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Titelthema

Der Weg zum freiheitlichen Menschenbild

Titelthema - Der Weg zum freiheitlichen Menschenbild
23. Mai 1949: Konrad Adenauer unterzeichnet das Grundgesetz. Die Bundesrepublik wird gegründet © Picture-Alliance/DPA

Vom Refugium königlicher Sehnsucht zum Denkort einer demokratischen Maxime: Ausgerechnet auf Herrenchiemsee rückte der Mensch selbst mit seinen Freiheiten wieder in den Fokus.

Helmut-Eberhard Paulus01.05.2024

Die Überraschung erscheint perfekt. Auf der Schlossinsel Herrenchiemsee inmitten der Bilderbuchlandschaft um den See präsentiert sich ein Museum mit dem schlichten Titel „Verfassungsmuseum“. Eigentlich würde man erwarten, dass so eine Gedenkstätte von nicht nur nationaler Bedeutung etwas feierlicher zelebriert wird. Immerhin wurden im August 1948 an diesem Ort die Ideen entwickelt, die bis heute die Existenz der Bundesrepublik Deutschland garantieren und dem Land nach der nationalsozialistischen Katastrophe die Rückkehr in die Gemeinschaft der demokratischen Völker ermöglichten.

Freier Blick, freies Denken

Die offene Landschaft um den Chiemsee ist ein wahrer Anreiz zur Befreiung der menschlichen Seele, auch zur Selbstfindung und Entdeckung neuer Wege des Denkens. Wer nach Herrenchiemsee kommt, wird bald ergriffen von der Magie dieser Insel mit dem Geheimnis der Gedankenfreiheit. Ihre Faszination rührt von der einmaligen, kulturhistorisch geformten Landschaft her, deren Wesen nicht allein die Natur bestimmt, sondern auch die kulturelle und architektonische Prägung. Es ist eine Landschaft, hervorgegangen aus der sorgsamen Pflege durch bäuerliche Kultivierungsarbeit über Jahrhunderte. Ganz nach den Vorstellungen der menschlichen Ästhetik entstand ein vom harmonischen Gleichklang zwischen Natur und Kultur bestimmtes Bild, das in seinem spürbaren Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt völlig zu Recht das Prädikat der einzigartigen Kulturlandschaft sein Eigen nennt.


Artikel 146

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.


An diesem magischen Ort sind die Wege der Sehnsucht nach einer veränderten Welt nicht weit. Im Nachhinein erscheint es wenig überraschend, dass sich gerade hier ein „Braintrust“ von Experten zusammenfand, um nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs Gedanken zu entwickeln, wie man das Trauma verarbeiten könne, das der Unrechtsstaat hinterlassen hat. Man hätte keinen geeigneteren Platz dafür finden können. Neue Ansätze des Denkens waren gefragt, um den Weg für einen Verfassungsentwurf zu bereiten, der aus den Folgen des vorangegangenen Unrechtsstaats ein für alle Mal die Lehre zog. Und so tagte hier im August 1948 ein Konvent mit dem Auftrag, den Entwurf für eine freiheitlich-demokratische Verfassung zu erarbeiten, die auch dem Missbrauch der Freiheitsrechte einen Riegel vorschob. In Verantwortung vor dem Land und den Menschen galt es, eine radikale Befreiung vom alten Untertanenstaat zu vollziehen, gemäß dem Motto: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, wie Carlo Schmid es formulierte.

 

Für 13 Tage im August 1948 wurde aus dem Sehnsuchtsort inmitten des Chiemsees ein „Denkort der freiheitlichen Demokratie“. Und im historischen Rückblick wurden daraus Sternstunden des demokratischen Geistes, die bis in die Gegenwart leuchten.

Königliche Freiheit und Menschenwürde

Heute ist die Insel Herrenchiemsee in all ihren Zeitschichten und erlebbaren ästhetischen Facetten ein einziges Ensemble-Denkmal der kreativen Kraft der Sehnsucht nach einer anderen Welt. Dies beginnt historisch schon um 765 mit dem Vorläufer des Alten Schlosses, dem auf Herzog Tassilo zurückgehenden Kloster „Herrenwöhrd“, als Vision einer gottgefälligen Welt in bewusster Alternative zu der von Gewalt und Krieg geprägten mittelalterlichen Realität. Es setzt sich fort in der bewusst als Gegenkonzept zur Wirklichkeit entworfenen Kunstwelt eines Ludwig II. Der Genius der Landschaft verbindet beide Aspekte. Denn die sogenannten Königsschlösser des höchst individualistischen Märchenkönigs fanden ihre ästhetisch herausragenden Plätze nicht zufällig vor dem Horizont der ehrwürdigen Klöster, deren Patronat die Pflege der schönen Landschaft einst über Generationen anvertraut war.

In Ludwigs Schloss Herrenchiemsee stehen Darstellung und Vision der Sehnsüchte des Bauherrn im Vordergrund. Das Schloss ist ein Monument der konsequenten Selbstverwirklichung des Bauherrn und Künstlers in einer Person. Und es ist Teil seiner Selbstbestimmung im Wege einer Vision seiner Sehnsüchte im gewollten Kontrast zur Wirklichkeit.

Wo der König als Mensch sein Refugium fand, reiften im August 1948 die Ideen zur demokratischen Freiheit und Würde des Menschen. Nach der menschlichen Katastrophe des NS-Staats stand unter Wiederentdeckung und Fortentwicklung des humanistischen Menschenbilds nun der Mensch selbst mit seinen Freiheiten wieder im Fokus, mit der unantastbaren Freiheit des Denkens, mit dem schützenden Tabu der Menschenwürde, mit dem Grundrecht auf Entfaltung der Persönlichkeit. Inspiriert vom Refugium Herrenchiemsee, das in kontemplativer Kreativität Geschichtlichkeit mit intakter Umwelt vereint, erörterte der zur Aufarbeitung von Unrechtsstaat und Gewaltherrschaft berufene Verfassungskonvent nun das Naturrecht der Menschenwürde und betonte im Ergebnis die politische Relevanz dieser Menschenwürde als Maxime allen staatlichen Handelns.

Gleichzeitig fand der Verfassungskonvent vor einer geradezu aufreizenden Kontrastfolie statt, die dem Ereignis die Attitüde von Revolution und Kontinuität zugleich verlieh. In der Nachbarschaft von Ludwigs Schloss, vor den Kulissen einer musealisierten Vision des Absolutismus, nahm der Entwurf für ein neues demokratisches Menschenbild Gestalt an. Das Alte Schloss mit dem Esszimmer des Märchenkönigs wurde zum Sitzungssaal. Dennoch war die Situation keineswegs schlosshaft oder königlich. Denn ein Hungerwinter mit Kohlemangel, folglich die Zuteilung selbst jeder Zigarre und der Rationierung jedes Glases Bier begleitete die Zusammenkunft.

Freie Entfaltung als Schutzgut

Unter diesen erbärmlichen Voraussetzungen erscheint die Leistung des Konvents umso bemerkenswerter. Sie spannte einen ganz großen Bogen vom individualistischen Traum des Königs zur realistischen Vision des freiheitlichen Staats. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wurde als Schutzgut erkannt. Und daher wurden die Grundrechte des Menschen nicht nur als Fundament der Verfassung postuliert, sondern beanspruchten im Katalog der Grundrechte die Qualität geltenden Rechts mit bindender Wirkung. Zudem sollten die Grundrechte ihren herausgehobenen Platz am Anfang des Gesetzestextes erhalten, um ihre grundlegende Bedeutung zu unterstreichen.

Dieser Durchbruch von Herrenchiemsee sollte Bestand haben und wurde auch im folgenden Parlamentarischen Rat in Bonn nicht mehr revidiert. Auch in den Inhalten blieb das spätere Grundgesetz sehr wesentlich bei dem „Chiemseer Entwurf“, bis hin zur Übernahme textlicher Passagen und des Platzes der Grundrechte zu Beginn des Gesetzes. Aus dem Art. 1 des Entwurfs („Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar“) wurde der erste Satz des Grundgesetzes mit Gültigkeit bis heute: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Unser Glück, unsere Verpflichtung

Der Verfassungskonvent vom August 1948 auf Herrenchiemsee in Gestalt einer Klausur des demokratischen Geistes wurde im Ergebnis zur Geburtsstunde der bis heute tragenden Idee des freiheitlich demokratischen Staates. Nur auf den ersten Blick erscheint es als Widerspruch, dass die Sternstunde der Demokratie hier im Kleid eines Schlosses erscheint, das sich des Zitats absoluter Herrschaft bedient. Bei näherer Betrachtung erkennt man durchaus die tiefe Logik, die fast allen großen Geschichtsdenkmalen innewohnt. Denn die oft für selbstverständlich genommenen Jahrhundertereignisse unserer Geschichte verstecken sich nur zu gerne in den geheimnisvollen Schatztruhen, die der sorgsamen Erkundung bedürfen.

Auch jenseits der Tatsache, dass Herrenchiemsee in praktischer Hinsicht der ideale Ort für eine derartige Klausur war, gilt es festzustellen: Hier vermochte sich eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Meisterleistung demokratischer Initiative bewusst oder unbewusst der strahlenden Symbolkraft des Schlosses zu bedienen, nicht des Schlosses als Herrschaftssitz, sondern als Kulturerbe und Symbol des Landes. Vor aller Augen wurde damit die freiheitliche Demokratie in die Kontinuität des kulturellen Erbes und der Geschichte des Landes gesetzt. Und deshalb vermag die Geburtsstunde unserer Demokratie, einschließlich der manchmal spröden, aus dunkler Vergangenheit gezogenen Lehre, heute im Lichte erhabener Schönheit zu erstrahlen. Offenbar wusste das Schicksal um die Bedeutung dieser Geburtsstunde der Demokratie!

Umso mehr sehen wir uns heute verpflichtet, aus diesem Glücksfall für die deutsche Demokratie die einzig naheliegende Konsequenz zu ziehen. Der sichtlich außergewöhnliche Ort verlangt ebenso wie die großartige hier entwickelte Idee, den ganzen Staat auf Menschenwürde zu gründen, unser aller persönlichen Einsatz zu deren Schutz und Erhalt, für diese und alle zukünftigen Generationen.

Helmut-Eberhard Paulus

Prof. Helmut-Eberhard Paulus, RC Regensburg-Millennium, ist Jurist, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger. Er lehrte an verschiedenen Universitäten und war Direktor der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten.