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Die hebräische Bibel im jüdisch-christlichen Verhältnis – betrachtet durch eine jüdische Theologin

Gibt es ein gemeinsames Erbe von Juden und Christen?

Welche Bedeutung hat das Alte Testament für die christliche Lehre? Anmerkungen zu einer Debatte, die die Grundlagen unserer Kultur berührt.

Susannah Heschel15.06.2015

Zwiespältigkeit gegenüber der hebräischen Bibel verfolgt die christliche Theologie von Beginn an. Einerseits stellt die hebräische Bibel das Kernstück der Evangelien dar: Das Hauptinteresse von Jesus  besteht darin, ihre Bedeutung für die Juden seiner Zeit darzulegen. Die Stimme Jesu fundiert ihre Bedeutsamkeit auf der Überzeugung, dass Jesus die Prophezeiungen der hebräischen Bibel erfüllt. Für Jesus als Jude waren die Tora und die Propheten das heilige Wort Gottes, und es waren die Psalmen der Tora, die er betete. Um Jesus als „Christus“ anzuerkennen, was „Messias“ bedeutet, brauchen Christen die hebräische Bibel, in der definiert wird, was ein „Messias“ ist.

Jüdisches Unverständnis

Im Verlauf der gesamten Geschichte des Christentums jedoch bestand ein Ringen um die hebräische Bibel. Marcion wurde als Ketzer verurteilt, weil er behauptete, dass der Gott des Alten Testaments nicht der Gott des Neuen Testaments war, dennoch bestand lange Zeit ein fortbestehender Markionismus, der im Kern vieler christlicher Denker bis zum heutigen Tage nagt. Obwohl die hebräische Bibel offiziell das Wort Gottes für Christen ist, werden ihre Lehren oftmals unterschiedlich von jenen des Neuen Testaments verstanden. Die Lehren des ersten Teils der Bibel – der Glaube Abrahams, Moses und die Propheten – werden durch Christen allzu oft auf eine niedrigere Stufe gesetzt als jene Lehren von Jesus.

Für einen Juden, der das Christentum betrachtet, ist es verwirrend zu glauben, dass Jesus ohne die biblischen Lehren verstanden werden kann, die seinen Glauben formten. Manchmal scheint es, als ob die Christologie die Theologie verdrängte, als ob Jesus wichtig sei, aber nicht der Gott Israels, der Gott der Schöpfung, der Gott der Propheten und der Gott von Jesus. Warum würden sich Christen selbst der biblischen Lehren berauben? Wenn Christen das „neue Israel“ sind, wie Paulus behauptet, dann stammen auch sie von den Sklaven in Ägypten ab, die durch Gott im Exodus hervorgebracht und zum Berg Sinai und der Offenbarung von Gottes Tora geführt wurden.

Im Neuen Testament hören wir die Stimme Jesu, die Aufklärungen von Paulus und die Interpretation vieler Gesprächspartner: Jünger, Apostel, Lehrmeister, sowohl Juden als auch Nichtjuden. Dennoch macht wenig von dem, was sie sagen, ohne ein Verständnis der hebräischen Bibel Sinn. Gleichzeitig ist die Tora nicht einfach eine Grundlage für das Christentum, die existiert, um das Neue Testament zu bestätigen. Vielmehr ist die hebräische Bibel die heilige Schrift, das Wort Gottes. Der Glaube von Jesus liegt im Gott der hebräischen Bibel und den Lehren Gottes. Wie sonderbar ist es dann, dass ein christlicher Theologe wollen würde, eben jene Grundlage der eigenen Religion Jesus zu beseitigen.

Gemeinsame Nutzung durch Juden und Christen?

In der hebräischen Bibel hören wir die Stimme Gottes, die hinterfragt, befiehlt, fordert und liebt. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, „Denke daran, dass du selbst Sklave im Lande Ägypten gewesen bist, und behandle Fremde gerecht“, „Was fordert der Herr von dir? Tu Recht, befleißige dich der Liebe und wandle demütig vor deinem Gott“, „Gedenke des Sabbats und halte ihn heilig“ – dies sind einige der zentralen Lehren der Bibel, die für Christen ebenso heilig sein sollten, wie sie es für Juden sind. Allerdings hofften jüdische Theologen über die Jahrhunderte hinweg, dass die gemeinsame Nutzung der hebräischen Bibel mit Christen eine Brücke zwischen zwei Religionen bilden würde. Der bedeutende jüdische Philosoph und Rabbi des Mittelalters, Moses Maimonides, ermutigte Juden, die Bibel mit Christen zu studieren und die Auslegung der Lehren der Bibel zu diskutieren. Moderne jüdische Denker, von Abraham Geiger bis Hermann Cohen, betrachteten die klassischen Propheten als die wichtigsten Lehrmeister von Ethik und Monotheismus, die Grundlage nicht nur des Judentums, sondern, so argumentierten sie, ebenso des Christentums und des Islams.

In jüngerer Zeit wies der politische Theoretiker Michael Walzer darauf hin, dass die Darstellung des Exodus in der hebräischen Bibel jahrhundertelang als Inspiration für zahllose Bemühungen diente, Ungerechtigkeit zu überwinden und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Martin Luther King Jr. gab dem Exodus aus Ägypten und auch den Worten der Propheten, besonders Amos und Jesaja, eine zentrale Rolle in der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Wenngleich er ein Baptistenpastor war, zitierte Dr. King Jesus in seinen wichtigen Reden nicht, und zahllose Juden kamen in Scharen zur Bürgerrechtsbewegung, da sie auf der hebräischen Bibel basierte, die gemeinsam durch Juden und Christen genutzt wurde. Die Leidenschaft für Gerechtigkeit und Wahrheit, das enorme Mitgefühl von Gott für die Schwachen und Unbedeutenden innerhalb der Gesellschaft: das sind die Lehren der hebräischen Bibel, die die verhärteten Herzen des rassistischen Amerikas erweichten und eine Bürgerrechtsrevolution herbeiführten.

Die jüngste Forderung von Notger Slenczka, das Alte Testament aus der christlichen Bibel zu entfernen, ist eine wirklich traurige Erinnerung daran, dass die Annahme des Judentums durch die Christen noch nicht alle Christen erreicht hat. Allerdings wundere ich mich, ob unter einigen Christen ein Schamgefühl besteht, innerhalb des Judentums entstammt zu sein.

Jüdische Hoffnungen

Wenn man eine Generation zurückblickt, so gab es in der Tat christliche Theologen in Deutschland, die eine „Entjudung“ des Christentums forderten. Sie wollten das Alte Testament aus der Christlichen Bibel beseitigen und sie erklärten, dass Jesus kein Jude war, sondern ein Arier. Ihre Bemühungen waren absonderlich: Selbst als sie das Christentum von allem Jüdischen säubern wollten, bestätigten sie als Christen fortwährend jüdische Auffassungen und Grundsätze, indem sie Jesus schlicht „Christus“ nannten. In ihrer Bemühung, das Christentum mit Nationalsozialismus unter einen Hut zu bringen, erzeugten sie ein entjudaisiertes Neues Testament und Gesangbuch, bereinigten alle positiven Verweise auf das Judentum und alle hebräischen Worte, wie beispielsweise Halleluja. Jene christlichen Theologen, die die Bewahrung des Alten Testaments verteidigten, argumentierten oftmals, dass es kein jüdisches Buch sei, sondern ein anti-jüdisches Buch – und das war nicht die Art der Verteidigung, die man sich wünschen würde. Diese Generation ist vergangen, aber vielleicht bestehen einige ihrer Neigungen fort.

Aus einer jüdischen Perspektive würde ich hoffen, dass Christen erkennen würden, dass das Erforschen der hebräischen Bibel ihren Glauben vertiefen und stärken wird, dass die Lehren der Propheten sie motivieren werden, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, dass der Sabbat eine wichtigere Rolle im Leben von Christen spielen wird.

Die Hoffnung der Juden besteht darin, dass Christen ihre Aufgabe verstehen werden, den Gott der hebräischen Bibel zu den Nichtjuden zu bringen. Das Christentum wird gestärkt, nicht geschwächt, wenn die Grundfeste von Jesus eigenem Glauben angenommen wird. In der heutigen Zeit sollten Christen und Juden und Moslems anerkennen, dass religiöser Pluralismus Gottes Wille ist. Wir vertiefen unsere religiösen Bekenntnisse, indem wir Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Glaubens anderer zeigen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, auf unsere Verschiedenheiten zu bestehen, sondern anzuerkennen, wie sehr wir voneinander abhängen. Viel zu lange waren die Lehren der hebräischen Bibel in den Kirchen nicht vorhanden, und viel zu lange verweilte der Geist von Marcion am Rande der christlichen Theologie. Die gegenwärtige Generation von Christen sollte Sieger über Marcion sein und gemeinsam mit den Juden die Worte der Propheten, den Geist der Psalmen und den Gott Abrahams bekräftigen.