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Die Pädophilie-Debatte der Grünen

Das Finale einer verstörenden Entwicklung

Franz Walter15.11.2013

Es gab bessere Jahre für die Grünen als 2013. In einer gewissen Weise markiert das gegenwärtige Jahr gar eine Zäsur. Zuvor pflegten die Grünen die Jahrzehnte seit 1968 als eine Ära vermehrter Liberalität, kosmopolitischer Weltoffenheit, ökologischer Sensibilität und gelassener Toleranz gegenüber Minderheiten zu beschreiben und die damit positiv konnotierten Züge auf das Konto der eigenen Partei bzw. der befreundeten oder vorangegangen sozialen Bewegungen zu verbuchen.

Mit der Pädophilen-Debatte des Jahres 2013 aber richtete sich der Blick plötzlich schärfer auf Linien des grünen Entwicklungsromas, auf Pfade der idyllisch verfassten Emanzipationsgeschichte, die nicht nur erfreuliche Freiheitszuwächse, sondern auch schmerzhafte Grenzverletzungen, Missbräuche und Traumata, kurz: Opfer hervorbrachten. Nun gerieten die frühen Jahre der Grünen-Partei, die erste Hälfte der 1980er Jahre, verschärft in das Zentrum einer harten Kritik. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich damit in einem größeren Forschungsprojekt intensiv zu beschäftigen. Doch möchte er in dem vorliegenden Beitrag, zum besseren Verständnis von Ursache, Hintergrund und Kontext, auf die Jahre vor den Grünen schauen. Was sich bei den Grünen in ihrer Entstehungszeit abspielte, war schließlich mehr das Finale als die Ouvertüre einer verstörenden Entwicklung, die Jüngeren heute schier unverständlich vorkommt.

Die große Zeit der Sexual- und Strafrechtsreformer lag nicht in den 1980er Jahren, sondern in den 1960ern, genauer: zum Ausgang dieses Jahrzehnts. Der Geist, der diese Strömung trug, war liberal, auch radikaldemokratisch, im Selbstverständnis der Akteure: bürgerrechtlich. Es war der Geist all derer, die sich lösen wollten vom – wie sie es wahrnahmen – „Mief der Adenauer-Republik“, von der „sexualfeindlichen Bigotterie“ des Katholizismus. Die unabhängige Entscheidung und Freiheit des autonomen Einzelnen auch in der Sexualität bildete das Credo der Reformer. Dafür gab es seinerzeit einige gute Gründe. Die Ergebnisse der Reformbewegung goutieren bekanntlich die meisten heute weiterhin gern, seit einigen Jahren selbst Zugehörige (einst) konservativer Lebenswelten. Nur: Jede Emanzipationsbewegung hat Tücken, Ambivalenzen, produziert Opfer. Jede.

Liberale Strafrechtsreformer

Eben auch die, die sich innerhalb eines neuen liberalen Bürgertums der 1960er Jahre entwickelte. Seinerzeit bildete sich eine Gruppe von liberalen Strafrechtsreformern an den Universitäten, die mit Alternativentwürfen viel Aufsehen erregten – und à la longue vielfach segensreich gewirkt haben dürften. Zu dieser Gruppe zählten etwa die Jura-Professoren Jürgen Baumann, Ulrich Klug, Werner Maihofer, die in jenen Jahren den sich vom Nationalliberalismus verabschiedenden Freien Demokraten beitraten und im Jahrzehnt danach dort eine beachtliche Karriere als Minister und Senatoren absolvierten. In der Frage der Sexualdelinquenz argumentierten sie 1968 noch erkennbar vorsichtig. Gleichwohl hieß es in ihrem Entwurf:

  • Eine sachgerechte Ausgestaltung des Schutzes von Kindern gegenüber sexuellen Angriffen stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, nachdem die neuere Forschung immer deutlicher zeigt, dass mögliche Auswirkungen der Tat entscheidend von der Psyche des einzelnen Kinders und von der Reaktion der Umwelt abhängen. (…) Die Verfasser des AE (Alternativentwurfs) verkennen nicht, dass in der Mehrzahl der abgeurteilten Fälle eine echte oder anhaltende Schädigung wohl nicht eintritt. Und, daß die überkommenen gegenteiligen Vorstellungen im erheblichen Maße der Korrektur bedürfen.“

 

Auch in der erst allmählich entstehenden Kinder- und Jugendpsychiatrie tat sich etwas. Ebenfalls 1968 veröffentlichte der später als Pionier des Fachs gefeierte Reinhart Lempp, seit 1971 hochangesehener und vielfach geehrter Ordinarius an der Universität Tübingen, einen Aufsatz in der Neuen Juristischen Wochenschrift, in dem die Ergebnisse von Untersuchungen an 87 Kindern vorgestellt und interpretiert werden:

Die selbstverständliche Annahme einer seelischen Schädigung der Kinder durch sexuelle Delikte geht in Wirklichkeit auf eine tradierte besondere Tabuierung des Sexuellen überhaupt zurück und auf die bemerkenswerte Überbewertung der Verwerflichkeit sexueller Handlungen außerhalb ehelicher Beziehungen (…) Das Belastende für die Kinder ist dabei unbestreitbar die Reaktionsweise der sie umgebenden Erwachsenen, angefangen von den manchmal vorwurfsvollen Eltern bis hin zu dem misstrauisch erwarteten jugendpsychiatrischen Begutachtungen und den oftmals quälenden Befragungen vor Gericht. Allein über solche sexuelle Dinge vor einem Kreis erwachsener Menschen reden zu müssen, belastet solche Kinder mehr, als die Tat selbst, ja es belastet die Kinder oft ganz allein.“

Als im November 1970 ein Sonderausschuss des Bundestages für die Strafrechtsreform drei Tag lang 31 Experten anhörte und diskutieren ließ, wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Kinder tatsächlich einen großen Schaden erleiden, wenn sie sexuell missbraucht wurden. Wieder repetierte Lempp – dem es nach eigenen Aussagen um eine neue Rechtskultur der „stärker moralischen Verurteilung der Aggressivität gegenüber der Sexualität“ zu tun war – als Sachverständiger auf dem Hearing seine Expertise und verneinte seelisch nachwirkende Belastungen von Kindern durch ein sexuelles, „gewaltloses“ Delikt.

Tabubrecher im Feuilleton

In eine ähnliche Richtung ging seinerzeit auch der Feuilleton-Chef der linksliberalen ZEIT, Rudolf Walter Leonhardt, damals eine prägende Deutungsinstanz im bundesdeutschen Bildungsbürgertum. 1969 erschien sein Buch „Wer wirft den ersten Stein. Minoritäten in einer züchtigen Gesellschaft“ und Vorabartikel daraus eben in der ZEIT. Mit zumindest aus der Retrospektive abstoßendem intellektuellem Hochmut mokiert sich Leonhardt über die Ängste und Hysterie der „Spießer“. Als Kenner der Weltliteratur bemühte er Edgar Allan Poe, Georg Christoph Lichtenberg, Novalis, natürlich auch „Lolita“ von Vladimir Nabokov, um die Furcht vor Pädophilie als Paranoia nahezu der Lächerlichkeit auszusetzen. Und er lieferte ein pathetisches Plädoyer für den kreativitätsfördernden Verkehr großer männlicher Geister mit liebreizenden weiblichen Wesen im Kindesalter: Es ist auch nicht so entscheidend, wie Moralprediger denken wollen und manche Juristen denken müssen, ob die geschlechtliche Vereinigung wirklich vollzogen wurde oder nicht. Wichtig ist, dass jahrhundertelang ein zwölf- bis fünfzehnjähriges Mädchen als Gegenstand einer erotischen Leidenschaft vorgestellt und nachempfunden werden konnte. Die bezaubernden Geschöpfe in Mythos und Literatur, die viel bewunderten und hochverehrten Exemplare großer Liebe, sie waren manchmal jünger als zwölf und selten älter als fünfzehn.“

Dass Kinder psychische Verletzungen aus sexuellen Beziehungen mit Erwachsenen davon tragen könnten, mochte der spätere stellvertretende Chefredakteur der ZEIT partout nicht glauben. Dergleichen Besorgnisse hielt er für „verquere, verquollene Vorstellungen“. Dergleichen Irrlichtereien unter Intellektuellen fand man in jenen Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch und nicht zuletzt in Frankreich. Es war eine „autre temps“, wie Le Monde Jahre später erkennbar unangenehm berührt zurückblickte. Der Schriftsteller Tony Duvert erhielt Ende 1973 für seine Schilderung sexueller Kontakte von Erwachsenen zu Kindern in seiner Publikation „Paysage de fantaisie“ gar den renommierten französischen Literaturpreis Prix Médicis. Als im Januar 1977 drei Männer wegen Sexualdelikten gegen 13- und 14jährige Kinder im Gefängnis saßen und auf ihren Prozess warteten, solidarisierten sich etliche Intellektuelle mit den drei Angeklagten, deren Freilassung sie appellativ forderten. Darunter befanden sich Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Louis Aragon, André Glucksmann, der Sozialist und langjährige französische Bildungs- und Kulturminister Jack Lang sowie Sarkozys späterer Außenminister Bernard Kouchner. Als man Jahre später den Sex mit Kindern weniger gönnerhaft betrachtete, gab einer der Resolutionäre, der zwischenzeitliche Maoist und heutige Papist Philippe Sollers, zu seiner Entschuldigung an: „Damals gab es so viele Petitionen. Man unterschrieb sie fast automatisch.“

So war es in Frankreich. So erlebte man es, ganz besonders, in den Niederlanden. Und auf diese Weise ging es auch in Deutschland zu. Was anfangs noch recht spezialisiert wissenschaftlich und rechtspolitisch erörtert worden war, wuchs zum Bestandteil linksliberaler Intellektualität, die sich in den 1970er Jahren weiter entfaltete. Es war das Jahrzehnt, in dem Helmut Kentler ein Star der Jugendpädagogik und Sexualwissenschaft wurde. Seine Bücher, in denen er die Pädophilie mit denkbar großer Sympathie vorstellte, wurden Beststeller. Kentler veröffentlichte bei Rowohlt. Er kommentierte in Zeitungen, war gefeierter Redner in evangelischen Akademien. Die von ihm mitverfasste Aufklärungsbroschüre „Zeig mal! Ein Bilderbuch für Kinder und Eltern“, 1974 im von Hermann Ehlers (CDU) gegründeten und lange von Johannes Rau (SPD) geleiteten, infolgedessen sehr evangelisch geprägten Jugenddienst-Verlag (Rechtsnachfolger: Peter Hammer) erschienen, setzte sich in Deutschland 90.000 Mal, in den USA über 300.000 Mal ab. Im Vorwort betonte Kentler, dass sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern keineswegs bedenklich oder gar schädlich seien. Würden „solche Beziehungen nicht von der Umwelt diskriminiert“, dann seien vielmehr „positive Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten“. Ähnlich argumentierte sein Bremer Professorenkollege Rüdiger Lautmann, für den Sexualdelikte eher „Straftaten ohne Opfer“ waren. An den „hergebrachten Stereotypen“ zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern – die sexuelle Handlung hinterlasse beim Kinde einen seelischen Schock mit bleibenden Schäden – „stimmt nichts“.

Pädophile Gutachter

Auch die Gerichte zogen diese Wissenschaftler damals gern als Sachverständige in Missbrauchsfällen hinzu. Höchst zufrieden urteilte Kentler, seit 1976 Lehrstuhlinhaber für Sozialpädagogik und Sexualwissenschaft an der Universität Hannover, im Jahr 1977: „Ich bin sehr stolz darauf, dass bisher alle Fälle, in denen ich tätig geworden bin, mit Einstellung der Verfahren oder sogar Freisprüchen beendet worden sind.“ Im Übrigen war er fest davon überzeugt, dass „echte Pädophile“ „hochsensibel gegen Schädigung von Kindern“ seien. Naheliegenderweise bemühte sich am Ende des Jahrzehnts auch die „Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie“ (DSAP), die Kaderorganisation für pädophile Bestrebungen, um ihn; und in der Tat trat er 1980 zwischenzeitlich deren Kuratorium bei.

Die Gründung dieser DSAP erfolgte 1978, der offizielle Sitz war Krefeld; Regionalgruppen existierten etwa in Berlin, Hamburg, Münster, Düsseldorf, Frankfurt und München. In der DSAP hatten sich gleichsam die weltanschaulichen Vorkämpfer der Pädophilie jener Jahre in Deutschland organisiert, unterstützt von den hier allgemein als Vorbilder genommenen Avantgardisten der Pädosexualität aus den Niederlanden, wie etwa den sozialdemokratischen Juristen Edward Brongersma, ein langjähriges Mitglied des Holländischen Parlaments, dort auch Vorsitzender des Justizausschusses zwischen 1969 und 1977. Die DSAP war als Gast auf der Bundesdelegiertenkonferenz der damaligen FDP-Jugendorganisation im März 1980 geladen. Freudig hielt man im Nachgang fest, dass die Jungdemokraten dort beschlossen hätten: „Keine Bestrafung der freiwilligen und einvernehmlichen Sexualität. Die Paragraphen 173 (Inzest), 174 (Sexualität mit Schutzbefohlenen), 175 (besonderes ‚Schutzalter‘ für männliche Homosexuelle), 176 (Sexualität mit Kindern) sind zu streichen.“

Die Jungdemokraten waren im Übrigen große Bewunderer von Helmut Kentler. Anfang der 1980er Jahre kam dieser ausführlich in ihrer weit verbreiteten Broschüre „Solidarität und Erotik“ zu Wort. Kentler gab dort zum Besten, was bis dahin als eher vertraulich galt, nämlich dass er, unterstützt von der sozialdemokratischen Senatorin, in Berlin „jahrelang mit ausgesprochenen Unterschichtjugendlichen gearbeitet“ habe:

Wir haben sie teilweise unterbringen können, bei teilweise sehr einfach gelagerten Männern, zum Beispiel Hausmeistern, die pädophil eingestellt waren. Sie haben dort ein zu Hause gefunden, sie haben Liebe gefunden.“

Einige Jahre später beschrieb er in einem Gutachten für das Land Berlin ein weiteres Mal, wie er im Gefängnis Tegel drei wegen sexueller Kontakte zu minderjährigen Jungs straffällig gewordene Hausmeister aufgestöbert hatte, die er gleichsam zu Herbergsvätern für „jugendliche Herumtreiber“ machte. Der Auftrag für das Gutachten durch die Senatsbehörde erfolgte am 29. März 1988. Berlin wurde inzwischen schwarz-gelb regiert. Die zuständige Jugendsenatorin gehörte der FDP an, war auch Generalsekretärin der Bundespartei. Schon bei einem Hearing der FDP-Bundestagsfraktion am 6. Mai 1981 gehörte die Hälfte der „Sachverständigen“ zu moderaten bis dezidierten Apologeten von Pädophilie. Unter ihnen waren Lautmann und Kentler. Dieser betont vor den freidemokratischen Abgeordneten erneut: „Je früher solche sexuellen Kontakte stattfinden, umso problemloser werden sie überstanden.“

Notwendige Debatte

Das pädophile Plädoyer beschränkte sich also nicht auf grün-fundamentalistische Konventikel während der 1980er Jahre. Es begann früher und griff weit in bürgerliche Milieus hinein. Doch kaum jemand aus den damaligen Jahren äußert sich dazu, kaum jemand versucht, die frühere politische Haltung öffentlich nachvollziehbar zu machen. Niemand liefert Deutungen dafür, was seinerzeit warum für richtig gehalten wurde und heute aufgrund neuer Erfahrungen möglicherweise anders beurteilt werden sollte. In der Rückschau verblüffen gewiss die oft haarsträubenden Einseitigkeiten und Fehlurteilen. Viele Protagonisten der siebziger Jahre schauten mit bemerkenswerter Empathie überwiegend auf die Täter und ihre Lebensgeschichte und inneren Nöte, ließen demgegenüber in erstaunlichem Maße vergleichbare Aufmerksamkeit, gar Sensibilität für die Opfer vermissen.

Die Debatte über die damals strittigen Strafrechtsparagraphen und die Politik pädophiler Gruppen währt nun schon seit Monaten, substanziell begonnen aber hat sie im Grunde noch nicht.