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Zur Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum

Ein vorchristliches Buch

Welche Bedeutung hat das Alte Testament für die christliche Lehre? Anmerkungen zu einer Debatte, die die Grundlagen unserer Kultur berührt.

Notger Slenczka15.06.2015

Um die ‚kanonische Geltung‘ des Alten Testaments wird in den evangelischen Kirchen und in der evangelischen Theologie gestritten. Die Diskussion hat sich an einem Aufsatz aus meiner Feder entzündet. Da auch mancher Fachkollege nicht versteht, worum es bei dieser Frage geht, will ich versuchen, das verständlich zu erklären. Es geht jedenfalls nicht darum, ob das Alte Testament seinen Platz in der Bibel behält, sondern es geht darum, welchen Stellenwert es darin hat – ob es in demselben Sinne und in derselben Weise kanonisch – normativ – ist wie das Neue Testament.

Dreifaltiger Gott

Ich beginne nicht gleich mit dem Alten Testament, sondern mit dem Trinitatisfest, dem Fest der „Heiligen Dreifaltigkeit“, das alle westlichen Kirchen in diesem Jahr am 31. Mai begangen haben und das die Reihe der nun folgenden Sonntage „nach Trinitatis“ bestimmt. Dass Gott einer in drei Per­sonen ist, wird da gefeiert.

Das Trinitatisfest fasst die Christus-Feste der ersten Hälfte des Kirchenjahres zusammen: Weihnachten, Karfreitag und Ostern sowie Pfingsten: Jesus von Nazareth und seine Gegenwart in der Kirche (Heiliger Geist) gehören zum Wesen Gottes, insofern ist Gott dieser: der Vater des Sohnes, der Sohn des Vaters und der Heilige Geist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht.

Die entsprechenden Lehren wurden im 4. und im 5. Jahrhundert durch Konzilien beschlossen; sie stehen so nicht im Neuen oder im Alten Testament. In diesen Lehrbeschlüssen fasst die Kirche aber zusammen, was sie in Jesus von Nazareth erfahren hat: dass sein Leben von der Geburt bis zum Kreuz nicht einfach das Leben eines Propheten ist, sondern dass in diesem Leben herauskommt, wer Gott ist. Markus legt diese Einsicht dem Hauptmann unter dem Kreuz in den Mund: „als er sah, dass er so (mit dem Ruf der Gottverlassenheit) starb, sagte er: dieser ist wahrhaftig Gottes Sohn gewesen“; das heißt: Für Markus gehört dieses Leben und vor allem dieser Tod in der Gottverlassenheit zu Gott selbst. Und Paulus nimmt das, vor Markus schon, auf; er zitiert im Philipperbrief (2,5-11) einen Hymnus, der aus den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Tod Jesu stammen dürfte: Jesus von Nazareth ist darin der Gottgleiche, der seine Gottesnähe aufgibt und am Kreuz stirbt; der dann von Gott auferweckt wird und mit dem „Namen, der über alle Namen ist“ beschenkt wird: mit dem Kyrios (Herr)-Namen, dem Gottesnamen des Alten Testaments. „Jesus ist der Kyrios“ – dieses älteste Bekenntnis gewinnt hier den Sinn: Jesus von Nazareth ist der Gott des Alten Testaments. Und Johannes, gegen Ende des ersten Jahrhunderts, setzt noch einen drauf (Evangelium nach Johannes, 1,1-14): In Jesus, sagt er, haben wir es mit dem „Logos“ zu tun, dem Schöpfungswort, das Gott am Anfang sprach. Dies „Wort/Logos“ identifiziert Johannes, wie auch der jüdische Philosoph Philo, mit dem Logos, der Schöpfungsvernunft der griechischen Philosophie: In Jesus von Nazareth kommt heraus, was der Sinn aller Wirklichkeit ist, denn er ist der Logos. Und dieser Logos ist nicht nur bei Gott, sondern Gott ist der Logos (Johannes 1,1-3), eins mit ihm, und doch als der Vater vom Sohn unterschieden.

Umbruch der Glaubenspraxis

Das ist alles theologische Reflexion. In ihr zeigt sich: Die ersten Christen, überwiegend Juden, versuchen mit der Erfahrung zurechtzukommen, die sie in der Begegung mit Jesus von Nazareth gemacht haben und die ihr Leben vollständig umgebrochen hat: Saulus wird zum Paulus, ist nicht mehr derselbe. In Christus erfahren er und die anderen Christen Gott, den Ursprung und das Ziel des eigenen Lebens. Aber diese Erfahrung sagt eben nicht nur etwas über Jesus von Nazareth aus – dass in ihm irgendwie der Gott des Alten Testaments ist. Sondern diese Erfahrung sagt auch etwas über diesen Gott des Alten Testaments aus: Dass er derjenige ist, der sich in einer ganz unerhörten Weise mit dem Leben und dem Kreuz Christi identifiziert: Er ist der Vater Jesu Christi, dieser Gott ist Jesus Christus. Die Texte des Neuen Testaments setzen das Alte Testament voraus – das ist völlig richtig. Aber sie nehmen eine radikale Neuinterpretation der alttestamentlichen Tradition vor und lesen sie von der Begegnung mit Jesus von Nazareth her. Es ist eine völlig neue Rede von Gott; aber Paulus sagt: nun erst habe er verstanden, wer da im Alten Testament spricht – und das heißt für ihn: die nicht glaubenden Juden verstehen es in seiner Gegenwart nicht (2 Korinther 3,12-18).

Die Christen formulieren diese neue Einsicht in das Wesen Gottes im Laufe der folgenden Jahrhunderte aus, bis hin zu den genannten trinitarischen Formeln. Aber sie setzen diese unerhörte Einsicht in das Wesen Gottes – Gott hat am Kreuz Jesu gelitten – nicht nur ins Verhältnis zur alttestamentlichen Rede von Gott. Im 4. und 5. Jahrhundert prägen überwiegend Griechen, nicht Juden, diese Lehren. Diese Griechen verbinden ganz ungewollt und umstandslos die Rede von Gott, die sie im Alten Testament finden, mit der philosophischen Rede von Gott, die sie aus der stoischen Popularphilosophie, im Neuplatonismus und natürlich von Aristoteles und Platon kennen: Für sie ist der Schöpfer des Alten Testaments ein und derselbe wie der unbewegte Beweger des Aristoteles oder der Stoa. Das bedeutet, dass nun das Alte Testament von der griechischen Philosophie her gelesen wird; und mit Bezug auf diesen Gott sagen die orthodoxen Theologen – durchaus vielstimmig – dass in Jesus von Nazareth und seinem Tod herauskommt, wer dieser Weltgrund, von dem alle Wirklichkeit herkommt, ist: Dieser leidensunfähige Gott leidet am Kreuz Christi und ist in der Kirche gegenwärtig; der erfahrene Geist und der gestorbene und auferstandene Jesus von Nazareth sind eins mit dem Vater, der die Welt schuf; und dies ist der Weltgrund des Aristoteles.

Gotteszeugnis

Damit zum Alten Testament: Die Christen verstehen von Anfang an die dort versammelten Texte neu: als Zeugnis von dem Gott, der sich mit dem Leben und Sterben Jesu Christi identifiziert hat; etwa: Der Gottesknecht, von dem Jesaja (52,13-53,12) spricht, ist eine Ankündigung Jesu von Nazareth; der Glaube Abrahams ist Glaube an Jesus Christus. Augustin findet in den ersten Versen der Bibel den dreieinigen Gott: den Vater, der durch das Wort schafft, und der Geist, der über den Wassern des Urmeeres schwebt. Und so fort: Das ganze Alte Testament ist Zeugnis für Jesus Christus und den dreieinigen Gott, und das Israel, von dem da die Rede ist, ist eigentlich die Gemeinschaft derer, die an Jesus Christus glauben – so die christliche Tradition bis  ins 20. Jahrhundert hinein, gerade beispielsweise Karl Barth.

Nun hat aber die Evangelische Kirche im Westen – in Deutschland insbesondere – unter dem Eindruck der Shoah begonnen, umzudenken. Sie ist dessen ansichtig geworden, dass sie mit dieser Neuinterpretation des Gottesverständnisses des Alten Testaments und mit dieser Relektüre der Schriften des Alten Testaments das Recht des Judentums, sich auf Gott zu beziehen, bestreitet. In vielen Kirchenordnungen wird als Folge einer langen Entwicklung festgehalten, dass der Bund Gottes mit Israel ungekündigt ist, dass Israel als Bundespartner nicht einfach durch die Kirche abgelöst ist, und dass das Alte Testament die Liebe Gottes zu diesem Volk und den Bund mit ihm bezeugt. Damit wird die traditionelle Bezugnahme der Kirche auf das Alte Testament fragwürdig: inwiefern kann man sagen, dass das Alte Testament Jesus Christus und den Dreieinigen Gott verkündigt, wenn man zugleich sagt, dass das Judentum das Alte Testament zu seinen Bedingungen – als Zeugnis von den einen und nicht etwa dreieinen Gott Israels – zu Recht liest?

Ein »vorchristliches Buch«

Mein Vorschlag, den ich im Anschluss an Schleiermacher, Harnack und Bultmann formuliert habe, ist dieser: Das Alte Testament ist ein vorchristliches Buch, Zeugnis der Religion, von der die ersten Christen herkommen, in der sie aufgewachsen sind, bis sie Jesus Christus, bzw. der Verkündigung von Jesus Christus begegneten. Das Alte Testament ist also nicht Zeugnis von Christus oder vom Dreieinigen Gott. Diese vorchristliche Gotteserfahrung wird dann in den Texten des Neuen Testaments nicht einfach aufgenommen und bestätigt, sondern wie eben beschrieben umgebrochen und neu gedeutet. Für die Christen heute ist das Alte Testament damit nicht Christuszeugnis oder Zeugnis vom Dreieinigen Gott, sondern Zeugnis der vorchristlichen Gotteserfahrung, die aber nicht nur dort formuliert ist, sondern die auch in philosophischen oder sonstigen gegenwärtigen Weltdeutungen zur Sprache kommt.

Das Alte Testament ist der „Platzhalter“ der vorchristlichen Gotteserfahrung, der Ausgangspunkt der Bewegung, die sich etwa bei Paulus durch die Begegnung mit Christus vollzieht: der Bewegung vom vorchristlichen Selbst-, Welt- und Gottesverständnis zu etwas ganz Neuem. Diese Bewegung hatte, wie geschildert, schon für die Theologen und Gläubigen der Alten Kirche nicht nur das Alte Testament zum Ausgangspunkt, sondern die griechische Philosophie, die sie in der Gottesrede des Alten Testaments wiedererkannten. Jeweils unsere vor- und außerchristliche Gotteserfahrung wird in der Begegnung mit der Verkündigung von Jesus Christus neubestimmt; das Alte Testament hat für uns seinen Wert darin, dass es uns Worte gibt, unsere Gotteserfahrung, die wir vor der Begegnung mit Christus machen, in Worte zu fassen: Dank für erfahrene Güte in unserem Leben; Erlösungsbedürftigkeit; Leiden unter Gott.

Und diese Erfahrung wird in der Verkündigung Jesu Christi neu bestimmt. Aber es bedarf dessen nicht, dass wir im Alten Testament nun diese neue, christliche, trinitarische Gotteserfahrung wiederfinden und damit dem Judentum das Recht bestreiten, sich auf das Alte Testament zu beziehen. Wenn es aber so ist, dass das Alte Testament nicht das Evangelium von Jesus Christus verkündigt, sondern die vorchristliche Gotteserfahrung in Worte fasst, dann hat es eine geringere normative Funktion in der Kirche, denn, wie die Barmer Theologische Erklärung in der ersten These sagt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, … dem wir … zu vertrauen … haben.“

Notger Slenczka
Prof. Dr. Notger Slenczka (RC Mainz-Nord) ist Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie Dogmatik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Werken gehört u.a. „Der Tod Gottes und das Leben des Menschen. Glaubensbekenntnis und Lebensvollzug“ (Vandenhoeck & Ruprecht 2003)

www.theologie.hu-berlin.de