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Buch der Woche

Leben mit und ohne Picasso

Für Pablo Picasso blieb sie ein Rätsel, und sie war die einzige Frau, die ihn verließ. Françoise Gilot ist Malerin, Wahrheitssuchende, eine Künstlerin des Lebens. Für dieses Ankerherz-Buch öffnete Françoise Gilot, Mutter von Paloma Picasso, dem renommierten Biografen Malte Herwig die Türen ihrer Ateliers in New York City und Paris.

23.04.2015

Vor wenigen Jahren erst habe ich sie das erste Mal getroffen. Es war in Paris, im Mai. Die Bordsteinmaler standen auf der Place du Tertre in Montmartre und zeichneten japanische Touristen. Viel war nicht geblieben vom Ruhm und Ruch des Künstlerviertels, in dem einmal Renoir und Van Gogh lebten und Picasso sein Atelier hatte.

Aber noch war diese Welt lebendig, hatte ich gehört, man musste nur wissen, wo. Wenige Straßen weiter arbeitete in einem lichtdurchfluteten Atelier die berühmteste Überlebende der Kunstgeschichte. Ich klingelte an der Pforte des alten Gebäudes und wurde eingelassen. Da stand sie vor mir: kleines rotes Kleid, kurzer Pagenkopf, über den wachen Augen hoben und senkten sich die legendären Zirkumflex-Brauen, von denen einst Henri Matisse schwärmte: die Malerin Françoise Gilot. Damals war sie 90 und schien mir doch halb so alt zu sein. Sie sprang auf, lachte, ging umher. Gemessen an der zierlichen Figur sind ihre Hände kräftig, dachte ich. Malen ist Arbeit, und sie malte immer noch jeden Tag.

„Wenn du malst, musst du schnell sein. Selbst wenn es nicht besonders gut wird, ist es immer noch besser, als wenn du langsam bist. Du musst die Energie deiner ganzen Existenz in das Bild bringen.“ Vor ihr standen zwei schwere Staffeleien mit großen abstrakten Bildern auf blauem Untergrund. Sie standen noch da, obwohl sie fertig waren, frische Schaustücke für Besucher. „Ich würde anderen Leuten nie Werke zeigen, die noch auf dem Weg sind.“

Linker Hand war ein einfacher weißer Tisch, Dosen voller Pinsel, Pastasaucen-Gläser mit Lösungsmitteln, Maler-Alchemie. An den Wänden lehnten Dutzende Bilder und Zeichenmappen in großen und kleinen Formaten − alle mit dem Rücken zum Betrachter. Man merkte sofort: Das ist kein Museum, keine Galerie, sondern eine Werkstatt.

Sie begann ihre Arbeit immer im Morgengrauen, noch in Pyjama und Pantoffeln. Ein Blick von der Empore zur halb fertigen Leinwand auf der Staffelei, dann stieg die Malerin hinab und machte sich sofort ans Werk. So hielt sie es seit 75 Jahren.

Ich sah mich um: kein Schemel weit und breit. Françoise Gilot malte im Stehen, deshalb die Pantoffeln: Man stand einfach bequemer über viele Stunden. Ich versuchte, mir die elegante, zarte Dame vorzustellen, wie sie in einem beklecksten Pyjama und Pantoffeln vor der Staffelei lauerte, in jeder Hand mit einem Pinsel bewaffnet − unmöglich.

Sie lachte: „Wenn du im Nachthemd bist, dann bist du nicht so kritisch. Manchmal sitzt mir der Kritiker wie ein Vogel auf der Schulter. Aber die Vernunft ist kein Freund des Malers, du brauchst sie nicht unbedingt bei der Arbeit. Zum Malen brauchst du Leidenschaft, du musst in Schwung kommen und den Vogel Zweifel von der Schulter scheuchen.“

Auch das Alter war kein Freund des Malers. Vor fünf Jahren hatte sie freiwillig mit dem Autofahren aufgehört − Probleme mit dem Herzen. Nicht, dass sie Angst vor dem Tod hätte, aber sie wollte niemanden mit sich nehmen. „Wenn du auf dem Freeway einen Herzinfarkt hast, tötest du womöglich noch jemand anderen.“ Noch schwerer wog ein anderes Altersleiden: Sie war inzwischen auf dem linken Auge fast blind. Für eine Malerin eine Katastrophe, oder? „Ach was, das stört mich überhaupt nicht. Natürlich könnte es ein Problem bei der Perspektive sein, aber in meinen Bildern schaffe ich den Raum ohnehin nicht aus der Perspektive, sondern durch die Farben!“

Ihre gelassene Einstellung überraschte mich: Wie oft hatte ich alte Menschen über dies und das klagen hören − durchaus nachvollziehbar, wenn die Lebenskräfte ab- und die körperlichen Leiden zunehmen. Françoise Gilot schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, sondern machte einfach weiter. Mehr noch: Sie schien selbst verwundert über ihre Zähigkeit.

„Eigentlich hängt mir das Leben zum Halse heraus“, sagte die alte Dame und rührte empört mit den Händen in der Luft. Hatte sie nicht alles schon getan und erlebt? Was sollte sie noch hier? „Als ich 86 wurde, dachte ich: Jetzt ist endlich Schluss, denn in dem Alter ist meine Mutter gestorben. Länger als sie zu leben konnte ich mir nicht vorstellen, denn niemand in unserer Familie war bis zu diesem Zeitpunkt älter als sie geworden. Dann wurde ich 87 und wunderte mich. 88 war verrückt, 89 schien unmöglich und 90 war nun wirklich das Allerletzte. Als ich 90 wurde, dachte ich mir: Du musst dich umbringen, wenn du jemals sterben willst. Aber da ich keinen Grund sah, mich umzubringen, lebe ich eben weiter und sage mir: Das musst du jetzt durchstehen. Ich hasse es. Aber da ich nun mal hier bin, male ich eben.“

Für eine lebensmüde Neunzigjährige hatte Françoise Gilot allerdings ziemlich viel zu tun. Zehn Monate im Jahr wohnte und arbeitete sie in ihrem 100 Jahre alten Studio nur wenige Meter vom Central Park entfernt auf der Upper West Side in Manhattan. Den Mai und Juni verbrachte sie in Paris in ihrem zweiten, ebenso großen Studio. Die Bilder reisten mit ihr hin und her.

Als ich bemerkte, dass sie trotz Lebensüberdrusses mehr Energie hatte als eine Handvoll Teenager, blickte sie mich streng an: „Ich habe gesagt, dass mir das Leben zum Hals heraushängt, nicht die Malerei!“

In 75 Jahren war dabei ein mächtiges OEuvre entstanden: Mehr als 5000 Zeichnungen und 1600 Gemälde waren es bis heute, und täglich wuchs das Werk weiter. „Außer malen tue ich ja nichts.“ Eine Untertreibung. Da gab es das Archiv, in dem ihre wichtigsten Werke mit genauen Angaben verzeichnet waren und das gepflegt werden musste. Auch die Korrespondenz aus aller Welt riss nicht ab. Von nirgendwo erhält sie mehr Post als aus Deutschland. „Ich bekomme jeden Monat drei, vier Briefe aus Deutschland mit der Bitte um Autogramme, ist das nicht lustig?“

Nur der kleinste Teil ihrer Bilder war in Museen zu sehen, und doch war sie überall präsent. Seit über einem halben Jahrhundert hatte sie jedes Jahr mindestens eine Ausstellung ihrer Werke. Die Kunstsammlungen Chemnitz widmeten ihr 2003 und 2011 eigene Ausstellungen. Die meisten Bilder befinden sich im Privatbesitz von Sammlern in Amerika, England, Skandinavien und Deutschland.

Das Metropolitan Museum in New York hat einige Zeichnungen gekauft, darunter ein frühes Selbstporträt von 1941, auf dem die zwanzigjährige Françoise Gilot den Betrachter direkt aus ernsten Augen anblickt. Paris war zu dieser Zeit schon unter deutscher Besatzung, und das Leben der jungen Studentin der Philosophie und Rechtswissenschaft war mehr als einmal in Gefahr gewesen.

Als sie am 11. November 1940 zusammen mit Kommilitonen zum Arc de Triomphe marschierte, um Blumen auf das Grab des unbekannten Soldaten zu legen, wurde sie verhaftet und ihr Name auf eine Liste mit Geiseln gesetzt. Wenn in ihrem Wohnviertel ein deutscher Soldat getötet worden wäre, hätten die Deutschen 50 Franzosen auf dieser Liste umgebracht. „Es war ziemlich unangenehm“, erinnert sie sich. Drei Monate lang musste sie sich jeden Tag auf der Kommandantur melden.

Doch die weit aufgerissenen Augen der jungen Frau auf dem Selbstporträt von 1941 sind nicht die ängstlichen Augen eines Tieres im Scheinwerferkegel. Aus ihnen spricht keine Angst, sondern Lebensneugier, ja: Lebensgier. Ihr Blick ist ernst und fest. Kein Unglück, denkt sie sich, das nicht auch seine positive Seite hat.

Obwohl ihre Eltern das zeichnerische Talent der einzigen Tochter früh erkannt und gefördert hatten, verbot ihr der Vater, zur Kunstakademie zu gehen und die Malerei zum Beruf zu machen. So schloss sich an das offizielle Studium ein heimliches an, und sie ging jede Woche zu dem ungarischen Maler Endre Rozsda.

Drei Monate nach ihrer Verhaftung kommt ihr eine kühne Idee. Als sie sich wieder auf der deutschen Kommandantur melden muss, gibt sie an, nicht mehr Jura zu studieren. „Aus irgendeinem Grund hassten die Deutschen Jura-Studenten. Also habe ich gesagt: Ich bin Modegestalterin. Da haben sie mich laufen lassen, und seitdem male ich jeden Tag.“

Ihr erstes Ölbild malte Françoise Gilot 1939, da war sie 17. Es zeigt den Blick aus einem Fenster auf eine sonnendurchflutete französische Landschaft, und man erkennt sofort, dass darin die Geschichte ihres Lebens vorgezeichnet ist. Die großen offenen Türen sind in kühlem Blau gehalten, und das filigrane Eisengitter des französischen Balkons schafft eine gewisse Distanz zwischen dem Rauminneren und der bunten, wilden Welt dort draußen.

Françoise Gilot hat ihr kühles, nordisches Temperament nie verleugnet, das ein Erbteil ihrer Vorfahren aus der Normandie und dem Elsass ist. „Den Italienern kommt es vor allem auf Stil und Ausdruck an, die Spanier suchen Extreme, das brutal Deformierte. Ich glaube, ich bin in meiner Malerei viel eher eine Mathematikerin oder Philosophin und daher typisch französisch. Die Menschen in Frankreichs Norden haben dieses besondere Interesse daran, Mathematik und Metaphysik zu verbinden. Meine Vorfahren waren Wikinger, ist es da ein Wunder, dass meine Bilder nördliche Bilder sind?“

Der Norden ist ihre Himmelsrichtung. Von dort muss auch das Licht kommen, das durch die sechs Meter hohen Fenster sanft auf die Art-déco-Möbel ihres Pariser Ateliers fällt. „Das Nordlicht ist das beste, weil es den ganzen Tag über gleichmäßig ist.“ Das ist der Lichtkompass der Malerin: Osten ist am zweitbesten, Süden schlechter und am allerschlimmsten der Westen, der mit seiner schwülen Nachmittagssonne die Leinwand in kitschiges Rosa taucht. „Ich hatte mal ein Studio mit 36 Fenstern, und kein einziges ging nach Norden!“ Natürlich gehen ihre beiden Ateliers in New York und Paris nach Norden.

Françoise Gilot war noch nie ein Mensch, der sich anderen gegenüber bereitwillig öffnete, das galt sogar für ihre eigene Familie. Zu nordisch, zu französisch, zu vornehm war ihre Herkunft. Gefühle zeigen? Quelle horreur! „Selbst Picasso kannte mich trotz unserer zehn gemeinsamen Jahre nie, denn ich habe mich verschlossen. Ich enthülle mich nie, warum sollte ich das?“, sagte sie im freundlichsten Tonfall, bis ihr schallendes Lachen das Eis durchbrach.

Fiel das nicht schwer, fragte ich mich, so viel zu erleben und dann seine wahren Gefühle wie eine Flaschenpost zu verkorken? „Überhaupt nicht, denn ich drücke mich in meinen Bildern aus, und auch darin ist es immer noch mysteriös. Wenn ich male, steckt alles darin, aber nicht jeder kann es entziffern.“

Als ich mich an jenem Abend unseres ersten Treffens von Françoise Gilot verabschiedete und den Montmartre hinunterlief, wusste ich, dass ich sie wiedersehen musste.

Diese Textpassage stammt von den Seiten 20 bis 25.

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LICHT UND SCHATTEN

Als Teenager sammelte ich Porträtfotos von Picasso. Ob er mit nacktem Oberkörper durchs Studio tanzte, mit einem Handtuch den Matador mimte oder einfach alberne Grimassen schnitt, während er mit Masken, Tieren oder Kostümen posierte – Picasso schien noch dem größten Unsinn eine Aura magischer Kreativität abgewinnen zu können. Sein kindlicher Unernst, die Leichtigkeit, das Spiel vor und mit der Kamera sogen einen förmlich hinein in die Fotografien, und es fühlte sich an, als würde ein Funken von Picassos Energie auf den Betrachter überspringen.

Der berühmteste Maler seiner und vielleicht aller Zeiten war ein begnadeter Selbstdarsteller. Als das Museum Ludwig 2011 in Köln die erste große Ausstellung seiner fotografischen Porträts veranstaltete, lautete der Titel bezeichnenderweise „Ichundichundich“. Neben ihm selbst und der Kunst gab es nicht viel Platz in Picassos Leben, die Tyrannei des Genies degradierte alle anderen zu Statisten.

Ein Bild aber stach heraus, und es begeisterte mich so sehr, dass ich es mir damals auf ein T-Shirt drucken ließ. Ich konnte mich nicht sattsehen am Lächeln dieser unbekannten jungen Frau, die strahlend über den Strand geht, während Pablo Picasso schützend einen Sonnenschirm über sie hält. Mehr als ein halbes Jahrhundert war das her: ein heißer Sommertag 1948 in dem kleinen Badeort Golfe-Juan an der französischen Côte d’Azur, und der kühle Schatten tat gut.

Ein Bild reiner Lebensfreude: Licht und Lachen auf den Gesichtern, vorne Françoise Gilot, im Hintergrund Picassos Neffe Javier Vilato. Nur Picasso, der alte Puppenspieler, blickt aus seinen dunklen Augen direkt in die Kamera und grinst vieldeutig: Ich bin die Sonne und die Dunkelheit, ich bin der Mittelpunkt des Universums. Ich, ich, ich.

Insofern war es ganz folgerichtig, dass sich das gerissene Genie den Schirm schnappte, als der Fotograf Robert Capa ihn und seine Entourage am Strand fotografieren wollte. Picasso bestimmte, wo Licht war und wo Schatten zu sein hatte. Und natürlich waren es immer die anderen, die in seinem Schatten stehen sollten, in einer Welt, die er sich selbst mit dem Pinsel schuf − oder eben mit einem Sonnenschirm.

Aber nein, diesmal nicht. Dieses eine Mal ist alles anders. Kein Hauch eines Schattens auf dem Gesicht der jungen Frau. Sie strahlt − und lacht ihn einfach weg. Es gibt wenige Frauen, die der Sonne so nah kamen wie Françoise Gilot. Die meisten verbrannten sich an dem Genie, sie glühten aus und stürzten ab wie Ikarus in der antiken Sage. Françoise Gilot ist die einzige Frau, die Picasso verließ, statt von ihm verstoßen zu werden.

Als ich vor Jahren von ihrer Geschichte hörte, war ich überrascht, dass sie überhaupt noch lebte. Schließlich war die Trennung von Picasso über ein halbes Jahrhundert her, und begegnet waren sich die beiden schon während des Zweiten Weltkriegs. Doch als wir das erste Mal telefonierten, um ein Interview mit ihr für ein Magazin zu verabreden, hatte ich das Gefühl, mit einer Frau zu sprechen, die nicht älter als 50 sein konnte.

Noch mehr aber überraschte mich, dass sie ihn überlebt hatte. Keine Selbstverständlichkeit: Picassos letzte Frau Jacqueline Roque setzte ihrem Leben 13 Jahre nach seinem Tod mit dem Revolver ein Ende, Marie-Thérèse Walter erhängte sich. Olga Chochlowa und Dora Maar wurden irgendwann wahnsinnig.

Der Mann, der die Museen und Galerien des 20. Jahrhunderts mit seinem gewaltigen Schöpfungsdrang wie kein zweiter gefüllt hatte, hinterließ in seinem persönlichen Leben eine beispiellose Schneise der Verwüstung. Picasso schien es regelrecht zu genießen, die Frauen in seiner Nähe erst nach seinem Willen wie Kunstwerke zu formen, um sie dann nach allen Regeln der Kunst zu zerstören. „Er hatte eine Art Blaubart-Komplex“, las ich in Françoise Gilots Buch Leben mit Picasso, „der ihm das Verlangen eingab, allen Frauen, die er in seinem kleinen Privatmuseum gesammelt hatte, die Köpfe abzuschlagen. Aber er schlug die Köpfe nicht ganz ab. Er mochte es, wenn sie noch weiterlebten, wenn die Frauen immer noch kleine Piepser und Schreie, fröhliche oder traurige, von sich gaben, und ein bisschen gestikulierten wie zerstörte Puppen, gerade genug, um zu beweisen, dass noch Leben in ihnen war, dass es nur an einem Faden hing und dass er den Faden festhielt.“

Picasso der Puppenspieler. Das passt ins Bild des selbstbewussten, egomanischen Künstlers. Aber wer war diese Frau, deren strahlendes Lächeln ich schon so lange kannte, ohne auch nur ihren Namen zu wissen, geschweige denn, was aus ihr geworden war? Wie hatte sie es geschafft, wieder den Weg hinaus aus dem Labyrinth des Minotaurus zu finden, nachdem sie immerhin zehn Jahre lang mit ihm gelebt hatte?

Françoise Gilots Geschichte klingt wie ein Märchen, aber sie ist wahr. Sie handelt von den Abenteuern einer Frau, die unter Monstern und Göttern gelebt, aber sich zeitlebens geweigert hat, gefressen oder heiliggesprochen zu werden. Ob als Malerin, Schriftstellerin, Philosophin oder Mutter blieb sie sich selbst treu und bewahrte sich auf diese Weise eine unwahrscheinliche Kraft, es mit dem Leben aufzunehmen. Auf eine Art, die so ganz anders ist als die waffenklirrende Aggressivität der Männer, ging sie als Siegerin aus der Geschichte heraus. Kein Zufall, dass nicht der Stier, sondern das Pferd ihr Lieblingstier ist.

Der große Mann ist ein öffentliches Unglück, sagt ein chinesisches Sprichwort. In seinem Schatten sehen die Mitmenschen wie Zwerge aus, und nicht selten frösteln sie. Picasso war sich dessen bewusst. „‚ Jeder positive Wert hat seinen Preis in negativen Begleiterscheinungen‘, dozierte er gerne, ‚und du wirst nie etwas Großes sehen, das nicht gleichzeitig auch mehr oder weniger entsetzlich wäre. Der Genius Einsteins führt nach Hiroschima.‘“

Also versuchte er gar nicht erst, die fatalen Nebenwirkungen seiner Existenz auf andere zu mildern, und lebte rücksichtslos nach der Maxime, dass man als Künstler eben kein Engel sein könne. Schließlich hatte auch er einen Preis für die unbedingte Hingabe an die Kunst zu zahlen. „In einer solchen Lage fängt man an, die Leiden, die man anderen zufügt, im gleichen Maße sich selbst zu bereiten. Es geht um die Erkenntnis der eigenen Bestimmung, nicht um Bosheit oder Gefühllosigkeit.“ Umgeben von einem Hofstaat heuchlerischer Jasager zahlt der große Mann für sein Genie mit einer ungeheuren Einsamkeit.

Aber dies ist nicht die Geschichte eines großen Mannes, sondern die einer großen Frau − der einzigen, die Picasso als gleichwertig anerkennen musste. Die Malerin Françoise Gilot wusste, dass Picasso, der berühmteste Künstler seiner Zeit und seit drei Jahrzehnten an die Schmeichelei und Bewunderung der Welt gewöhnt, in Wirklichkeit der einsamste aller Menschen war. Als sie ihn 1943 kennen lernte, lebte er längst in seiner eigenen, inneren Welt, in der er sich vor den Zumutungen der Gesellschaft einschloss.

Sie ahnte, worauf sie sich einließ. Picasso selbst hatte sie gewarnt, dass jede Liebe nur eine bestimmte Zeit überdauere. Sie wusste, dass sie mit Blaubarts früheren Frauen leben musste, und sah mit klarem Blick, dass alle ihre Vorgängerinnen − so unterschiedlich sie auch waren − am Ende doch immer von der Bühne gestürzt waren. „Sie waren alle auf verschiedene Art gescheitert, aus sehr verschiedenen Gründen. Olga zum Beispiel verlor das Spiel, weil sie zu viel verlangte. Man könnte also annehmen, wenn sie nicht zu viel und darunter Dinge, die grundsätzlich dumm waren, verlangt hätte, wäre sie nicht gescheitert. Aber Marie-Thérèse Walter forderte nichts, sie war sehr lieb und anschmiegsam, und sie scheiterte doch. Dann kam Dora Maar, die alles andere als dumm war, eine Künstlerin, die ihn in einem viel höheren Grade verstand als die anderen. Auch sie scheiterte, obwohl sie, wie die anderen, ihm ganz bestimmt vertraut hatte.“

Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen ging Françoise Gilot sehenden Auges in das Abenteuer: „Ich wusste, es würde eine Katastrophe werden“, sagte sie mir, „aber eine Katastrophe, die zu leben sich lohnen würde.“

Katastrophen kannte ich aus eigener Erfahrung. Aber dass sie sich lohnen können, war mir neu. Also hakte ich nach: Hatte sie es nie bereut, sich mit Picasso eingelassen zu haben?

Sie lachte nur. „Reue ist pure Zeitverschwendung. Außerdem ist es viel interessanter, mit einem besonderen Menschen etwas Tragisches zu erleben, als ein wunderbares Leben mit einer mittelmäßigen Person zu führen. Es ist ein Irrtum zu glauben, du kannst deinen Frieden mit einem durchschnittlichen Menschen finden. Denn oft wird dieser Mensch mehr Zeit brauchen, um dich zu zerstören, besonders wenn du eine Frau bist!“

Hatte sie nicht recht? Sind wir nicht oft selbst daran schuld, dass unser Leben langweilig und fad erscheint? Weil wir, ängstlich und vorsichtig, wie man uns nun einmal erzogen hat, nach Sicherheit und faulen Kompromissen suchen? Und sind es oft nicht gerade die Frauen, die sich ihr Leben von Männern zerstören lassen, indem sie sich in die traditionelle Rolle als Hausfrau und Mutter zwingen lassen, bis sie irgendwann freiwillig darauf verzichten, ihre geheimen Wünsche wahrzumachen? Allen Feminismusdebatten und Gleichstellungsinitiativen zum Trotz herrscht heute wieder das Vorurteil, als Frau könne man Beruf und Familie nicht wirklich miteinander vereinbaren. Das Leben der Françoise Gilot beweist, dass es doch möglich ist, als Frau in einer Männerwelt zu reüssieren. Allerdings braucht es dazu keine Quotenregelungen, sondern persönlichen Mut und Energie.

Françoise Gilot erinnerte mich daran, dass Selbstzufriedenheit und Routine die größten Feinde eines glücklichen Lebens sind, denn dieses Glück hat einen Preis: „Wenn du wirklich leben willst, musst du etwas Dramatisches riskieren, sonst lohnt sich das Leben nicht. Wenn du etwas riskierst, erlebst du auch schlimme Dinge, aber du lernst vor allem eine Menge und lebst und verstehst immer mehr. Vor allem wirst du nicht langweilig. Das ist das Allerschlimmste: langweilig werden.“

Das Vermächtnis dieser außergewöhnlichen Frau war größer als ihre Bilder und Bücher. Sie war eine Philosophin des Glücks, die noch der schwärzesten Tragikomödie des Lebens ein Lachen abgewinnen konnte.

Die Textpassage stammt von den Seiten 36 bis 41.

Malte Herwig: Die Frau, die Nein sagt: Rebellin, Muse, Malerin - Françoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso. Ankerherz Verlag. 176 Seiten, 29,99 Euro.