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Das Kopfhirn denkt, das Bauchhirn lenkt

Titelthema - Das Kopfhirn denkt, das Bauchhirn lenkt
Escherichia coli sind in der Regel sehr nützliche Bakterien im Darm, die Vitamin K2 produzieren. Außerdem halten sie unerwünschte Bakterienarten fern © Martin Oeggerli 2015, unterstützt durch Pathologie, Universitätsspital Basel und School of Life Sciences, fhnw.

Negatives Image, unterschätzte Bedeutung: Der Darm ist weit mehr als die Müllabfuhr von Nahrungsresten. Über die Darm-Hirn-Achse beeinflusst er Gesundheit und Gefühlslage und kann Auslöser neurologischer Krankheiten sein

01.04.2018

"Schmetterlinge im Bauch", "Liebe geht durch den Magen", "mein Bauchgefühl sagt", "aus dem Bauch heraus entscheiden" – die Liste der "Weisheiten zu Bauch und Darm" scheint unendlich. Der wohl trefflichste Aphorismus stammt von dem amerikanischen Schriftsteller Josh Billings (1818–1885). Er schrieb: "Ein verlässliches Gedärm ist mehr wert als jede Menge Gehirn." Was macht den Darm so besonders, trotz seines eher negativen Images eines Abfall produzierenden Organs? Es ist sein eigenes, in wahrsten Sinne des Wortes autonomes Nervensystem.

Dieses enterische Nervensystem wird auch als Bauchhirn bezeichnet, da es ähnlich komplexe Aufgaben wie das Kopfhirn hat. Es besteht bei uns Menschen aus rund 200 Millionen Nervenzellen. Wenn man diese über ihre Fortsätze miteinander verbinden würde, könnte man die Entfernung von Hamburg bis Neapel inklusive Alpenpässe locker überbrücken.

Diese vielen Nervenzellen kann sich ein Organismus nur dann leisten, wenn es lebenswichtig ist, denn eine Nervenzelle benötigt circa zehnmal mehr Energie als jede andere Körperzelle. Am Beispiel des Süßwasserpolypen (Hydra) wird deutlich: Das Bauchhirn gab es schon weit vor dem Kopfhirn. Hydra gehört zu den einfachsten, noch heute lebenden Vielzellern.

Hydra hat weder ein Gehirn noch zentrale Ganglien, wohl aber ein enterisches Nervensystem. Der Ursprung unseres Kopfhirns liegt also im Bauchhirn.

Dieser Umstand verleiht dem Begriff „Hirnfurz“ eine fast schon evolutionsrelevante Bedeutung. Aufgrund der entwicklungsbedingten Verlinkung von Kopf- und Bauchhirn ist es nicht verwunderlich, dass identische Botenstoffe im Kopf- und Bauchhirn vorkommen; als ob „Mutter Natur“ irgendwann einmal die „Copy-Paste“-Taste gedrückt hätte. Das erklärt auch, warum fast alle Medikamente Nebenwirkungen im Darm haben, wie zum Beispiel Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung.

Das einzige autonome Organ
Es gibt kein anderes Organ in unserem Körper, das vitale Funktionen autonom, außerhalb des Körpers, also selbst in der Petrischale, aufrechterhalten kann. Ein Reflex, der auch als „Gesetz des Darms“ bezeichnet wird, stellt sicher, dass unser Darminhalt immer in Richtung Hinterausgang transportiert wird, natürlich mit einer der Nahrung angepassten Geschwindigkeit. Das Bauchhirn steuert diesen Reflex in jedem Zentimeter unseres über zehn Meter langen Darms mehr als 20.000 mal pro Tag, also auf den gesamten Darm bezogen 20 Millionen Mal. Im Labor lässt sich diese Aktivität über rekordverdächtige acht Tage beobachten, so viel Autonomie kann sich kein anderes Organ leisten.

Üblicherweise werden Organfunktionen über definierte Hirnregionen gesteuert. So gibt es zum Beispiel ein Herz-KreislaufZentrum oder ein Atemzentrum. Ein vergleichbar spezialisiertes Hirnareal existiert für den Darm nicht, wofür es mehrere mögliche Erklärungen gibt. Zum einen ist der Darm zu wichtig, um dem Gehirn alle Steuerungsfunktionen zu überlassen. Zum anderen müssten wir einen enorm großen Kopf haben, um die Nervenzellen, die jeden Zentimeter Darm überwachen, im Kopf unterzubringen. Und wir müssten im Hals, Brust und Bauch ausreichend Platz zur Verfügung stellen, damit die Billionen Nervenstränge das Gehirn mit dem Darm verbinden könnten.

Die enorme Bedeutung des Bauchhirns zeigt sich bei einer seltenen Entwicklungsstörung – dem bei manchen Neugeborenen auftretenden Morbus Hirschsprung. In einem zum Teil nur wenige Zentimeter langen Darmsegment fehlen dort Nervenzellen. Die Darmfunktionsstörungen sind derart massiv, dass nur die chirurgische Entfernung des „hirnlosen“ Darmstücks das Leben des Patienten retten kann.

Stimuliert Nervenzellen zum Gehirn
Das Bauchhirn selbst kann weder denken noch bewusst entscheiden. Es hat aber Einfluss auf unsere Entscheidungen und Emotionen. Dies verdanken wir Nervensträngen, die Darm und Gehirn verbinden. Entlang dieser sogenannten Darm-Hirn-Achse werden ständig Informationen zum Gehirn geschickt, allerdings nur sehr wenige vom Gehirn zum Darm. Der Hirn-an-Darm-Signalweg wird nur im Alarmfall aktiviert, zum Beispiel wenn unser Darm auf emotionale oder infektiöse Stresssituationen adäquat reagieren muss. Das Bauchhirn beeinflusst diese Darm-anHirn-Signale, da die Nervenstränge der Darm-Hirn-Achse direkt mit den Nerven des Bauchhirns in Verbindung stehen.

Das Bauchhirn kann also die Sensibilität der Nerven, die zum Gehirn ziehen, hoch- oder runterregulieren. Es wird konstant mit Informationen aus dem Darmlumen, dem Darm-Immunsystem und allen anderen Zellen in der Darmwand bombardiert. Diese Informationen müssen sinnvoll verarbeitet werden, um dann lokal Darmfunktionen zu steuern und gleichzeitig den Informationsfluss zum Gehirn anzupassen. Nur so ist es zu erklären, dass Stoffe in unserem Darmlumen, das ja eigentlich durch eine Barriere vom Rest des Körpers strikt separiert ist, zunächst auf das Bauchhirn und die Darm-Hirn-Achse wirken, um dann Emotionen und Verhalten zu beeinflussen.

Auch unsere Ernährungsweise könnte auf diese Weise Einfluss auf höhere Hirnfunktionen ausüben. Die Betonung liegt hierbei auf „ausüben“; bestimmen tut immer noch das Kopfhirn. Ein gesunder Darm scheint jedoch eine solide Grundlage für kluge Kopfentscheidungen zu sein; diese Wechselwirkung gilt allerdings auch für andere Organe. Ähnlich wie das Kopfhirn zeigt auch das Bauchhirn eine ausgeprägte Plastizität. So ist das Bauchhirn zu implizitem, also unbewusstem Lernen fähig. Es zeigt die klassischen Komponenten von Lernen, nämlich nervale Sensibilisierung, also eine verstärkte Antwort auf einen Reiz, und Habituation, die Gewöhnung an einen Reiz. Auch Konditionierung hat man nachgewiesen.

Selbst eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), welche zu Irritationen im Bauchhirn führt, insbesondere als Folge einer Darminfektion, wird postuliert. Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es im Bauchhirn eine Art „Gedächtnis“ gibt. Dies ist aber nicht nur mit Lernen, sondern leider auch mit Verlernen verbunden. Die einfachste Form des Vergessens ist die unmittelbare Folge des Verlustes von Nervenzellen oder deren Funktionen, so wie es auch bei der Alzheimer-Krankheit beschrieben wird. Das Bauchhirn verliert, wie unser Kopfgehirn, im Alter Nervenzellen. Als 80-Jährige haben wir nur noch circa 50 Prozent der Nervenzellen, die wir mal als Jugendliche hatten. Auch der Darm altert, und viele der dann gestörten Darmtätigkeiten könnten auf ein zahlenmäßig geschrumpftes Bauchhirn zurückzuführen sein.

Wenn der Bauch falsch informiert
Erkrankungen, die durch eine Fehlsteuerung des Bauchhirns beziehungsweise eine gestörte Kommunikation zwischen Kopf- und Bauchhirn bedingt sind, werden als neurogastroenterologische Erkrankungen zusammengefasst. Sie gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der Bevölkerung und stellen aufgrund der altersabhängigen Zunahme eine der größten Herausforderungen für die Zukunft dar. Hierbei sind die zugrunde liegenden Störungen unterschiedlich und sehr komplex.

Ursache: Gestörte Interaktion
So können neurogastroenterologische Erkrankungen durch strukturelle Veränderungen der Nervenzellen und ihrer Fortsätze entstehen. Hierzu zählen die schon im Kindesalter vorkommenden Erkrankungen wie Schließmuskelkrämpfe der Speiseröhre (Achalasie), des Magenpförtners (Pylorospasmus) und der bereits erwähnte Morbus Hirschsprung. Die typische Symptomatik sind Schluckstörungen, Erbrechen oder Darmverschluss, die durch lokalisierbare Degenerationen im Bauchhirn bedingt sind. Diffuse, über weite Strecken des Verdauungstraktes auftretende Störungen des Bauchhirns sind für Erkrankungen wie zum Beispiel bestimmte Speiseröhrenbewegungsstörungen, die Magenlähmung (Gastroparese), Dünndarmlähmung (Chronische intestinale Pseudoobstruktion), Verstopfung durch Stuhlentleerungsstörung oder auch Stuhlinkontinenz verantwortlich.

Durch spezielle Untersuchungstechniken können diese krankhaften Funktionsstörungen häufig charakterisiert und gezielt behandelt werden. Bei anderen neurogastroenterologischen Erkrankungen ist die Ursachenfindung in der Klinik schwieriger, da die aktuellen Routineuntersuchungstechniken ungeeignet sind. Hierzu gehören Störungen wie Reizmagen, Reizdarmsyndrom, funktionelle Verstopfung, Blähungen und Durchfall. Heute wissen wir, dass diese Erkrankungen nicht eingebildet sind, sondern unterschiedliche organische Ursachen haben, die mühsam diagnostiziert werden müssen.

Ein Blick durchs Mikroskop auf menschliches Exkrement: jede Menge Mikroorganismen und eine unverdaute Pflanzenfaser. © Martin Oeggerli 2012, unterstützt durch Pathologie, Universitätsspital Basel und School of Life Sciences, fhnw.

Hier finden sich meist keine lokalisierbaren Nervendegenerationen, sondern Störungen der Botenstoffe, mikroskopische Entzündungen oder auch eine Sensibilisierung von Schmerzfasern. Wir gehen hier von einer gestörten Interaktion zwischen dem Bauchhirn, dem Kopfhirn, dem Immunssystem und sogar den Darmbakterien (Mikrobiota) aus. So wissen wir, dass einige Reizdarmpatienten normale Signale aus dem Bauch sehr früh und viel zu intensiv empfinden, da sie eine erniedrigte Schmerzschwelle haben. Dies kann durch eine Sensibilisierung im Darm selbst und/oder durch eine zentrale Verarbeitungsstörung im Kopfhirn bedingt sein. Andere Patienten entwickeln Magen-Darm-Beschwerden nach einer initialen Infektion.

Hier ist die Vorstellung, dass das Bauchhirn durch eine persistierende mikroskopische Entzündung langfristig umprogrammiert werden kann, sodass die Beschwerden selbst nach Beseitigung des Erregers über längere Zeit weiterbestehen können. Dies wäre ein Beispiel für das Erlernen eines negativen Programms, was sich als postinfektiöser Reizdarm oder Reizmagen manifestiert. Auch zeigen Untersuchungen, dass sich die Bakterien im Darm zwischen Gesunden und neurogastroenterologischen Erkrankungen unterscheiden können. Die gezielte Zufuhr „guter Mikrobiota“ in Form von Probiotika oder eine Verbesserung ihrer Funktion durch Präbiotika kann dann hilfreich sein.

Bei einigen Erkrankungen, die mit einer massiven Infektion einhergehen, hat sich die Stuhltransplantation als vielversprechende Therapie erwiesen. Ob dies auch bei anderen Erkrankungen helfen kann, muss die Zukunft zeigen. Ein ganz neuer, faszinierender Aspekt des Bauchhirns ist seine Rolle bei eigentlich klassischen neurologischen Erkrankungen. So finden sich Änderungen des Bauchhirns bei Parkinson, Autismus, Alzheimer, Demenz, Multiple Sklerose und verschiedenen Prionen-Erkrankungen, für die der Darm sogar die Eintrittspforte ist. Heute wissen wir, dass bei vielen Parkinson-Patienten die ursächliche Störung im Darm und im Bauchhirn zu finden ist.

Erst sekundär treten die bekannten zentralnervösen motorischen Symptome auf. Auf der anderen Seite können Schlaganfall und neurodegenerative Erkrankungen zu gravierenden Veränderungen der Verdauungsfunktionen führen. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft klinisch nutzbare Biomarker entwickelt werden, die eine spezifische und pathophysiologisch orientierte Behandlung von Erkrankungen des Bauchhirns beziehungsweise der Darm-Hirn-Achse möglich machen. Unsere beiden Autoren und der Tübinger Medizin-Psychologe Prof. Dr. Paul Enck verfassten „Darm an Hirn“ (Herder, 2017).

Prof. Dr. Michael Schemann und Prof. Dr. Thomas Frieling