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Vom „heiligen Vater“ zur Entsakralisierung des Amtes

Der Rücktritt als Bruch

Thomas Großbölting10.03.2013

Der Papst tritt zurück. Aus Benedikt XVI. wird wieder Joseph Ratzinger, aus dem Kirchenoberhaupt der Theologe, Priester und Gottesmann. Die Kräfte reichten nicht mehr für die Ausübung des Amtes, so hat der 85jährige die Welt wissen lassen – und kann sich mit dieser Begründung sicher sein, bei vielen Kommentatoren auf Verständnis zu stoßen. Nur allzu menschlich ist die Motivation für diesen Schritt: Die Gebrechen und Krankheiten des Alters lassen die Bürde des Amtes und die römischen Intrigen umso schwerer erscheinen. So viel Einsicht und Selbstbescheidung möchte man so manchem Konzernlenker oder Politiker wünschen.

Dieses spontane Verständnis aber rührt allzu sehr aus der Perspektive des Gefühligen, des Menschelnden und verfehlt damit den besonderen Charakter dieses Schrittes. Unabhängig von der Person Benedikts und seines Gesundheitszustandes ist die Abdankung des Papstes ein nahezu revolutionärer Akt in der katholischen Kirche. Dem Rücktritt kommt eine hohe symbolische Tragweite zu, stellt er doch einen Bruch mit dem Verständnis vom Papstamt dar, wie es sich spätestens seit dem 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Die erste öffentliche Reaktion aus dem Vatikan machte deutlich, welch grundstürzender Akt mit der Rücktrittserklärung einhergeht: Wie ein Blitz aus heiterem Himmel habe die Nachricht eingeschlagen, so ein Vatikansprecher. Hier tritt nicht irgendein Politiker, Aufsichtsratsvorsitzender oder Chefdirigent zurück, sondern das Oberhaupt der katholischen Kirche. Auch wenn das Kirchenrecht die Möglichkeit der Amtsaufgabe durchaus eröffnet, ist sie in der Moderne bislang nicht genutzt worden. Die besondere Aufladung des Papstamtes im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts hat einen solchen Schritt nicht zugelassen. Der Rücktritt bricht mit dem in den vergangenen 200 Jahren gewachsenen Amtsverständnis und hat damit das Potenzial, nicht nur den Charakter des Amtes grundlegend zu wandeln, sondern damit auch weit in den Katholizismus selbst auszustrahlen.

Vom Papst zum „heiligen Vater“

In Antike und Mittelalter war allen römischen Steuerungsversuchen zum Trotz die Weltkirche vielfältig und plural geblieben, auch der Einfluss der Hierarchie in die einzelnen Ortskirchen blieb verhältnismäßig gering. Erst das Konzil von Trient im 16. Jahrhundert schuf die Grundlagen für eine straffere Organisation und eine Vereinheitlichung von Theologie und ritueller Praxis. Im 19. Jahrhundert aber erfuhr dieser Trend seinen Höhepunkt. Mit modernen Mitteln wie den aufkommenden Massenmedien der Zeit organisierte sich ein tief religiös imprägnierter Protest gegen die Modernisierung. Dicht wie nie zuvor wurden lehramtliche Verkündigung, pastorale Praxis und katholische Lebenswelt in Einklang miteinander gebracht. Aus der Kirche des Ancien Régime, die vor allem auf den Adel und Großgrundbesitz gesetzt hatte, wurde binnen eines halben Jahrhunderts eine streng auf Rom ausgerichtete Massenorganisation. Im Zuge der Ultramontanisierung wurden die Glaubenssätze, die Kultformen und die Lebensvollzüge der Katholiken eng zusammengeführt und systematisch gerahmt von einer päpstlichen Lehre. Wie nie zuvor in der Geschichte der katholischen Kirche wurde das Leben des einzelnen Gläubigen in Einklang gebracht mit Lehre und ritueller Praxis. Auf diesem Fundament beruhen die volkskirchlichen Strukturen des Katholizismus in Deutschland bis heute.

Das Zentrum dieses Prozesses, in dem sich der Katholizismus gegen die Moderne selbst neu erfand, war das Papstamt, und das sowohl spirituell wie auch organisatorisch. Im Weltlichen bröckelten spätestens seit der französischen Revolution die Legitimation und die Macht der Könige und Kaiser. Mit der beginnenden Industrialisierung deuteten sich weitgehende Veränderungen an, die auch zeitgenössisch bereits erahnt wurden. Genau in Abwehr dieser Tendenzen etablierte sich in der katholischen Kirche ein Papstbild, das jeglicher Modernisierung entgegenstand und die Person des Papstes wie sein Amt sakralisierten.

Natürlich, das Selbstverständnis von der besonderen Vollmacht und der Autorität über die Bischöfe umgibt das Papsttum spätestens seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. Immer wieder in der Kirchengeschichte hat die Idee des Primats und dessen Auslegung eine Reihe von Kontroversen provoziert. Die folgenreichste Auseinandersetzung ist sicher die Reformation und die damit verbundene Kirchenspaltung.

Aber erst mit dem Anbruch des 19. Jahrhunderts gewann das Amt der Petrusnachfolge die Prägung, die den Rücktritt Benedikts heute so ungeheuerlich erscheinen lässt. Der Papst avancierte vom Ersten unter den Gleichen in der Versammlung aller Bischöfe zum Nachfolger Petri und zum Stellvertreter Gottes auf Erden – und das nicht nur in der Theologie, sondern vor allem in der Volksfrömmigkeit der Zeit. Das Bild von der bösen klerikalen Clique, die ihre Herrschaftsinteressen durchsetzte, geht an der historischen Entwicklung völlig vorbei. Der französische Publizist Alexis de Toqueville beschrieb 1856 nach einer Reise durch Frankreich und Deutschland, dass es die Gläubigen selbst wären, die den Papst dazu drängten, „absoluter Herrscher zu werden“. In zahlreichen Treuegelöbnissen, Zustimmungsadressen und öffentlichen Huldigungen brach sich die Papstverehrung Bahn. Die Rompilgerfahrt wurde zur wichtigen Attraktion, die Massenaudienz beim „heiligen Vater“ zum Höhepunkt der Reise. Insbesondere für Deutschlands Katholiken, die sich im Kulturkampf der Angriffe des liberalen preußischen Bürgertums zu erwehren hatten, wurde der Papst zum Symbol des Ringens mit den Widerfährnissen der Modernisierung.

Ihren Höhepunkt fand die ultramontane Zuspitzung von Kirche und Theologie im Ersten Vatikanum in den Jahren 1869 und 1870. Dieses Konzil zementierte die monarchische Stellung des Papstes: Unter dem Stichwort des Iurisdiktionsprimats schrieb es dem Papst die höchste Rechtsgewalt und die bedeutendste Lehrvollmacht in der gesamten Christenheit zu. Das Dogma von der Infallibilität erklärte die Unfehlbarkeit der päpstlichen Verkündigung, wenn sich der Papst als „Lehrer aller Christen“ in Glaubens- und Sittenfragen äußerte. Ein deutlicheres Signal gegen Liberalismus und Moderne konnte man nicht aussenden. Der Papst wurde zum Oberhaupt einer streng auf Rom hin orientierten Massenorganisation und gleichzeitig zum Objekt einer überbordenden religiösen Verehrung. „Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land“, in diesem wie auch vielen anderen Liedern brachen sich Kirchenfrömmigkeit und Papstbegeisterung Bahn. Mit dem Amt entrückte sein Inhaber dieser Welt mehr und mehr.

Der Rücktritt und seine Bedeutung

Von der relativ geschlossenen katholischen Lebenswelt ist heute wenig geblieben. Kolping-Verein, Katholische Arbeitnehmerbewegung und die vielen anderen Organisationen fungieren eher als Traditionsverwalter denn als aktive Gestalter des kirchlichen Lebens. Die vormals so mächtige Zentrumspartei als die politische Sachwalterin der katholischen Interessen ist schon vor Jahrzehnten in der überkonfessionellen CDU aufgegangen. Auch die Kirche selbst hat sich neu orientiert: Das Zweite Vatikanische Konzil in den Jahren zwischen 1962 und 1965 war der Versuch, die vielen gegen die Welt errichteten Mauern einzureißen und ein Aggiornamento, eine „Verheutigung“ zu wagen.

Und der Papst? Johannes XXIII., der als Vater der Konzilsidee zumindest symbolisch am Bild des heiligen Übervaters kratzte, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Keinem anderen kirchlichen Würdenträger aber wurde so vehement widersprochen wie seinem Nachfolger Paul VI. Mit seinem rasch als Pillenenzyklika bekannt gewordenen Lehrschreiben „Humanae Vitae“ stieß er auf so viel Unmut, dass selbst ein Forum des Katholikentags eine öffentliche Resolution verabschiedete und die Zurücknahme der päpstlichen Bestimmungen forderte. „Wir sind Papst“ – die Schlagzeile der Bild-Zeitung aus dem Jahr des Amtsantritts Benedikts war allenfalls ein Mediencoup, einen nachhaltig stabilisierenden Effekt für die volkskirchlichen Strukturen hatte der deutsche Papst nicht. Im Gegenteil: Zeit seiner Amtsführung hat Benedikt nach anfänglicher Begeisterung eine Reihe von Unmuts- und Protestaktionen ausgelöst, die die Zerrissenheit des deutschen Katholizismus deutlich zeigen. Der „heilige Vater“ wurde von einer Identifikationsfigur zum Streitobjekt.

Diese Entwicklung zeigt eines deutlich: Der Katholizismus kann nicht mehr von der Sakralisierung seiner Organisation und vor allem seiner Spitze zehren. Die bedingungslose Verehrung des Papstes, von der sich dann auch eine besondere Stellung der Bischöfe und des Klerus ableiten ließe, gehört der Vergangenheit an. Auch wenn einzelne Bischöfe mit einer besonders repräsentativen Selbstdarstellung noch auf die Haltung der besonderen Verehrungswürdigkeit setzen wollen, so zeigen sich doch die Katholiken davon weitgehend unbeeindruckt oder kritisieren offen den demonstrativen Einsatz von Statussymbolen wie schweren Dienstwagen und Privatkapellen.

Johannes Paul II. hat in seinem öffentlichen Sterben das Leiden Christi imitiert und damit die sakrale Idee vom Papsttum noch einmal auf das Stärkste demonstriert. Benedikt hat seinen Rücktritt angekündigt. Damit hat er nicht nur mit dem Stil seines Vorgängers gebrochen, sondern auch mit der päpstlichen Selbstrepräsentation der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte.
Thomas Großbölting

Prof. Dr. Thomas Großbölting, RC Münster-St. Mauritz, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Werken gehören „SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit, und Entbürgerlichung in Halle“ (Mitteldeutscher Verlag) sowie „Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand (Chr. Links).
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