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»Die Weisen aus dem Morgenland«

Europa und der Geist des Orients

In turbulenten Zeiten, in denen der Orient hierzulande vor allem mit Ängsten und Sorgen verbunden wird, erinnert uns die biblische Geschichte von den Heiligen Drei Königen an die langen kulturellen, religiösen und auch ökonomischen Verbindungen zum Nahen und Mittleren Osten.

Michael Borgolte15.12.2015

Massenmigrationen haben zeitgenössische Historiker als die Grundtatsache der europäischen Geschichte schlechthin bestimmt; auf der Zuwanderung fremder Menschen bei ihrer Suche nach einem neuen Lebensmittelpunkt und Wohnort haben bis zur Gegenwart die Vielfalt von Sprachen und Traditionen oder kultureller und politischer Identitäten unseres Kontinents überhaupt beruht. Argumente für diese Lehre zu finden, ist nicht schwer. Schon der zweibeinige home erectus kam aus dem Südwesten Asiens ebenso wie die Spezies des homo sapiens, die ihm überlegen waren und sich durchsetzten, aus dem Südwesten Asiens herbei. Neue Gruppen von Migranten führten vom Vorderen Orient über den Balkan und entlang der Donau vorstoßend auch die Errungenschaft der Agrikultur ein.

Wurzeln des Monotheismus

Europa oder der Westen konnte damit an einer Revolution partizipieren, die wohl der größte Umbruch der Menschheitsgeschichte überhaupt gewesen ist. Mit der Erfindung der Landwirtschaft sollen nämlich so elementare Phänomene verbunden sein wie die Erfindung der Arbeit und des Eigentums, das Aufkommen der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit, der endemischen Gewalt, des Städtewesens sowie die Konzeption und Realisierung des Imperiums verbunden gewesen sein. Auf gleichen Wegen vom Orient in den Okzident sind später auch die Offenbarungs- und Erlösungsreligionen Judentum, Christentum und Islam vorgedrungen, obschon dies nicht ausschließlich durch Migranten, sondern auch durch Reisende und Pendler beziehungsweise durch Diffusion, also die Kettenweitergabe von Mund zu Mund oder von Hand zu Hand, geschah; nicht christlicher Glaube und Kult allein, sondern die monotheistische Trias der abrahamitischen Religionen, hat dann die Geschichte Europas seit dem Mittelalter geprägt.

Mit dem Monotheismus in seinen drei Varianten löste sich Europa von den älteren Religionen der Griechen und Römer, aber auch der Germanen und der Anhänger der Naturverehrung. All diesen hatte die Vorstellung eines einheitlichen Kosmos zugrunde gelegen, in dem göttliche Wesen in größerer Zahl mit ihren besonderen Funktionen zu Erhaltung und „Betrieb“ des Weltganzen und zum Geschick der Menschen wirkten und dafür spezifische Kulte durch je eigene Gruppen genossen. Die Religionen des Eingottglaubens waren hingegen von der Erfindung der Transzendenz geprägt, der radikalen Trennung von Diesseits und Jenseits; in ihnen wurde das Heilige entrückt und die Welt, mit Max Weber gesprochen, „entzaubert“. Der Einzelne war nicht länger eingebunden in eine kosmische Kultgemeinschaft und musste die entstandene Kluft zwischen Hier und Dort selbst überwinden. Das war die Basis für den Glauben an den einen Gott, der seinerseits ethische Forderungen an jeden Menschen stellen konnte.

Der Monotheismus war aber nicht die einzige, sondern sogar eine eher späte transzendente Religionsform; diese manifestierte sich vielmehr auch im Dualismus rivalisierender göttlicher Mächte, die für das Gute und das Böse stehen, wie beim persischen Zoroastrismus, oder sie kommt gar, wie die Lehre des Buddha, ohne persönliche Gottesvorstellung aus.

Mit der Entdeckung der Transzendenz auf sich selbst verwiesen, erfuhr sich der Einzelne als Subjekt, Persönlichkeit und Individuum, also als je anderer zu seinen Mitmenschen. Kennzeichnend für sie wie für die anderen Religionssysteme derselben Art ist deshalb auch das Mitleid, das die antiken Römer und Griechen noch nicht kannten. Unter den Bedingungen der zerbrochenen kosmischen Einheit konnte der Mensch auch die diesseitige Welt als wandelbar erkennen, Utopien entwickeln und soziale Veränderungen bewusst herbeiführen; die transzendente Wende brachte also den Typ des Intellektuellen hervor. Neue kulturelle und soziale Ordnungsmodelle, die diese Denker entwickelten, konnten allmählich zu Leitlinien von regierenden und sekundären Eliten werden.

Das Wissen der Antike

Trotz ihrer ganz anderen religiösen Orientierung haben sich die Angehörigen der monotheistischen Religionen nicht gescheut, bald auch die „heidnische“ Überlieferung der griechischen Philosophie und Naturwissenschaften zu rezipieren, zu übersetzen, zu kommentieren und weiterzuentwickeln. An diesem fundamentalen Werk, das weit über Europa hinaus von Bedeutung wurde, haben Juden, Christen und Muslime gemeinsam gearbeitet, obwohl sie immer wieder untereinander über die Lehren der jeweils anderen in Streit gerieten. Eine entscheidende Voraussetzung für diese Symbiose und Kooperation lag in den frühen Eroberungen der islamisierten Araber; schon seit dem frühen 8. Jahrhundert hatten sie damit einen Kommunikationsraum von Spanien bis an den Indus geschaffen, in dem die Schiffe vom Mittelmeer über Nil/Rotes Meer bzw. Zweistromland/Persischer Golf zum Indischen Ozean verkehrten. Fast immer kam muslimischen Herren beim interkulturellen Wissensaustausch ebenso wie beim Fernhandel die Schlüsselrolle in der Ökumene zu.

Durch ihre Unterwerfung des sassanidischen Perserreiches und weiter Teile des Reiches von Byzanz in Vorderasien waren den Arabern die Texte der antiken Griechen in die Hände gefallen, oft schon in persischen oder syrischen Übersetzungen. Nach Damaskus avancierte Bagdad, die Hauptstadt des Kalifats, zwischen der Mitte des 8. und dem Ende des 10. Jahrhunderts zum Zentrum einer breiten und intensiven Übersetzertätigkeit. Stofflich konzentrierten sich die muslimischen Gelehrten auf Philosophie, Naturwissenschaft und Medizin. In der Philosophie waren sie so gründlich, dass sie im 10. Jahrhundert über den ganzen Aristoteles verfügten und von Platon einige Dialoge in arabischer Sprache hatten. Von den Medizinern, allen voran Hippokrates und Galen, erstrebten sie erschöpfende Textcorpora in ihrer eigenen Sprache, in der Botanik schätzten sie Dioskurides, in den Naturwissenschaften im übrigen Euklid, Archimedes und Ptolemaios. Wie in Byzanz ging die Aneignung der antiken Texte bei den Arabern mit der Abfassung eigener Traktate einher.

Studienreisen in den Orient

Fernhändler, Pilger (nach Mekka und Medina) und Gesandte, weniger Angehörige des Militärs, stellten intensive Verbindungen zwischen dem muslimischen al-Andalus, Sizilien beziehungsweise Nordafrika und Ägypten sowie Mesopotamien her. Sie schufen den Kanal, auf dem der arabisch transformierte Wissensstrom der Antike in den Westen gelangte, auch wenn daneben noch eine schwächere Transmission zwischen Konstantinopel und Unteritalien beobachtet werden kann. Córdoba, die Hauptstadt des spanischen Kalifats, nach dessen Zerfall kleinere Fürstensitze, vor allem aber rechristianisierte Zentren wie Toledo oder Saragossa, traten analog zu Bagdad in älteren Zeiten als Übersetzerzentren für lateinische Leser hervor. Zu diesem Zweck wurden gelegentlich kleine Teams gebildet, bei denen ein römischer Christ mit einem Juden oder einem arabisch akkulturierten Christen zusammenarbeitete.

Die in Spanien (und Sizilien) entstehenden interkulturellen Zentren der Wissenschaft zogen rasch auch die unruhigsten und wagemutigsten Geister aus dem nördlichen Europa an; der Ruhm der arabischen Wissenschaften verbreitete sich nämlich bis nach England. Einer, der „die Studien der Araber durchdringen“ wollte und dabei vor allem an Astronomie/Astrologie und Mathematik dachte, war Adelard von Bath. Auf seiner Studienreise ging er von der Normandie über Tours, Laon, Salerno und Sizilien bis nach Antiochia und Tarsus; 1130 ist er nach England zurückgekehrt. Ebenso wie Adelard genügten seinem Landsmann Daniel von Morley näher gelegene Bildungsstätten. Daniel lehnte Oxford und selbst Paris ab. „Weil die Lehre der Araber, die fast ausschließlich aus dem Quadrivium (den vier „naturwissenschaftlichen“ Fächern) besteht, in unseren Tagen am meisten in Toledo dem Publikum bekannt gemacht wird, eilte ich dorthin, um die weisesten Philosophen zu hören,“ so schrieb er später an einen Vertrauten. Auf seinem erzwungenen Heimweg (um 1187) nahm er eine Ladung kostbarer Bücher mit, vor allem der griechischen Philosophen, die er gegen den Kleinmut christlicher Theologen verteidigte.

Die arabisch-lateinische Übersetzungsbewegung, die von christlichen Reisenden oder Immigranten in Spanien gefördert worden war, hat entscheidende Grundlagen für den Aufbruch der hochmittelalterlichen Wissenschaft und Philosophie geschaffen, der in der neuen Lehreinrichtung der Universität, besonders in Paris, seinen institutionellen Rahmen finden sollte. Ohne diese Häuser der Wissenschaft, eine singuläre Erfindung der lateinischen Christenheit, ist aber auch der vielbedachte take off des westlichen Europas zur Moderne kaum vorstellbar. Allerdings wurden muslimische Lehrer und Studierende vom Besuch der Universitäten ausgeschlossen. Durch ihre Mitwirkung an den gelehrten Aktivitäten in Spanien hatten sich freilich auch die Juden Übersetzungen aus dem Arabischen in ihre Sprache(n) zugewandt; deshalb ereignete sich seit dem zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts in den christlichen Reichen der Iberischen Halbinsel ebenso die Erfindung einer eigenen hebräisch-sprachigen Wissenschaft. 

Michael Borgolte
Prof. Dr. Michael Borgolte ist Professor für Geschichte des Mittelalters und Leiter des Instituts für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen zahlreichen Arbeiten gehört u.a. „Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes“ (Siedler 2006) und  "Mittelalter in der größeren Welt. Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung" (Berlin 2014). www.geschichte.hu-berlin.de