

Aussichten (und große Hoffnung) 

Ich war in die Falle gegangen. Mit Abstand von meinem Besuch in Beeskow wird es mir klar. Um Urteile kann es gar nicht gehen. Es geht um Sehen und Verstehen. Bemerkenswert, dass Monika Flacke, die Frau der ersten Stunde, schon 1994 über den Bestand der Auftragskunst geschrieben hat: „Die Kunst der DDR ist nicht auf einer Insel entstanden. Sollte der Blick nicht auf das gesamte 20. Jahrhundert gerichtet werden, würde eine Chance vertan, die Folgen einer 40-jährigen Teilung in kultureller Hinsicht zu überwinden.“ In der Erkundung der Vergangenheit liegt die Chance auf die Vollendung der deutschen Einheit. Noch gibt es kaum ein Museum in der alten Bundesrepublik, in dem Kunst aus Ost und Kunst aus West nebeneinandergehängt werden. Ihre westdeutsch sozialisierten und ausgebildeten Direktoren und Direktorinnen wissen von der Ostkunst viel zu wenig, um sich herausgefordert zu fühlen, dies zu wagen. Eine Reise nach Beeskow könnte Wunder wirken. Warum soll es nur mir so gehen?