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Ein Berliner Zwist über die Kirche und das Alte Testament

Was ist die Heilige Schrift?

Welche Bedeutung hat das Alte Testament für die christliche Lehre? Anmerkungen zu einer Debatte, die die Grundlagen unserer Kultur berührt.

Wilfried Härle15.06.2015

Unter dem Titel „Die Kirche und das Alte Testament“ stellte der Berliner Systematische Theologe Notger Slenczka am 3. Oktober 2013 im Rahmen eines Graduiertenkollegs über „Das Alte Testament in der Theologie“ seine Position zur Diskussion. Er wolle damit diejenigen, die sich in Selbstverständlichkeiten eingerichtet haben, aus ihnen herausrufen, sprich: provozieren, bemerkte er gleich zu Beginn. Das ist ihm gelungen, wenn auch nicht auf Anhieb.

Der Text seines Beitrags war kurz zuvor im Marburger Jahrbuch Theologie (Bd. 25, Leipzig 2013, Seiten 83–119) veröffentlicht worden. In der Diskussion auf dem Graduiertenkolleg stieß der Text auf einmütige Ablehnung bei den Anwesenden, ein neben mir sitzender Doktorand fragte mich am Schluss: „Sagen Sie mal: Meint er das ernst? Oder haben Sie ihn nur ins Programm genommen, damit die Tagung spannender wird?“ Ich habe meinem Gefühl Ausdruck geben, dass das ganz ernst gemeint war.

»Kanonische Geltung«

Was war und ist das Irritierende an diesem Beitrag? Erfreulicherweise beginnt und beendet der Autor seinen Text mit einer deutlichen Formulierung der These, die er vertritt, nämlich „dass das AT (=Alte Testament) … eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte“ (Seite 83) bzw. „dass die Texte des AT zwar selektiv Wertschätzung und auch religiösen Gebrauch, nicht aber kanonischen Rang verdienen“ (Seite 119).

Slenczka erhebt keinen Anspruch auf Originalität dieser These, sondern trägt sie als Verteidigung der ähnlich lautenden Forderung des liberalen Berliner Kirchenhistorikers Adolf von Harnack vor, der diese bereits vor knapp 100 Jahren in seinem Buch über Marcion (1921, Seite 248f.) aufgestellt hatte.

Um den Sinn der Thesen von Harnack und Slenczka zu verstehen, ist es vor allem nötig, sich darüber zu verständigen, was mit „kanonischer Geltung“ bzw. „kanonischem Rang“, was also mit „Kanon“ in diesem Zusammenhang gemeint ist. In den reformatorischen Bekenntnisschriften wird dies mehrfach mit Begriffen wie „Regel“, „Richtschnur“, „Norm“ und „Maßstab“ wiedergegeben. Und den Grundordnungen der evangelischen Kirchen ist zu entnehmen, was sie als den alleinigen kanonischen Maßstab anerkennen, an dem sich alle kirchliche Lehre und Ordnung messen lassen muss: die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments als das ursprüngliche (prophetische und apostolische) Zeugnis von der Selbstoffenbarung Gottes. Aus diesem kanonischen Textbestand (und nur aus ihm) sind die in der Kirche anstehenden Fragen der Lehre zu entscheiden. Das heißt: Die Schrift ist aus sich selbst zu interpretieren. Kirchliche Bekenntnisse oder Dogmen und theologische Lehren haben nicht denselben Rang, sondern gelten als zeitbedingte und zeitgemäße Auslegungen des biblischen Zeugnisses. Sie verdienen als solche Achtung, müssen sich aber auf ihre Übereinstimmung mit der biblischen Norm hin überprüfen lassen.

Die These von Harnack und Slenczka besagt also: Das AT verdient diesen kanonischen Rang in der christlichen Kirche nicht, da es nur „ein Zeugnis einer Stammesreligion mit partikularem Anspruch“ (so Slenczka, Seite 94) ist und deshalb auch nur für das Judentum kanonischen Rang beanspruchen und erhalten kann.

Das ist die klare These von Slenczka. Der kanonische Rang des AT soll abgeschafft werden. Eine andere „Abschaffung des AT“ hat er nicht vorgeschlagen. Sie wäre ja auch sinnlos (was sollte man sich darunter überhaupt vorstellen? ein Bücherverbot?). Aber diese von ihm vorgeschlagene Abschaffung des kanonischen Rangs trifft das Zentrum der Kanonsfrage und damit der Schriftautorität.

Ich könnte mir vorstellen, dass viele mit dieser These Harnacks/Slenczkas sympathisieren, wenn sie z.B. an die Rachepsalmen, an die Kriegsbejahung, an die Ausrottung der Nachbarvölker Israels, an die Fülle der Speiseverbote und an die zahlreichen mit Todesstrafe versehenen moralischen Normen denken, die es im AT gibt. Und all das findet sich im Neuen Testament (=NT) nicht. Das scheint doch zu zeigen, dass das AT für die christliche Kirche tatsächlich keine kanonische (sondern nur in manchen Teilen eine religiös-erbauliche) Rolle spielen kann.

Das wäre dann der Fall, wenn 1.) „Kanon“ hieße, dass alle darin vorkommenden Aussagen normative Bedeutung haben, und wenn 2.) die Abweichungen des NT vom AT sich von anderswo erklären ließen als aus dem AT selbst. Aber beides ist nicht der Fall.

Vertiefung statt Umsturz

Für die kanonische Bedeutung der Bibel gilt insgesamt, dass sie sich nicht auf isolierte Einzelaussagen bezieht (das wäre die Haltung des Biblizismus), sondern auf den Inhalt des Gesamtzeugnisses der Schrift von der Selbstoffenbarung Gottes. Und die Impulse, die in der Verkündigung und dem Lebenszeugnis Jesu zur Überwindung der oben genannten alttestamentlichen Verschärfungen und Verengungen geführt haben, stammen alle schon aus der im AT bezeugten Gottesoffenbarung: Ihre Intention wird aber im Neuen Bund tiefer verstanden und konsequenter zur Geltung gebracht.

So wird im NT der alttestamentliche Schöpfungsglaube für die Überwindung der im AT noch vorausgesetzten Einteilung der Geschöpfe in reine und unreine herangezogen (siehe Markus 7, 14-23; Römer 14,14; 1. Timotheus 4,4). Und das Gebot der Feindesliebe, das es so im AT noch nicht gibt, wird im NT entfaltet aus dem alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe und aus seiner Begründung in Gottes Wirken. Und der universale Heilswille Gottes für alle Menschen und Völker wird im NT aus den bereits im AT überlieferten universalen Verheißungen Gottes abgeleitet (1. Mose 12,3; 22,18; 28,14; Psalm 145,9 und oft; vgl. mit Apostelgeschichte 3,25; Galaterbrief 3,8 ), genauer gesagt: All das wird aufgrund der Gottesoffenbarung in Jesus Christus im AT als dort schon vorhanden entdeckt und wiedererkannt.

In der Argumentation von Harnack und Slenczka fehlt die grundlegende Einsicht, dass die neue Gotteserkenntnis durch Jesus Christus eine das AT nicht umstürzende, sondern voraussetzende und vertiefende Gotteserkenntnis ist, die ohne den im AT bezeugten Gottesglauben gar nicht gegeben wäre. Das AT ist dabei nicht nur eine Vorstufe des NT. Das Christentum hat alles aus der Gottesoffenbarung an Israel, wie sie im AT bezeugt ist, empfangen und übernommen: die Heilige Schrift, den Schöpfungsglauben, die Zehn Gebote, das Kommen des Messias und die universale Heilshoffnung, aber die Erkenntnis alles dessen hat sich durch Jesus Christus zugleich vertieft und geweitet.

Harnacks und Slenczkas Vorschlag sägt faktisch den kanonischen Ast ab, an dem das Evangelium von Jesus Christus hängt. Die „selektive Wertschätzung“ und der „religiöse Gebrauch“ des AT, die stattdessen von ihnen angeboten werden, sind dafür kein Ersatz. Von daher ist es verständlich, dass der Beitrag Slenczkas auf unserem Graduiertenkolleg keine positive Resonanz fand. Das wäre in anderen Gremien vielleicht anders gewesen – insbesondere bei Menschen und Gruppierungen, die der Auffassung sind, dass (auch) in Fragen des Glaubens wir selbst willkürlich bestimmen, was für uns maßgeblich, orientierend und normativ sein soll. Man merkt bei dieser Position erst auf den zweiten Blick, dass damit die Frage nach einem kanonischen Maßstab, an dem wir uns orientieren können, ersetzt wird durch unsere eigenen Vorstellungen von dem, was richtig und zeitgemäß ist. Damit wird jeder Kanon (nicht nur der alttestamentliche) hinfällig und verabschiedet. Bei Slenczka heißt das: „Das Christentum ist in der Gegenwart bei sich selbst angekommen …“ (Seite 94). Und was wird in Zukunft geschehen?

Falsche Skandalisierung

Nach dem Graduiertenkolleg geschah zunächst als weitere Reaktion auf Harnack/Slenczka nichts. Das war auch nicht nötig. Alles Nötige war ja im Kreis der Nachwuchswissenschaftler und Kollegen gesagt worden. Aber dann entdeckte einige Monate später der Präsident des Koordinierungsrates der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pfarrer Friedhelm Pieper, den Aufsatz von Slenczka und stilisierte ihn zu einem „handfesten theologischen Skandal im gegenwärtigen deutschen Protestantismus“ hoch, und Micha Brumlik entdeckte darin gar „eine Neuauflage des protestantischen Antijudaismus“.

Das veranlasste eine Gruppe von fünf Berliner Fakultätskollegen zu einer scharfen öffentlichen Distanzierung von Slenczka. Worauf dieser offensiv reagierte und den Kollegen ebenso öffentlich mangelnde Wissenschaftlichkeit vorwarf. Das traf einen besonders, den Kirchenhistoriker Christoph Markschies, der zur Zeit in der EKD Vorsitzender der Kammer für Theologie ist; denn Markschies hatte eine öffentliche theologische Diskussion mit Slenczka über die Kanonsfrage mit der Begründung verweigert: „Über solche Thesen diskutiert man so wenig wie über die These, dass die Erde doch eine flache Scheibe ist.“

Damit hat der Berliner Streit einen betrüblichen Tiefpunkt erreicht. Statt sich mit den problematischen und gefährlichen Thesen Harnacks und Slenczkas argumentativ auseinanderzusetzen, versucht Markschies seine(n) Kollegen lächerlich zu machen. Die Auseinandersetzung über den kanonischen Rang des AT muss in Kirche und Theologie aber ernsthaft geführt werden. Das hat sie verdient.

Wilfried Härle
Professor Dr. Wilfried Härle ist emeritierter Professor für Systematische Theologie der Universität Heidelberg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, 2018 erschien „Worauf es ankommt: Ein Katechismus. Mit einem Geleitwort von Christian Schad”. w-haerle.de

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