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Buch der Woche

In den Kellern der Kirchengeschichte

Tief unten in den Kellern der Kirchengeschichte, verborgen selbst für die meisten Historiker, liegen jahrhundertealte Traditionen begraben, von denen die Kirche heute nichts mehr wissen will. Hubert Wolf steigt mit archäologischem Spürsinn hinab in diese Krypta. Er entdeckt dort Frauen mit bischöflicher Vollmacht, Laien, die Sünden vergeben, eine Kirche der Armen – und andere Traditionen, die heute wieder aktuell werden könnten.

22.01.2015

4. Der Papst
Kollege und nicht gegen Fehler gefeit

«Die höchste, volle, unmittelbare und
universale ordentliche Gewalt»

Millionen Menschen trieb es 2013 nach Rom. Sie erlebten vor Ort hautnah mit, wie der überraschend zurückgetretene Papst Benedikt XVI. in einem Helikopter nach Castel Gandolfo flog, die Kardinäle aus aller Welt in Rom eintrafen und den Argentinier Jorge Mario Bergoglio zum neuen Papst wählten. Mehr als eine Milliarde Menschen saß vor den Fernsehschirmen, um die Vorgänge um den alten und neuen Papst zu verfolgen, tausende Radio- und Fernsehjournalisten bevölkerten den Petersplatz und die Via della Conciliazione.

In Zeiten unübersehbarer Pluralisierung und eines vermeintlichen postmodernen Werteverlustes hat der Vatikan offenbar nichts an Faszination verloren. Vielen Medien gilt der Papst nicht nur als Oberhaupt der katholischen Konfession, sondern als Repräsentant des Christentums schlechthin. Selbst evangelischen Christen verschiedener Konfessionen ist der Papst nicht egal. Während des Pontifikats Johannes Pauls II. traten kurioserweise immer dann besonders viele evangelische Christen in Deutschland aus ihrer Kirche aus, wenn der Papst wieder einmal eindeutige Verbote im Bereich der Sexualmoral ausgesprochen hatte.

Dieser Befund fügt sich gut in neuere religionssoziologische Theorien des «God-Sellings» ein, die denjenigen Religionen und Konfessionen die größte Sichtbarkeit auf dem religiösen Markt bescheinigen, die sich durch ein eindeutiges Markendesign auszeichnen. Diese «harten» Religionen müssten über ein klares Lehrgebäude, strenge moralische Anforderungen und vor allem über eine deutlich erkennbare und hierarchische Führungsstruktur verfügen, am besten mit einem unumstrittenen Chef als «Markenkern» an der Spitze. Kaum eine andere Religion erfüllt nach Ansicht von Religionssoziologen und Theologen diese Voraussetzungen derzeit besser als die römisch-katholische Kirche, die sich mediengerecht als Papstkirche vermarktet. Wenn es den Papst nicht schon gäbe, müsste man ihn erfinden, sagte schon Napoleon Bonaparte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts.

Gerade im Medienzeitalter fesselt Katholiken, aber auch Außenstehende die Inszenierung des Geheimen, die Wahl des Nachfolgers Petri und Stellvertreters Jesu Christi im Konklave unter Michelangelos Gemälde des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle, aus der die Gläubigen und die Öffentlichkeit strikt ausgeschlossen bleiben. Den Kardinälen ist es sogar ausdrücklich verboten, ein Handy mit ins Konklave zu nehmen, um sicherzustellen, dass sie nicht Interna per SMS oder Twitter verraten. Kaum ein Kupferrohr ist derart oft abgelichtet worden wie der Kamin, aus dem weißer oder schwarzer Rauch den Erfolg oder Misserfolg eines Wahlgangs bei der Papstwahl anzeigt. Und selten ist die gespannte Aufmerksamkeit so auf ein einziges Wort gerichtet wie bei der Verkündigung des neuen Papstnamens, die dem «Habemus Papam» auf der Mittelloggia der Petersbasilika folgt.

Jenseits aller gekonnten Inszenierung und medialen Faszination kommt dem Papst nach dem Kirchenrecht tatsächlich eine Stellung zu, die ihresgleichen sucht. Er verfügt «kraft seines Amtes in der Kirche über die höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann». So heißt es in Kanon 331 des Codex Iuris Canonici. Diese Gewalt erstreckt sich nicht nur auf die gesamte katholische Kirche, sondern auch auf alle Teilkirchen beziehungsweise Diözesen. Denn der Papst kann in jede Diözese unter Umgehung des zuständigen Bischofs direkt hineinregieren, wenn er dies für notwendig hält. Seine Gewalt ist unbeschränkt, seine Entscheidungen sind, wenn er sie einmal gefällt hat, definitiv und unumstößlich, ein Einspruch gegen sie ist nicht möglich: «Gegen ein Urteil oder Dekret des Papstes gibt es weder Berufung noch Beschwerde.»1

Diese umfassende jurisdiktionelle Vollmacht wird noch erweitert durch die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen: «Unfehlbarkeit im Lehramt besitzt kraft seines Amtes der Papst, wann immer er als oberster Hirt und Lehrer aller Gläubigen, dessen Aufgabe es ist, seine Brüder im Glauben zu stärken, eine Glaubens- oder Sittenlehre definitiv als verpflichtend verkündet. »2 Das Zweite Vatikanische Konzil und das kirchliche Gesetzbuch von 1983 bestätigten hier im Grunde lediglich die Bestimmungen, die in der Konstitution «Pastor aeternus» am 18. Juli 1870 erstmals definiert worden waren.

Um die Dogmen von Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit war auf dem Ersten Vatikanischen Konzil heftig gestritten worden. Die Minderheit, die ein gutes Viertel der Konzilsväter ausmachte, sprach sich mit allem Nachdruck gegen die Definition aus und führte dabei eine ganze Reihe schwerwiegender Argumente ins Feld. Zunächst und vor allem sahen sie die Unfehlbarkeit weder im Zeugnis der Heiligen Schrift noch in der kirchlichen Tradition als ausreichend bezeugt an. Außerdem, so hieß es weiter, müssten dogmatische Entscheidungen auf Konzilien einstimmig oder doch zumindest mit moralischer Einmütigkeit beschlossen werden, um davon ausgehen zu können, dass sie vom Wirken des Heiligen Geistes inspiriert wurden. Ein bloßer Beschluss mit der Mehrheit der Konzilsväter, wie in der von Papst Pius IX. durchgesetzten Geschäftsordnung des Ersten Vatikanischen Konzils vorgesehen, sei nicht möglich. Die Bischöfe der Minderheit bestritten obendrein die Freiheit des Konzils, die nach dem Kirchenrecht als unerlässliche Voraussetzung für das gültige Zustandekommen von Beschlüssen galt. Sie zweifelten an der Geltung der Konstitution «Pastor aeternus», weil Pius IX. massiven Druck auf zahlreiche Bischöfe ausgeübt, in die Diskussion auf dem Konzil eingegriffen und die Debatten über das neue Dogma letztlich abgewürgt hatte. Insbesondere wurden auch historische Argumente gegen die Möglichkeit der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit ins Feld geführt: In der Geschichte habe es durchaus auch fehlbare und irrende Päpste gegeben.

+Papst Honorius I. war vom Ökumenischen Konzil von Konstantinopel 680/81 sogar als Häretiker verurteilt worden. Die Minoritätsbischöfe sahen deshalb das Unfehlbarkeitsdogma als unerhörte Neuerung und Bruch mit den kirchlichen Traditionen. Der Tübinger Dogmatiker Johannes Evangelist von Kuhn brachte diese Diskontinuität nach der Verabschiedung des neuen Dogmas treffend auf den Punkt, als er fragte: «Ist es möglich, bis zum 18. Juli [1870] etwas für unwahr und von da an für wahr zu halten?»3 Die Opposition gegen das Unfehlbarkeitsdogma, zu der vier Fünftel der deutschen Bischöfe gehörten, war indes vergeblich: Die Konstitution «Pastor aeternus» wurde, nachdem die Bischöfe der Minderheit aus Protest vorzeitig aus Rom abgereist waren, fast einstimmig verabschiedet. Die Konstitution folgte im Wesentlichen einer vierstufigen Argumentation: Zunächst wird die Einsetzung des Primats durch Jesus Christus in Petrus festgehalten, dann die Fortdauer beziehungsweise Weitergabe des Primats an die Nachfolger Petri, die römischen Päpste, konstatiert, dann wird der Umfang des Jurisdiktionsprimats des Papstes beschrieben, bevor schließlich die päpstliche Unfehlbarkeit zum Dogma erhoben wird.

Über den Jurisdiktionsprimat heißt es im dritten Kapitel: «Demnach lehren und erklären wir, dass die römische Kirche auf Anordnung des Herrn über alle anderen Kirchen den Vorrang der ordentlichen Gewalt besitzt, und dass diese Jurisdiktionsgewalt des römischen Bischofs, die wirklich bischöflich ist, unmittelbar sei. Ihr gegenüber sind die Hirten und Gläubigen unabhängig von Ritus und Rang, je einzeln oder in ihrer Gesamtheit, zur hierarchischen Unterordnung und zu echtem Gehorsam verpflichtet. Dies gilt nicht nur in Fragen des Glaubens und der Sitten, sondern auch in Disziplinar- und Leitungsfragen.» Der römische Bischof wird zum obersten Richter der Gläubigen erklärt, und es wird ausdrücklich verboten, gegen das Urteil des Papstes «bei einem ökumenischen Konzil als der dem römischen Bischof übergeordneten Autorität Berufung» einzulegen.4 Das Unfehlbarkeitsdogma wird im vierten Kapitel definiert: «Wenn der römische Bischof ex cathedra spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität entscheidet, eine Glaubens- oder Sittenlehre sei von der ganzen Kirche festzuhalten, dann vermag er dies durch göttlichen Beistand, der ihm im seligen Petrus verheißen ist, mit jener Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Entscheidung einer Glaubens- oder Sittenlehre ausgestattet haben wollte. Und deshalb sind solche Entscheidungen des römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.

Wenn also jemand – was Gott verhüten möge – sich herausnehmen sollte, dieser Unserer Entscheidung zu widersprechen, der sei aus der Kirche ausgeschlossen. Anathema sit.»5 Das Konstanzer Konzil: Oberhoheit des Konzils über den Papst Die Irritationen, die auf die Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas folgten, führten in Deutschland zur Entstehung der altkatholischen Kirche und trugen maßgeblich zum Kulturkampf bei. Sie haben sich inzwischen zwar weitgehend gelegt, aber durch die Bestimmungen der Konstitution «Pastor aeternus» und des derzeit geltenden Kirchenrechts steht der Papst weiter als Stellvertreter Jesu Christi auf Erden, absoluter Monarch und unfehlbarer Inhaber des obersten Lehramts über der Kirche. Eine Instanz, die als Korrektiv wirken könnte, ist nicht vorgesehen. Dieses Konzept mag im Normalfall funktionieren, aber für einen Notstand sind keinerlei Regelungen vorgesehen.

Was passiert, wenn heute ein Papst irrig lehrt? Oder aufgrund seines fortgeschrittenen Alters unzurechnungsfähig oder gar dement wird? Wer stellt dann seine Amtsunfähigkeit fest? Und wer könnte gegebenenfalls über eine Amtsenthebung entscheiden? Die Erklärungen der beiden Vatikanischen Konzilien und das Kirchenrecht sehen dafür keine Lösungen vor, auch nicht für den Fall, dass es zu einem Schisma kommt. Was passiert, wenn Richtungsstreitigkeiten in der Kirche und im Kardinalskollegium eine einhellige Papstwahl unmöglich machen und möglicherweise sogar zwei Päpste um die Rechtmäßigkeit der Nachfolge Petri konkurrieren? Dieser Fall ist keinesfalls hypothetisch. Er ist vielmehr in der Kirchengeschichte wiederholt vorgekommen, und so bietet diese auch Lösungen zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen. Am virulentesten wurde das Problem, wie ein Schisma zu beheben ist, auf dem Konstanzer Konzil.

Was war geschehen? Nach fast sieben Jahrzehnten in Avignon war der Papst 1377 endlich wieder nach Rom zurückgekehrt. Man hoffte auf eine Konsolidierung des Papsttums in der Ewigen Stadt. Doch der Tod Gregors XI. am 26. März 1378 machte all diese Hoffnungen zunichte. Erstmals fand wieder ein Konklave in Rom statt. Da unter den sechzehn Kardinälen elf Franzosen und nur vier Italiener waren, befürchtete die römische Bevölkerung, es würde wieder ein französischer Papst gewählt werden, der seine Residenz zurück nach Avignon verlegen würde. Die Römer belagerten das Konklave und stürmten es; unter dem Druck des Volkes wählten die Kardinäle mit Erzbischof Bartolomeo Prignano einen Italiener und Nicht-Kardinal zum Papst. Prignano nannte sich Urban VI. Die Freiheit des Wahlaktes war zwar umstritten, die Kardinäle blieben aber, nachdem die Pressionen nachgelassen hatten, bei ihrem Votum, huldigten Urban VI. als Papst und versandten Wahlanzeigen an die Fürsten.

Im Verlauf des Sommers 1378 fielen die Kardinäle jedoch von Urban VI. ab. Sie bezeichneten ihn als rücksichtslosen Despoten, der nicht in der Lage sei, das Papstamt auszuüben. Sie verwiesen auf die Unfreiheit des Konklaves, behaupteten, Urbans Fähigkeit zur Leitung der Kirche völlig falsch eingeschätzt und sich in Bezug auf seinen Charakter geirrt zu haben. Die Kardinäle verließen Rom und wählten am 20. September Kardinal Robert von Genf zum Papst, der den Namen Clemens VII. annahm und seine Residenz nach Avignon verlegte, während Urban VI. in Rom blieb. Es entwickelten sich zwei Papstreihen: In Rom folgten auf Urban VI. Bonifaz IX., Innozenz VII. und Gregor XII.; nach dem Tod Clemens’ VII. wurde in Avignon Benedikt XIII. gewählt. Die christliche Welt spaltete sich in zwei Teile. Ein Ende des Schismas war nicht möglich, da es für die Rechtmäßigkeit beider Päpste gute Argumente gab. Das nach dem Kirchenrecht zuständige Kollegium der Kardinäle hatte zweimal nacheinander einen Papst gewählt – dadurch unterschied sich dieses Schisma von den zahlreichen anderen, die es im Mittelalter gab, wenn der Kaiser einen Gegenpapst ernannte oder sich das Kardinalskollegium bei einer Wahl spaltete und gleichzeitig zwei Päpste wählte.

Fünf Wege zur Beendigung dieses Schismas wurden diskutiert und ausprobiert. Zunächst wollte man via facti vorgehen: Einer oder beide Päpste sollten auf politischem oder militärischem Weg ausgeschaltet werden. Beide Päpste warben Truppen an und versuchten die europäischen Staaten für sich zu gewinnen. Das europäische Mächtegleichgewicht verhinderte jedoch eine Entscheidung auf diesem Weg. Dann wurde die via cessionis ins Spiel gebracht: Einer oder beide Päpste sollten zurücktreten. Zwar versprach jeder der in Avignon und Rom in den folgenden Jahrzehnten neu gewählten Päpste, diesen Schritt zu gehen, wenn dadurch die Kirchenspaltung überwunden werden könne, aber auch dazu kam es nie, weil jeder den Rücktritt zunächst vom jeweils anderen Papst verlangte.

Es folgte die via iustitiae: Man suchte ein allgemein anerkanntes Schiedsgericht, das die Gültigkeit beider Papstwahlen verbindlich prüfen sollte. Die Frage war nur, wer in Rom und Avignon als unparteiischer Richter anerkannt würde. Da das Lehramt in der Kirche damals bei den Universitäten lag, wurde die theologische Fakultät der Pariser Sorbonne ins Spiel gebracht, die der römische Papst aber als befangen ablehnte. Als vierter Weg kam die via discussionis ins Gespräch: Beide Päpste sollten sich treffen und in einem gemeinsamen Gespräch die Sache entscheiden. Tatsächlich machten sich die Päpste in den Jahren 1405 bis 1407 von Rom und von Avignon aus auf den Weg, um sich in Norditalien zu treffen. Die Etappen wurden jedoch immer kürzer, wenige Kilometer vor dem vereinbarten Treffpunkt kehrten beide Päpste um. Deshalb blieb am Schluss nur die via concilii übrig. Die Kardinalskollegien in Rom und Avignon kamen zu der Einsicht, beide Päpste müssten sich dem Urteilsspruch eines allgemeinen Konzils unterwerfen. Dies konnte aber nur funktionieren, wenn dogmatisch und kirchenrechtlich klargestellt war, dass das Konzil über dem Papst stand. Ein solches «konziliares» Konzil hatte es aber bisher in der Geschichte der Kirche nicht gegeben.

Bislang waren nur monarchische Konzilien abgehalten worden, die entweder unter der Leitung der römischen Kaiser oder der Päpste standen. Die ersten acht ökumenischen Konzilien des Altertums, beginnend mit dem Konzil von Nicäa 325, waren Reichssynoden, die vom Kaiser einberufen, geleitet und bestätigt wurden. Die Konzilsbeschlüsse erlangten erst durch kaiserliche Unterschrift Rechtsgültigkeit. Diese Konzilien bedurften weder der Einberufung noch der Mitwirkung, noch der Bestätigung durch den Papst. Hier fand sich ein erster Anknüpfungspunkt zur Lösung des Problems, weil diese Sichtweisen den Papst der Autorität des Konzils unterordneten, das jedoch seine Vollmacht letztlich durch die Autorität des Kaisers begründete. Diese in der ganzen Christenheit anerkannte Autorität eines römischen Kaisers fehlte freilich Ende des vierzehnten Jahrhunderts. Die ökumenischen Konzilien des Mittelalters wie etwa die vier Lateransynoden waren zwar ebenfalls monarchische Konzilien, standen aber unter der Regie des Papstes und repräsentierten kaum die Gesamtkirche. Sie waren im Grunde genommen nichts anderes als päpstliche Haussynoden und schieden deshalb als Vorbild zur Beendigung des Schismas aus.

Das «Decretum Gratiani» von 1140, die wichtigste Sammlung des klassischen Kirchenrechts der römischen Kirche, hielt für die Lösung des Schismas durchaus ein Konzept bereit, das im Laufe des vierzehnten Jahrhunderts weiter entwickelt worden war: die konziliare Idee. Ihre Vertreter fassen die Kirche als Korporation auf: Nicht nur der Papst, sondern alle Stände der Kirche repräsentieren Christus. Dem Papst kommt nur die potestas actualis, die aktuelle Gewalt, in der Kirche zu, die er als Repräsentant und Sprecher der Korporation wahrnimmt. Diese Gewalt erlischt augenblicklich, wenn die Korporation in einem Konzil zusammentritt. Dann muss der Papst in Reih und Glied zurücktreten, denn dem Konzil kommt die potestas habitualis, die eigentliche und ordentliche Gewalt, in der Kirche zu. Die Leitung des Konzils liegt nicht bei einem vom Papst ernannten Präsidenten, sondern wird aus der Mitte des Konzils selbst gewählt. Wenn sich der Papst weigert, ein Konzil einzuberufen, oder wenn es miteinander konkurrierende Päpste gibt, dann sind zunächst die Kardinäle, dann der Kaiser und notfalls jeder Bischof dazu ermächtigt. Der erste Versuch eines konziliaren Konzils wurde im Jahr 1409 in Pisa unternommen. Kardinäle aus Rom und Avignon beriefen dieses gemeinsam ein.

Im Sinne der konziliaren Idee, dass das Konzil über dem Papst steht, setzte das Konzil den avignonesischen Papst Benedikt XIII. und den römischen Papst Gregor XII. ab. Die Kardinäle wählten Alexander V. und nach dessen Tod Johannes XXIII. (senior) zum neuen Papst. Doch das Konzil von Pisa wurde zu einem Fehlschlag: Der hier gewählte Papst fand keine allgemeine Anerkennung in der Kirche. Jetzt gab es drei statt zwei Päpste, aus der «verfluchten Zweiheit » wurde die «verruchte Dreiheit».6 Der Einigungsversuch war vor allem deshalb gescheitert, weil dem Konzil die einhellige politische Unterstützung der europäischen Mächte gefehlt hatte. Das Konzil brauchte einerseits einen starken politischen und militärischen Arm zur Durchsetzung seiner Beschlüsse, musste andererseits aber einen Weg finden, um die einzelnen europäischen Nationen angemessen in seine Entscheidungen einzubinden. Beides gelang schließlich auf dem Konzil von Konstanz, das in den Jahren 1414 bis 1418 stattfand. Der römisch-deutsche König und spätere Kaiser Sigismund machte die konziliare Idee und die Beendigung des Schismas zu seiner Sache. Er war zum Beispiel in der Lage, Johannes XXIII. gefangen zu nehmen, als dieser vom Konzil floh. Überdies setzte er eine Geschäftsordnung durch, in der nicht mehr nach Köpfen, sondern nach «Nationen» abgestimmt wurde. Ein Beschluss galt nur dann als angenommen, wenn er in allen Nationen – Italien, Frankreich, England, Deutschland mit Polen, Ungarn, Böhmen und Skandinavien, Spanien – und schließlich innerhalb des Kardinalskollegiums eine Mehrheit fand.

Auch die Papstwahl wurde vom Kardinalskollegium auf das Konzil übertragen. Hier war in allen Nationen und im Kardinalskollegium eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Dies sollte verhindern, dass sich irgendein Herrscher, ein Orden oder irgendeine Gruppe in der Kirche übergangen fühlte. Das Konzil von Konstanz stand vor drei Aufgaben: Wiederherstellung der Einheit der Kirche, Reform der Kirche und Klärung offener Glaubensfragen. Damit es die drei konkurrierenden Päpste absetzen und einen allgemein anerkannten Papst wählen konnte, musste zuerst die Oberhoheit des Konzils über den Papst definiert werden. Dies geschah im berühmten Dekret «Haec sancta» vom 6. April 1415: «Die rechtmäßig im Heiligen Geist versammelte Synode bildet ein Generalkonzil und repräsentiert die streitende katholische Kirche; sie hat ihre Vollmacht unmittelbar von Christus.

Jeder Mensch, gleich welchen Ranges und welcher Würde, und wenn es die päpstliche sein sollte, ist daher verpflichtet, dem Konzil in allem, was den Glauben, die Beilegung des genannten Schismas und die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern betrifft, strikt zu gehorchen.»7 Wer sich den Beschlüssen des Konzils widersetze, werde mit dem Anathem, dem Kirchenbann, belegt. Bei umstrittenen Entscheidungen des Papstes sollte es jederzeit möglich sein, ein Konzil als letzte Berufungsinstanz anzurufen. Die ordentliche und eigentliche Gewalt in der Kirche kam demnach dem Konzil zu. Um ein neues Schisma und eine päpstliche Willkürherrschaft zu verhindern, wurde im Dekret «Frequens » vom 9. Oktober 1417 das Konzil als ständige Kontrollinstanz des Papstes und seiner Kurie etabliert: «Die häufigere Feier von Generalkonzilien ist eines der besten Mittel, den Acker des Herrn zu bestellen. Sie rottet die Sträucher, die Dornen und das Unkraut der Häresien, der Irrtümer und der Schismen aus, korrigiert die Exzesse, reformiert das Deformierte und führt dem Weinberg des Herrn überreiche Fruchtbarkeit zu. Ihre Unterlassung hingegen verbreitet und fördert die genannten Schäden … Daher setzen wir fest, bestimmen und ordnen durch diesen immerwährenden Erlass an, dass von jetzt an allgemeine Konzilien so gehalten werden: dass ein erstes vom Ende dieses Konzils an innerhalb des Zeitraums des nächsten Jahrfünfts, ein zweites aber vom Ende des unmittelbar folgenden Konzils an innerhalb des Zeitraums von sieben Jahren und von da an Jahrzehnt zu Jahr zehnt beständig an solchen Orten abgehalten wird, welche der Papst einen Monat vor Beendigung eines jeden Konzils mit der Billigung und Zustimmung des Konzils – oder, falls er es unterlässt, das Konzil selbst – anzuordnen und zu ernennen verpflichtet ist, sodass beständig ein Konzil tagt oder an dem bestimmten Termin zu erwarten steht. Diesen Termin darf der Papst auf Anraten seiner Brüder, der Kardinäle der heiligen Kirche, aus zufällig auftretenden Ursachen vorverlegen, auf keinen Fall aber hinausschieben.

Danach ging das Konzil von Konstanz daran, die vier Jahrzehnte dauernde Kirchenspaltung zu beenden. Die drei konkurrierenden Päpste wurden abgesetzt und mit Martin V. 1417 ein allgemein anerkannter Papst gewählt, auf den sich die bis heute gültige Papstreihe zurückführt. Eine umfassende Reform der Kirche war jedoch zum Scheitern verurteilt, weil die Päpste in der Folgezeit versuchten, die entsprechenden Dekrete des Konzils zu unterlaufen. Zwar berief Martin V., dem Dekret «Frequens» folgend, 1423 ein Konzil nach Pavia ein, löste dieses jedoch mit fadenscheinigen Argumenten relativ rasch wieder auf. Außerdem war die Kirchenversammlung in Pavia nur schwach besucht, vor allem weil die eigentliche Motivation der konziliaren Idee – die Beseitigung der Kirchenspaltung – weggefallen war. Im Konzil von Basel, das von 1431 bis 1449 dauerte, kam es zum letzten Mal zu einer Konfrontation zwischen Papst und Konzil, die in der Dogmatisierung von «Haec sancta» und damit der Oberhoheit des Konzils über den Papst durch die Konzilsmehrheit gipfelte. Am Schluss setzte sich jedoch das Papsttum durch, das Konzil von Basel radikalisierte sich immer mehr und wurde schließlich aufgelöst. Wie Klaus Schatz treffend bemerkt, verhinderten die Päpste, seitdem sie «die Konzilien zu fürchten begannen», erfolgreich deren Einberufung und belegten die Appellation an ein allgemeines Konzil sogar mit schweren Kirchenstrafen.9 Dies ist einer der entscheidenden Gründe dafür, dass die katholische Kirche auf die Herausforderungen der Reformation viel zu spät reagierte.

Die Forderungen der deutschen Protestanten und der Reichsstände nach einem allgemeinen Konzil in deutschen Landen zur Lösung der Kirchenfrage wurden von den Päpsten torpediert. Als 1545, mehr als ein Vierteljahrhundert nach Luthers Thesenanschlag, das Konzil von Trient einberufen wurde, war es zu spät. Die Kirchenspaltung war bereits zu weit fortgeschritten, als dass sie durch eine grundlegende Reform der katholischen Kirche noch hätte aufgehalten werden können. Jetzt ging es nur noch um eine Abgrenzung der katholischen Kirche von den Protestanten und ein Festschreiben katholischer Positionen. Interessanterweise wurde aber die Frage nach dem Verhältnis von Papst und Konzil beziehungsweise von Primat und Episkopat von der Tagesordnung genommen, weil dies zu einem Auseinanderbrechen des Konzils geführt hätte. In der Phase der «Gegenreformation» versuchte Kardinal Robert Bellarmin, das Verhältnis von Konzil und Papst einseitig zu regeln, wobei er die konziliaren Ideen sowie die Vorgänge in Konstanz missachtete.

Er stellte die Behauptung auf, ein ökumenisches Konzil sei nur dann gültig, wenn es vom Papst einberufen, geleitet und bestätigt worden sei. Dies trifft aber für Konstanz nicht zu und auch nicht für die Konzilien der alten Kirche, auf denen unter anderem das Glaubensbekenntnis der Kirche formuliert wurde. Von 1563, dem Ende des Konzils von Trient, bis 1870, der Einberufung des Ersten Vatikanischen Konzils, sollte kein weiteres Konzil mehr stattfinden. Und Letzteres war ein eindeutig monarchisches Konzil: Der Papst sprach die Einladung aus, er besetzte die vorbereitenden Kommissionen, er erließ die Geschäftsordnung und bestimmte die Präsidenten, er veränderte die Tagesordnung und verkürzte die Diskussion einzelner Dekrete und verkündete schließlich die Beschlüsse des Konzils.

 

Hubert Wolf: Krypta. 2015, C.H. Beck. 231 Seiten, 19,95 Euro.