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Die emotionale und politische Wirkung Richard Wagners in Deutschland

Hass und Hingabe

Wagner-Szenen: Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten interpretieren Dirigenten und Bühnenregisseure die Musikdramen Richard Wagners für ihre jeweilige Zeit. Vor allem in Bayreuth wurde immer wieder mit dem Werk des Meisters gerungen. Unsere kleine Bildergalerie zeigt einige legendäre Inszenierungen aus den letzten Jahrzehnten.

Anlässlich des Jubiläums sind diverse CDs und DVDs erschienen, hier finden Sie eine kleine Auswahl zum Hineinhorchen.

Sven-Oliver Müller12.04.2013

Auf dem Titelblatt der Wochenzeitung Die Zeit vom 3.??Januar 2013 prangt das Konterfei des „Meisters“ neben der Schlagzeile: „Die Droge Wagner. Wer sich auf Richard Wagners Musik einlässt, verfällt ihr. Warum?“ Diese Frage lässt sich leichter stellen als beantworten. Richard Wagner ist vielleicht der einzige Komponist, über den die deutsche Gesellschaft bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Um Wagner gab es keinen Frieden, weil zahlreiche Musikfreunde, darunter große Teile der Elite in der deutschen Gesellschaft, keine Ruhe vor ihm haben wollten. Die „postume Karriere“ des Komponisten Richard Wagner im 20. Jahrhundert ist ein Ausdruck der politischen und kulturellen Entwicklungen in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit dem, was Friedrich Nietzsche den „Fall Wagner“ nannte, war in vielerlei Hinsicht eine deutsche. Oft scheint die Wirkungsgeschichte von Wagners Musikdramen von den Dramen der deutschen Geschichte nur schwer zu trennen zu sein. Monarchen und Politiker, Publikum und Intendanten, sie alle ließen seit dem ausgehenden 19.??Jahrhundert in ihrem Interesse für Wagners Musikdramen nie nach. Seine Präsenz in der deutschen Öffentlichkeit bis in die Gegenwart hinein ist erstaunlich und letztlich rätselhaft: Warum veränderten sich die Interpretationen von Wagners künstlerischem Werk so häufig, aber die politische und die emotionale Präsenz Richard Wagners so wenig in der an Umbrüchen reichen Zeit zwischen 1883 und 2013?

Die Aneignung seines Werkes stand in einem Wechselverhältnis von affirmativen Wiederholungen und kontroversen Neuschöpfungen. Vielleicht lag genau in diesem Spannungsverhältnis eine der Ursachen des Erfolgs. Der Wagner-Mythos hielt keine unverrückbaren Deutungen bereit, sondern funktionierte offenbar stets durch seine Vieldeutigkeit. Das Werk ließ sich nicht nur leicht weitererzählen, sondern auch den Veränderungen der deutschen Gesellschaft anpassen. Die historischen Versuche, den Rang Richard Wagners und die Botschaft seiner Kunst trennscharf zu bestimmen und mithin für eine bestimmte Deutung zu vereinnahmen, sind jedoch allesamt gescheitert.

Die dem Komponisten zugeteilten öffentlichen Rollen folgten größtenteils dem Wandel der deutschen Gesellschaft – und triumphierten und scheiterten mit ihr. In Wagners Werk lassen sich zentrale Merkmale des gesellschaft­lichen Wandels erkennen, der nicht nur das 19., sondern auch das 20.??Jahrhundert prägte: Herrschaft und Gewalt, Politik und Mi­gration, soziales Wachstum und neue Unübersichtlichkeit.

Aus einer kulturhistorischen Perspektive betrachtet gewann Wagner seine Bedeutung nicht nur durch die Produktion seines grandiosen Werkes, sondern auch durch die einzigartige Reproduktion des Komponisten in der Öffentlichkeit. Die Handlungsmacht des Publikums hat schon Friedrich Nietzsche erkannt, nachdem er sich vom Freund zum Feind Wagners gewandelt hatte: Pointiert schlussfolgerte er über den Wagner-Kult, es sei „der Wagnerianer Herr über Wagner geworden“.

Wagners Werk selbst vermittelt keine verbindliche Weltsicht. Seine Botschaft bleibt deutungsoffen und unbestimmt. Genau das aber ermöglicht einen Blick auf die zahlreichen, oft widersprüchlichen ­Rezeptionsweisen. Es gibt keinen abschließend zu bewertenden Wagner, keinen „wahren“ Wagner, keine Deutung, der nicht widersprochen werden kann. Der Regisseur Heinz Tietjen hatte mit seiner Bayreuther Lohengrin-Inszenierung 1936 ebenso „recht“ wie Christoph Schlingensief mit seinem Parsifal von 2004. Beide realisierten ein authentisches Stück originären Wagnertums.

Die Macht der Emotionen

Wagners Musik, seine Sprache, die Handlungen und Bilder der einzelnen Musikdramen bewirken damals wie heute starke Emotionen. Positiven Empfindungen wie Stolz, Glück oder Rausch standen negative Emotionen wie Wut, Scham oder das Gefühl des Verrats gegenüber. Wagners Werk bot offenbar zu viel, als dass es emotional eindeutig hätte begriffen werden können. Auch deshalb enthielt es so zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten. In der Rezeptionsgeschichte Richard Wagners wird deutlicher als wohl bei jedem anderen Komponisten, dass Emotionen im Musikleben auch als Strategien der Macht eingesetzt werden können. Sie oszillieren dann oft zwischen spontaner Reaktion und ausgeklügelter Absicht. Die in der Öffentlichkeit agierenden Wagnerianer waren oft versierte Experten mit einer großen Sensibilität für emotionale Interpretationen und die zu erwartenden Reaktionen des Publikums. Die Emotionen ihrer Gegner waren ihnen nicht nur nicht fremd, sie nutzten diese auch, um die Wünsche und die Ängste der Gegner zu treffen, ja um die musikalisch „Ungebildeten“ persönlich zu verletzen.

Der Weg der emotionalen Deutungen und Umdeutungen Richard Wagners ist ein Weg voller Hindernisse und Fallen. Der Politikwissenschaftler Udo Bermbach stellt ganz zu Recht die Frage, ob es nicht angemessen wäre, von einer „schiefgelaufenen Rezeption“ zu sprechen. Das bezieht sich nicht nur auf die nationalsozialistische Instrumentalisierung Wagners. Wahrscheinlich beging auch die demokratische Linke einen politischen Fehler, indem sie bis in die 1960er Jahre hinein Wagner bereitwillig dem nationalistischen und rechtskonservativen Lager überließ, ihn dann aber umso engagierter für sich beanspruchte. Was immer durch die Wagner-Rezeption des radikalen Nationalismus bis 1945 angerichtet worden war – nun spielte man unter grundlegend gewandelten politischen Strukturen in der Bundesrepublik und in der DDR dieselben Opern mit neuen ästhetischen und gesellschaftlichen Deutungen.

Die Uneinheitlichkeit der Wagner-Deutungen, die konkurrierenden Begründungen und die unterschiedlichen Praktiken derjenigen, die sich allesamt auf einen „wahren Wagner“ beriefen, sind das bestechende Merkmal der Wagner-Rezeption. Wagners Erfolg liegt womöglich darin, dass sich die verschiedenen Erwartungen, Interessen, Verhaltensmuster und Konsumgewohnheiten im Umgang mit seinem Werk und Wirken trotz oder wegen ihrer Diversität immer wieder auf ­gemein­same Nenner bringen ließen: auf Mythen, Nationalismen, ­Gefühle und nicht zuletzt auf das zum Guten oder Schlechten verklärte Genie. Im Konflikt lag immer auch eine Angleichung.

Musikalische Gesellschaftsgeschichte

Richard Wagner wurde auch an der Wende zum 21. Jahrhundert nicht zu einem Komponisten wie alle anderen. Bis heute besteht eine hohe politische Sensibilität bei seiner Bewertung. In öffentlichen Zeremonien, in Programmheften, im Feuilleton oder in Schulbüchern kritisiert man die Wagner-Rezeption bis 1945 als eine nationalistische Fehlentwicklung. Waren es in früheren Phasen vor allem Schriftsteller und Journalisten – seien es Thomas Mann oder Eduard Hanslick –, so verweisen in den vergangenen zwanzig?Jahren vor allem Regisseure in ihren Arbeiten auf das „deutsche Ärgernis“ Wagner, auf seine Funktion im nationalsozialistischen Deutschland und auf die Last der Nachkriegszeit. Markante Beispiele sind die Inszenierungen der Meistersinger von Hans Neuenfels (Stuttgart 1994), Peter Konwitschny (Hamburg 2002) und Katharina Wagner (Bayreuth 2007) oder Stefan Herheims Interpretation des Parsifal (Bayreuth 2008).

Die Geschichte der Wirkung Richard Wagners in Deutschland kann helfen, wichtige Probleme der politischen und kulturellen Ordnung zu verdeutlichen. Vielleicht nirgendwo sonst stehen persönliches Musikempfinden und gesellschaftliche Deutungen von Kunstwerken in einem so engen Verhältnis. Daher lohnt es sich, bei der Betrachtung dieser Rezeptionsgeschichte über die künstlerischen Entwicklungen hinauszugehen und die „Figur Wagner“ als ein Element der Geschichte der deutschen Gesellschaft zu begreifen. Vielleicht liegt auch darin der Erfolg Richard Wagners begründet, dass der Umgang mit ihm ein Bestandteil der Wandlungen, auch der sich wandelnden Selbstdeutungen der Deutschen im 20.??Jahrhundert war. Sich mit Wagners Werk und Welt zu beschäftigen, war und bleibt daher immer mehr als ein unpolitischer Genuss und eine emotionale Laune. Es ist ein Aushandlungsprozess innerhalb der Gesellschaft. Die Rezeption Richard Wagners in Deutschland steht für die Macht nationaler Traditionen, für die kritische Neubewertung des Musik­lebens und für dessen Verwandlung durch eine plurale, offene Gesellschaft. Es sind die Hörer und Zuschauer, die Politiker und Journalisten, die aus Richard Wagner das gemacht haben, was er wurde und was er heute ist. Richard Wagner ist all das, als was er angesehen wurde, sein Werk alles, was über 150?Jahre darauf projiziert wurde.

Sven-Oliver  Müller

Dr. Sven Oliver Müller ist Historiker und Leiter der Forschungsgruppe Gefühlte Gemeinschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Zu den Schwerpunkten seiner Forschungen gehören die Geschichte des Nationalismus und das Musikleben im 19. und 20. Jahrhundert. 2013 erschien „Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe“ (C.H. Beck). Zuletzt veröffentlichte er „Leonard Bernstein: Der Charismatiker“ (Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag, 2018).