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Anmerkungen von einem Kritiker Benedikts XVI.

Was bleibt vom Heiligen Vater?

Alan Posener10.03.2013

Machen wir uns nichts vor: Der Rücktritt des deutschen Papstes markiert einen Einschnitt. Er teilt die Geschichte der katholischen Kirche ein in eine Zeit vor dem Rücktritt Benedikts und eine Zeit danach. Es ist eine weitere Ironie dieses an Ironie so reichen Pontifikats, dass es ausgerechnet einer konservativen Gestalt wie Joseph Ratzinger mit seinem Schritt gelungen ist, einem modernen Verständnis des Papsttums den Weg zu bahnen: Nicht mehr Heiliger Vater der katholischen Christenheit, sondern CEO eines Weltunternehmens.

Das ist natürlich überspitzt formuliert, und – zugegeben – es kann auch anders kommen. Überspitzt, weil ja das Kirchenrecht durchaus den Rücktritt des Pontifex Maximus – des „obersten Brückenbauers“ – vorsieht; und anders kann es immer kommen. Etwa wenn ein Charismatiker vom Schlage Johannes Pauls II. dem Amt etwas von seinem Mysterium zurückgibt. Aber etwas ist in die Welt gesetzt worden, das spüren alle: Wer zurücktreten kann, weil ihn das Amt überfordert, der bürdet auch seinen Nachfolgern die Erwartung, ja geradezu die Pflicht auf, ihrerseits zurückzutreten, wenn sie überfordert werden. Und da die Welt so ist, wie sie ist, der Vatikan so ist, wie er ist, die Kirche so ist, wie sie ist, und da das Amt jeden früher oder später überfordern muss: Das Eingeständnis des Überfordertseins schließt das bisher Undenkbare ein, dass auch ein Papst-Rücktritt verlangt werden kann: von der stets zur Intrige neigenden Hierarchie, von unbotmäßigen Bischöfen, vom Kirchenvolk, von den Medien. Als wäre der Papst ein erfolgloser Fußballtrainer, ein gescheiterter Politiker oder eben ein Manager, dem es nicht gelungen ist, das „Shareholder Value“ des ihn beschäftigenden Unternehmens zu steigern. „Papst a.D.“ titelte das Berliner Boulevardblatt „B.Z.“ am Morgen danach, und traf damit so sicher ins Schwarze wie die „Bild“ nach der Wahl Benedikts mit „Wir sind Papst!“.

Dieser Rücktritt ist das Eingeständnis eines grandiosen Scheiterns. Wollte doch Joseph Ratzinger nicht weniger als die Überwindung der Aufklärung mit dem Mittel der Vernunft. Das war der Kern jenes „Kampfes gegen den Relativismus“, den Benedikt XVI. zum Motto seiner Amtszeit machte, der „benedittinischen Wende“, die seine Anhänger und Claqueure ausriefen. Es gibt eine absolute Wahrheit, das ist der Kern seiner Botschaft. Sie ist mit dem Intellekt erschließbar und identisch mit jener „Verbindung von Jerusalem und Athen“, wie Joseph Ratzinger gern sagt, von jüdisch-christlicher Theologie und griechisch-paganer Philosophie, die in den Lehren der katholischen Kirche verkörpert ist. Vermutlich war Benedikt XVI. der letzte Papst, der derart in der Geistesgeschichte Europas beheimatet ist, dass er sich eine solche Herkules-Aufgabe zutrauen könnte. Und der letzte, dem das überhaupt wichtig ist.

Platoniker auf dem Stuhl Petri

Joseph Ratzinger war Ideologe im besten und im schlechtesten Wortsinn. Benedikt XVI. war kein Mystiker wie sein großer Vorgänger; kein Hirte wie Johannes XXIII. Er war ein Ideenmensch, ein Platoniker auf dem Stuhl Petri. Alles, was er unternahm, war dem Kampf gegen die materialistische Vernunft untergeordnet, die er als Pathologie der wahren Vernunft begriff. Auch und gerade die Arbeit an seinen Jesus-Büchern, die von den Medien gern als Hobby eines weltabgewandten Gelehrten dargestellt wurde. Im Gegenteil: Diese Bücher stellen einen Generalangriff auf die historisch-kritische Bibelwissenschaft dar, die für Joseph Ratzinger kaum weniger gefährlich ist als der „Evolutionismus“, wie er die Darwinsche Theorie bezeichnet, oder die politische Korrektheit einer permissiven Gesellschaft, die es angeblich nicht mehr erlaube, von der Homosexualität nicht nur als Sünde, sondern als einer „objektiven Ordnungsstörung im Aufbau der menschlichen Existenz“ zu reden, wie er klagte.

Joseph Ratzinger glaubte, mit den Mitteln der Philosophie und – ja, auch – der Wissenschaft die Uhr zurückdrehen zu können. Dafür schien die Zeit auch günstig. Mit dem Angriff islamischer Dschihadisten auf das World Trade Center war die Religion mit einem Knall ins Zentrum der Gesellschaft zurückgekehrt. Viele Menschen im Westen wurden gewahr, dass in der Mitte ihrer behäbigen religiösen Indifferenz ein Loch klaffte, so groß wie die Lücke, die das zusammenbrechende World Trade Center in die Skyline Manhattans riss. Und wenige Jahre nach der Wahl Ratzingers zum Papst schaffte die Wall Street selbst, was den Terroristen nicht gelungen war: das Gebäude des Kapitalismus so zu erschüttern, dass er sich bis heute nicht davon erholt hat. Lag es da nicht nahe, an der materialistischen Vernunft irre zu werden? „Die seelenlose Moderne ist an ihr Ende gelangt!“ jubelte zu Beginn der Ära Benedikt der katholische Publizist Martin Lohmann.

Dies war die Situation, in der ich, beunruhigt durch die Bereitschaft vieler Kollegen und Freunde, das Erbe der Aufklärung aufzugeben, eine Streitschrift gegen Benedikt XVI. plante – ein Buch, das kein einziger großer deutscher Verlag drucken wollte. Erst nach der Affäre um die Pius-Brüder klingelten bei meiner Agentin die Telefone. Die Taschenbuchausgabe des Buchs erschien unter dem Titel „Der gefährliche Papst“. Aber ich habe mich geirrt. Benedikt begründete keine Ära, sein Pontifikat bleibt eine Episode. Nach seinem Rücktritt wird dieser Mann des Wortes schweigen müssen; das hat er sich selbst auferlegt, und das wird sein Nachfolger ja auch erwarten. Am Ende ist Benedikt nicht ein gefährlicher, sondern ein tragischer Papst geworden.

Wird man ihn vermissen? Eines kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen: Diejenigen, die von einem nichteuropäischen Papst eine Lockerung der Sexualmoral, eine Aufhebung des Zölibats oder eine größere Rolle für Frauen in der Kirche erwarten, dürften enttäuscht werden. Gerade in Afrika etwa vertritt die Kirche – nicht nur die Hierarchie, sondern auch das Kirchenvolk – eine noch rigidere Sexualmoral als es Ratzinger tat. Kardinal Peter Turkson aus Ghana etwa, dem Chancen eingeräumt wurden, der erste schwarze Papst seit dem 6. Jahrhundert zu werden, hält die Missbrauchsaffäre für eine Folge europäischer Anfälligkeit für die Homosexualität, gegen die aufgrund „traditioneller Systeme“ die meisten Afrikaner gefeit seien. Er hat auch die Verfolgung von Homosexuellen in Afrika verteidigt. Turkson ließ übrigens bei einer Bischofssynode im Vatikan ein Video zeigen, in dem behauptet wird, aufgrund „muslimischer Demographie“ würden große Teile Europas in wenigen Generationen islamisch, und forderte eine Missionierungsoffensive zur Bekämpfung dieser Gefahr. Benedikt XVI. hingegen hat sich – trotz der Verstörungen, die seine Regensburger Rede hervorrief – wie kein Papst vor ihm um gute Beziehungen zum Islam bemüht, den er nicht als Gegner, sondern als Mitkämpfer gegen die gottvergessene Moderne betrachtet. Man mag diese Haltung kritisch sehen, aber ob eine aus dem afrikanischen Kontext geborene islamfeindliche Mentalität der Kirche in Europa nützt, dürfte fraglich sein.

Wenn Joseph Ratzinger auch ein Gegner der Aufklärung ist, so bedeutet ihm die Aufklärung gerade deshalb viel. Emblematisch war der Dialog zwischen dem damaligen Kardinal und Chef der Glaubenskongregation und dem Philosophen Jürgen Habermas. Leider fand dieser Disput kaum Nachahmer und wurde auch nicht von Benedikt XVI. fortgeführt. Ratzinger entstammt aber gedanklich und kulturell einer Tradition, die auch „religiös unmusikalischen“ Denkern wie Habermas gegenwärtig ist. Das könnte sich bereits mit dem nächsten Papst unwiderruflich ändern. Der Vatikan könnte den Deutschen – gerade den deutschen Katholiken! – dadurch noch fremder werden. Doch hat Benedikt als „Heiliger Vater“ seinen verlassenen Kindern mit dem Beispiel seines Rücktritts zum Abschied ein Geschenk gemacht, dessen wahre Bedeutung – zum Leidwesen seiner Nachfolger – erst mit der Zeit sichtbar werden dürfte.
Alan Posener
Alan Posener ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der „Welt am Sonntag“. Zu seinen zahlreichen Büchern gehören u.a. „Der gefährliche Papst. Eine Streitschrift gegen Benedikt XVI.“ (Ullstein 2012) und „Benedikts Kreuzzug“ (Ullstein 2009). Zuletzt erschien „John F. Kennedy“ (Rowohlt, 2013). welt.de

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