https://rotary.de/wirtschaft/von-einem-moloch-kann-keine-rede-sein-a-8017.html

» Von einem Moloch kann keine Rede sein «

Im Gespräch mit Kai Gniffke, der als Chefredakteur von ARD-aktuell Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung verantwortet

Malte Herwig01.09.2015

Ein Montagmorgen im Hamburger Nachrichtenstudio der ARD: In den USA fallen Schüsse auf eine Demonstration, in Istanbul attackieren Terroristen eine Polizeistation, und in Deutschland drohen die Erzieher mit dem nächsten Kita-Streik. Immerhin: Wenigstens das Wetter ist für Hamburger Verhältnisse sommerlich.

Kai Gniffke ist entspannt an diesem Morgen. Im Büro des Chefredakteurs von ARD-aktuell stehen neun Fernsehbildschirme, auf denen er mit Hilfe von fünf Fernbedienungen jederzeit das Weltgeschehen verfolgen kann. An der Wand hängen zwei Poster mit Motiven von van Gogh, ein gerahmtes Titelbild des Pariser Satiremagazins Charlie Hebdo und der Grimme-Online-Award, den Gniffke 2007 für seinen Tagesschau-Blog bekam. Der Nachrichtenchef der ARD ist nämlich nicht nur ein leidenschaftlicher Fernsehmacher, er bloggt auch gern auf der „tagesschau.de“-Website. Dabei nimmt er im Gegensatz zu den Nachrichtensprechern der Tagesschau kein Blatt vor den Mund.

Das gefällt nicht jedem. Neben dem Computer hat Gniffke eine Postkarte aufgestellt, darauf ein Mann, der sich erbricht. „Hallo Herr Gniffke”, schreibt der anonyme Absender, „Sie haben wirklich nichts verstanden, wenn Sie den Begriff ,Lügenpresse’ ablehnen… Sie sind ein elender Heuchler und widern mich an”.

Rotary Magazin: Herr Gniffke, was geht in Ihnen vor, wenn Sie solche Briefe lesen?
Kai Gniffke: Die kann ich oft nicht mehr ernst nehmen. In letzter Zeit passiert das häufiger, vor allem seit der Ukraine-Krise. Manche Kollegen sagen dann: Herr Gniffke, muss denn das sein, können Sie nicht ein bisschen vorsichtiger formulieren in Ihrem Blog? Ich sage: Vielleicht schon, aber ich lass mich doch nicht als Lügenpresse beschimpfen, wenn wir recht haben.

Ist Ihr Job als Nachrichtenchef nicht schon stressig genug, um sich auch noch ständig mit Ihren Kritikern zu zoffen?
Wenn ein Vorwurf nicht zutrifft, dann sage ich in klaren deutschen Hauptsätzen, was ich davon halte. Außerdem habe ich keinen Stress, wenn viel auf der Welt los ist. Tatsächlich ist es umgekehrt: Wenn mal kaum etwas passiert, ist es viel schwieriger, Sendungen und Websites zu füllen.

Früher war die Tagesschau eine Institution. Heute haben Sie immer noch neun Millionen Zuschauer, stehen aber unter Dauerbeschuss durch Blogger und anonyme Kommentatoren im Internet. Wie reagieren Sie darauf?
Indem wir uns dem Dialog stellen und immer wieder begründen, warum wir dieses oder jenes so entschieden haben. Es wäre falsch, solche Kommentare zu ignorieren, aber noch falscher, alles anders zu machen, nur damit wir nicht kritisiert werden. Wir Journalisten dürfen kritisiert werden – und wir dürfen auch antworten.

Kommt diese Streitlust aus Ihrer Kindheit? Sie stammen aus Frankfurt, wuchsen aber als Außenseiter in einem kleinen Dorf in der Eifel auf.
In unserem Dorf gab es 165 Einwohner und keine asphaltierten Straßen. Es gab keine Traktoren, das Getreide wurde mit Ochsenfuhrwerken vom Feld geholt und zum zentralen Dreschplatz gebracht. Die katholische Kirche hatte einen herausragenden Einfluss auf das Leben, aber meine Geschwister und ich waren nicht einmal getauft. Die anderen Kinder haben meinen Bruder an den Baum gebunden und mit Messern beworfen, weil er nicht an die Engel im Himmel glaubt. Mich haben sie mit Steinen beworfen und als „Zigeuner“ beschimpft.

Wie haben Sie überlebt?
Man braucht eine Steinschleuder und Verbündete. Mit zehn Jahren fand ich in der Klasse einen Freund aus dem Dorf – meinen besten Freund, den Freund, den man nur einmal im Leben hat und mit dem man durch dick und dünn geht. Der hat mir zur Seite gestanden und mir geholfen, die Dorfgemeinschaft zu knacken. Innerhalb von zwei Jahren wurde ich vollständig als deren Mitglied akzeptiert.

Wie hat Sie diese Kindheit geprägt?
Das klingt vielleicht pathetisch, aber ich habe ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und ein Gespür für mutige Menschen wie diesen Freund. Der hat natürlich damit auch selbst etwas riskiert und ist erst einmal auf Eisen gegangen. Ich schätze Leute, die mit gesundem Menschenverstand und nicht ideologisch an die Dinge rangehen.

Lassen Sie uns noch einmal über Ihren Job reden. Wer entscheidet, was in der Tagesschau zu sehen ist?
Die Chefs vom Dienst, die von morgens an hier sitzen und sich in die Nachrichtenquellen einlesen. Dann haben wir über den Tag verteilt mehrere Konferenzen, und wenn alle Argumente ausgetauscht sind und sich die Redaktion nicht einig ist, entscheide ich, was reinkommt und was nicht.

Aus dem Kopf oder aus dem Bauch?
Da spielt auch journalistischer Bauch eine Rolle. Ich erwische mich manchmal dabei, dass ich um 18 Uhr derjenige bin, der von allen am wenigsten in die Agenturmeldungen eingelesen ist. Trotzdem muss ich entscheiden, womit wir aufmachen. Die Mehrzahl dieser journalistischen Bauchentscheidungen sollte sich am nächsten Tag noch als gut begründbar erweisen. Oft bin ich aber viel mehr mit Management-Aufgaben beschäftigt.

Ist das nicht frustrierend für den Journalisten in Ihnen?
Im Gegenteil, ich erwische mich manchmal dabei, dass mir sogar Wirtschaftsplanberatungen Spaß machen können. Kommen wir mit dem Geld hin? Wo sparen wir ein, um anderswo etwas auch ohne zusätzliche Ressourcen aufzubauen – etwa den Bereich Social Media? Wir von ARD-aktuell sind gewissermaßen wie ein kleiner mittelständischer Betrieb mit rund 300 Angestellten. Die Leute haben alle ihre Ansprüche und wollen mit dem Chef reden.

Wie viel Entscheidungsfreiheit haben Sie da in einem Gremienmoloch wie der föderalen ARD?
Von einem Moloch kann keine Rede sein. Schließlich ist die föderale Struktur der Garant unserer Unabhängigkeit. Dabei genießen wir sehr viel Entscheidungsfreiheit. Ob ich einen oder zehn Menschen für Social Media einsetze oder wir mehr oder weniger Hintergrund in der 20-Uhr-Sendung liefern, das entscheiden am Ende wir, und keiner funkt uns dabei rein. Mir ist es wichtig, Entscheidungen über den Tag hinaus zu fällen. Wir machen jetzt viel häufiger in einer Tagesschau zwei Beiträge zu einem Thema: eine Meldung und ein Faktenstück mit Hintergrund.

Gibt es Grundsätze, denen Sie in Ihrer Arbeit treu geblieben sind?
Für mich ist immer noch der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant wichtig. Ich versuche, so mit meinen Leuten umzugehen, wie ich das gerne auch von meinen Chefs hätte. Zum Beispiel: Versprich nichts, was Du nicht halten kannst. Stehe zu Deiner Meinung, auch wenn es schwer ist oder unangenehm.

Sie haben 22 Semester studiert, bevor Sie Journalist wurden. Sind Sie ein gründlicher Mensch?
Ja, und ich verstecke den Studentenausweis noch immer vor meinen Kindern. Ich habe neben dem Studium schon journalistisch gearbeitet. Nachdem ich mit allen Bewerbungen für Praktika beim Südwestfunk und beim Hessischen Rundfunk fulminant gescheitert war, habe ich die klassische Ochsentour gemacht, bin ich „back to the roots“ in eine Lokalredaktion in die Eifel gegangen und habe mir einen Sommer lang jeden Tag die Finger wundgeschrieben.

Erinnern Sie sich noch an eine der Geschichten von damals?
Eines Tages sollte ich über den Besuch des Fremdenverkehrsausschusses in einem Dorf berichten. Die sind da ein bisschen herumgefahren, haben es sich gut gehen lassen und derbe Scherze gerissen und waren wieder weg. Der Redaktionsleiter sagte: Dann schreiben Sie das so. In meinen jugendlichen Leichtsinn tat ich genau das, zum Teil mit etwas zugespitzten Formulierungen. Aber mein Chef hat das Kreuz gehabt und hat das gedruckt. Am nächsten Tag schickte er mich auf einen Termin, an dem dieselben Leute vom Vortag teilnahmen. Die hatten meinen Artikel gelesen und haben mich geteert, gefedert und kleingehäckselt. Das war eine ganz wichtige Erfahrung für mich: Man muss den Menschen, über die man schreibt oder sich lustig macht, am nächsten Tag wieder in die Augen sehen können.

Danach gingen Sie bald zum Fernsehen, arbeiteten aber immer im Hintergrund. Wollten Sie nie vor der Kamera stehen?
Nein, man sollte seine Grenzen kennen. Ich hatte auch nie Ambitionen in der Richtung.

Haben Sie Vorbilder?
Nein, aber es gibt viele Menschen, von denen man sich etwas abgucken kann. Zum Beispiel die Kanzlerin. Von der kann man lernen, wie man weniger hormongetrieben Politik macht und einen Laden führt. Die lässt sich nicht auf jede Palme hochjagen. Was mir bei dieser Frau Respekt abnötigt ist, dass sie es geschafft hat, über all die Jahre mit wirklich schwierigen Persönlichkeiten wie Berlusconi und George W. Bush Politik zu machen – oder eine Koalition mit Horst Seehofer und Guido Westerwelle zu bilden, die beide sehr besondere Charaktere sind. Das ist enorm. Das schafft man glaube ich nur, indem man nicht jedes Mal durch die Decke geht, wenn man sich provoziert fühlt.

Die Tagesschau ist die letzte deutsche Nachrichtensendung, in der es noch Sprecher gibt. Ist das nicht ein bisschen altmodisch?
Das Sprecherformat ist Teil des Mythos Tagesschau. In der Sprache dagegen haben wir uns extrem verändert und sind viel alltagssprachlicher geworden. Die Fotosprache ist viel emotionaler geworden.

Trotzdem sehen junge Menschen kaum noch fern. Oder sitzen Ihre Kinder noch um 20 Uhr vor dem Fernseher?
Never! Die haben gar keinen Fernseher. Aber das macht nichts. Wir bringen die Tagesschau dort hin, wo junge Leute heute unterwegs sind: auf Facebook, Twitter, Website, App. Dort bieten wir demnächst speziell darauf zugeschnittenen Video-Content an. Ein kurzes Erklärformat in maximal 60 Sekunden sieht anders aus als der Beitrag in der 20-Uhr-Sendung. Sie brauchen Texteinblendungen, weil die Leute es oft ohne Ton auf Facebook sehen. Ähnlich Instagram: Ich habe 15 Sekunden für eine Nachricht. Ich muss sehen, was unsere Stärken sind. Einfach nur schnelle Nachrichten zu machen ist es nicht mehr. Das können inzwischen viele.

Zum Beispiel die „Bürgerjournalisten“, die mit der Handy-Kamera vor Ort filmen. Sind die eine Konkurrenz für Sie?
Nein, sie könnten jedoch eine Ergänzung sein. Mein Traum ist, dass wir irgendwann eine Community „Meine Tagesschau“ haben, wo uns die Leute Beiträge schicken, von denen sie glauben, das wär was für uns.

Wird es die Tagesschau in 20 Jahren noch geben?
Die Tagesschau gab es schon, als ich noch nicht auf der Welt war, und es soll sie noch geben, wenn ich nicht mehr auf der Welt bin. Das ist ein Generationenjob. Die Tagesschau ist eine wichtige gesellschaftliche Institution, und wir sollten nicht die Generation sein, die das Ding versemmelt. Wir werden alles daran setzen, sie überlebensfähig zu machen.