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Zwischen Auftrag und Möglichkeiten

Bündnis in einer Welt ohne Ordnung

Überlegungen zur strategischen Ausrichtung der NATO

Klaus Naumann29.12.2015

Europa, ja die Welt haben seit 2014 Zäsuren erlebt, deren Auswirkungen noch Jahre zu spüren sein werden. Da ist zum einen Russlands Absage an Partnerschaft, obwohl es den Westen mehr braucht als der Westen Russland. Weit schwerer wiegt jedoch der Aufstieg des Islamischen Staates (IS), die damit entstandene Gefahr im Mittleren Osten und der unlängst nach Europa getragene Terrorismus. Unser Kontinent wird noch mehr Instabilität und Terrorismus erleben; er steht in einer jahrelangen, gewaltsamen Auseinandersetzung, die zum Teil auf Europas Boden ausgetragen werden wird.

Wir leben in einer Welt ohne Ordnung. Dies führt dazu, dass es künftig mehr Krisen denn konfliktfreie Zeiten geben wird, und keine Krise wird Deutschland unberührt lassen. Das ist die Kehrseite der Globalisierung, die in anderen Bereichen so viel Nutzen gebracht hat. Viele Krisen werden globaler Natur sein, fast alle werden die Anwendung aller Instrumente der Politik zur Bewältigung und Konfliktverhinderung verlangen. Sicherheit in und für Europa ist auch künftig nur zu erreichen, wenn die USA fest an Europas Seite stehen. Das setzt voraus, dass auch Europa fest an der Seite der USA steht. Das ist Sinn der NATO.

Das Strategische Konzept der NATO gibt dem Bündnis als Kernaufgaben Kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und Kooperative Sicherheit vor. Reicht dieses Konzept angesichts all der Veränderungen noch aus? Bräuchte man nicht doch eine neue Grundlage, um festzustellen, wie die Sicherheitsinstrumente Europas – also Streitkräfte, Polizei, Katastrophenschutz und Nachrichtendienste – zu verstärken wären?

Die Lage am Jahresbeginn 2016
Europa ist heute wieder bei meiner Lagebeschreibung von Anfang 1991 angelangt: Es ist umgeben von zwei Krisenbögen: einem im Osten westlich des Ural, einem im Süden entlang des Nordküste Afrikas, und beide kreuzen sich im Raum des Persisch/Arabischen Golfs.

Aber Europa ist schwächer geworden: Die als Kitt zur Einigung des Kontinents gedachte gemeinsame Währung hat nicht den erhofften Zusammenhalt gebracht. Die EU der 28 Mitgliedsstaaten ist zerstritten, sie hat über dem Ansturm der Flüchtlinge ihr Fundament Solidarität vergessen, die  Zweibahn-Straße von Geben und Nehmen. Auch ökonomisch hat Europa Schaden genommen, obwohl es noch immer zu den globalen Wirtschaftsmächten zählt. Politisch ist es kein globaler Akteur; u.a. auch, weil es militärisch schwach ist. Europa ist heute von den USA abhängiger als es im Kalten Krieg gewesen ist.

Die NATO hat bald 29 Mitglieder. Sie ist das einzige funktionierende Sicherheitsbündnis der Welt, aber seine Führungsmacht USA führt nicht mehr. Die USA sind autark und jedem Staat der Welt militärisch überlegen, doch sie sehen ihren Schwerpunkt in der Bewahrung von Frieden und Stabilität im asiatisch-pazifischen Raum. Aber sie bleiben Europa zum Beistand verpflichtet, weshalb ein großer Krieg auf unserem Kontinent unwahrscheinlich ist.

Russland ist trotz seiner Rüstungsanstrengungen keine Gefahr für eine geschlossen handelnde NATO. Doch wurde das Bündnis durch das russische Konzept der „hybriden Kriegführung“ überrascht, und es ringt noch um Antworten. Schwerer aber wiegt das Ende aller Hoffnung auf eine dauerhafte Partnerschaft mit Russland. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim hat das Land gezeigt, dass es nicht länger Partner Europas und der USA im Sinne der Charta von Paris sein will; es will seine eigene Einflusszone, in der es dominieren will. Die NATO muss deshalb weitere Abenteuer durch entschlossenen Schutz des NATO-Gebietes verhindern, ohne in einen neuen Kalten Krieg zu verfallen, und gleichzeitig die Tür zu neuer Partnerschaft offen halten.

Multipolare Unordnung
Auch der Aufstieg Chinas und die innere Zerrissenheit der USA beeinflussen Europas Sicherheit. Zwar hat China derzeit noch viele Schwächen, wodurch es für geraume Zeit global nur eingeschränkt handeln kann. Allerdings sind schon heute Entscheidungen gegen China kaum noch möglich. Die USA schließlich haben den unipolaren Augenblick nach Ende des Kalten Krieges verspielt, als sie unter dem Schock von 9/11 der Sicherheit Vorrang vor dem Recht gaben und irrigerweise versuchten, Staaten in Zentralasien und im Mittleren Osten Demokratie durch Gewalt aufzuzwingen. Nun ist die eigene Gesellschaft gespalten und will die Last des Führens nicht mehr tragen.

Das Ergebnis ist eine aus ihren Fugen geratene Welt. Die größte Gefahr geht gegenwärtig von nichtstaatlichen Akteuren aus, allen voran dem Islamischen Staat (IS). Sein Entstehen bedeutet eine globale Veränderung aller Sicherheit und eine Gefahr für alle Länder des sogenannten Westens, aber auch für Russland und China. Der IS kann zum Zerfall der Staatenwelt des Nahen und Mittleren Ostens  und des gesamten afrikanischen Nordens von Ägypten bis Nigeria führen.

In der Schlüsselregion Nahost versuchen derzeit die beiden regionalen Vormächte Saudi-Arabien und der Iran, sich gegenseitig einzudämmen; unfähig sich zu verständigen, tragen sie einen Stellvertreterkrieg auf dem Boden des Irak, Syriens und auch des Jemen aus. Beide könnten Atommächte werden, denn das Abkommen mit dem Iran bedeutet nur Zeitgewinn. Saudi-Arabien lässt die Option offen, mit Pakistans Hilfe nachzuziehen, und die Türkei bereitet sich ebenfalls vor. Die Gefahr neuen nuklearen Rüstens vor Europas Haustüren bleibt bestehen.

Die unmittelbare Gefahr aber ist die anhaltender, aber zunehmend nicht mehr auf Staatsgebiete begrenzter Bürgerkriege in der gesamten südlichen und südöstlichen Peripherie Europas. Die politischen Landkarten von Marokko bis Pakistan dürften im nächsten Jahrzehnt ganz anders aussehen.

Konsequenzen für Europa
Das im Gegensatz zu den USA von der Region abhängige, aber zu eigenem Handeln unfähige Europa wird mit den Folgen leben müssen: Unsicherheit in Energiefragen und zunehmende Flüchtlingsströme. Sollte dann auch noch die als Folge des Klimawandels vorhergesagte Migrationswelle aus der Tiefe Afrikas Wirklichkeit werden, dann wird die Südküste des Mittelmeers zu einer Region kaum beherrschbarer Instabilität werden. Es wird dann noch mehr Terrorismus, zerfallende Staaten und in zunehmendem Maße international organisierte Kriminalität geben. Die nichtstaatlichen Akteure werden über nahezu alle Möglichkeiten der Gewaltanwendung verfügen, die heute den Staaten vorbehalten sind; ein Ende des Gewaltmonopols der Staaten würde auch die westliche Idee von Rechtsstaatlichkeit ins Wanken bringen.

Hinzu kommt die Gefahr der Lähmung von Staaten durch Cyber-Angriffe, durchgeführt durch Staaten oder auch von nichtstaatlichen Akteuren. Die Fähigkeiten der Angreifer aus dem Dunklen wachsen schneller als die Fähigkeiten der Staaten, sich zu schützen. Zumal der Angriff auf diesem Gebiet billiger ist als die Verteidigung. Die Fähigkeit zur strategischen Lähmung ganzer – zunächst eher kleinerer – Staaten könnte die Idee entstehen lassen, die Machtmittel eines Staates präventiv ohne Zerstörung auszuschalten. Sieht man dann noch die rasante technische Entwicklung in den Bereichen Information, Aufklärung, Präzisionslenkung, Robotik, Nanotechnologie und Bionik, dann entstehen revolutionär neue Formen, Kriege zu führen.

Die NATO vor dem Gipfel von Warschau
Kann ein Bündnis wie die NATO mit zwangsläufig langwierigen Entscheidungsabläufen in dieser ungeordneten Welt der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure noch Sicherheit bieten? Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten werden sich im späten Frühjahr 2016 in Warschau treffen. Sie werden die Frage beantworten müssen. Im Vordergrund steht, den von Russlands Muskelspielen verunsicherten Mittel- und Osteuropäern überzeugend Rückversicherung zu geben und doch Russland zu signalisieren, dass der Weg zurück zur Zusammenarbeit offen bleibt. Auch die Staaten des Südens brauchen Versicherung. Die NATO muss zeigen, dass sie mit internationalem Terrorismus ebenso fertig werden kann wie mit hybrider Kriegführung. Die drei Aufgaben Kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und Kooperative Partnerschaft decken zwar dieses Spektrum ab, aber die Begründungen überzeugen nicht.

Braucht das Bündnis deshalb ein neues Strategisches Konzept? Mehr als ein Mandat zur Erarbeitung eines neuen Konzepts ist von Warschau nicht zu erwarten; u.a. auch, weil man den nächsten US-Präsidenten nicht vor seiner Wahl binden kann. In dem dann nach Warschau zu erarbeitendem Konzept muss gesagt werden, dass es nicht genügt, allein auf militärische Fähigkeiten zu setzen, dass man präventiv statt reaktiv handeln muss, und dass man angesichts knappen Personals und Geldes den NATO-Nationen nicht mehr allen Spielraum lassen kann, welche Sicherheitsorgane sie bereithalten..

Das Gebot der Stunde
Gebraucht werden veränderte Verfahren, um in Krisen schnell entscheiden zu können; gebraucht werden Wege, um gemeinsame europäische Komponenten aufzubauen, die zusammen mit den US-Kräften NATO-Kräfte bilden können; gebraucht wird ein Konzept, wie Europa und die USA plus Kanada in allen Politikbereichen für gemeinsame Sicherheit sorgen wollen. 

Ein neues Konzept der NATO, das alle Politikfelder anspricht, wäre der beste Weg, den Europäern zu zeigen, dass es mehr für die eigene Sicherheit zu tun gilt. Es könnte auch helfen, in Deutschland die noch immer vorhandenen Illusionen zu beseitigen, dass man durch Verzicht auf Gegengewalt immer eine Verhandlungslösung finden kann. Dann könnten die Deutschen nachdenken, ob eine Kultur der Zurückhaltung zu einer Zeit passt, in der es gilt, Konflikte aktiv, oft präventiv und unter Einsatz aller Mittel der Politik einer friedlichen Lösung zuzuführen.

Klaus Naumann
General a. D. Dr. Klaus Naumann (RC München-Schwabing)

war von 1991 bis 1996 Generalinspekteur der Bundeswehr und danach bis 1999 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses. Zu seinen Schriften gehören „Die Bundeswehr in einer Welt im Umbruch“ (Siedler, 1994) und „Frieden – der noch nicht erfüllte Auftrag“ (Mittler, 2002).

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