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Titelthema

Wer kämpft da gegen wen?

Titelthema - Wer kämpft da gegen wen?
Wachsende Anpassung statt zunehmender Ungleichheit: Durch die engen Stadt-Land-Verbindungen haben sich vielerorts die ländlichen Wohn-, Arbeits- und Wirtschaftsformen an das Leben der Städter angepasst. © Dominik Asbach/laif

Im Verhältnis von Stadt und Land wird viel über Gegensätze gesprochen. Dabei braucht eine funktionierende Gesellschaft beide Räume – erst recht die moderne Welt unserer Tage.

Volker Demuth01.11.2019

Von Berlin aus fahre ich oft nordwärts durch Straßendörfer, Alleen und hohe Kiefernwälder mit Heidekraut und Blaubeeren am Grund. Gelegentlich stehen irgendwo Hirsche am Straßenrand. Die Regionalzeitung berichtet davon, wenn wieder ein Wolf Opfer eines Unfalls wurde. Ich fahre in das Dorf Petznick in der Uckermark, das aus nicht mehr als ein paar Häusern, Feldsteinscheunen und einem Gutshof aus dem 18. Jahrhundert besteht, angeordnet vom Verlauf zweier Straßen. Dort, wo ich vor drei Jahren eine postsozialistische Datscha erworben habe, schreibe ich, treibe einen großen Garten um und fahre manchmal zum Angeln auf den naheliegenden See. Mit der Distanz von etwas mehr als einer Auto- oder Zugstunde lebe und arbeite ich also an zwei Orten, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Das Wechselspiel zwischen Stadt und Land, für mich ein Leben lang unverzichtbar, erlebe ich bis heute als anregend und beglückend. Umso unmittelbarer trifft es mich, in aktuellen Debatten vermehrt auf die Behauptung zu stoßen, zwischen Stadt und Land bestünde ein Gegensatz. Mehr noch, von gesellschaftlicher Spaltung ist die Rede, und man macht bedenkliche politische Verschiebungen aus, durch die insbesondere ländliche Gebiete Gefahr liefen, sich zu abgesonderten, schwer begreifbaren Parallelgesellschaften zu entwickeln. So beunruhigend sich diese Beschreibungen anhören, so schwer fällt es mir, sie mit meinen eigenen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Ich frage mich, stimmt es denn, dass in der Arena heutiger Konflikte das ländliche gegen das städtische Leben kämpft, dass sich zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Akteuren schier unversöhnliche Auseinandersetzungen abspielen?

Fragwürdige Diagnosen
Schon seltsam, weder in dem süddeutschen Dorf an der Donau, wo ich nahezu ein viertel Jahrhundert verbrachte, noch jetzt in den Jahren hier in der brandenburgischen Provinz habe ich jemals erlebt, dass von Abspaltung, tiefen Gräben oder Feindseligkeit die Rede gewesen wäre. Sicher nimmt man auch hier sehr genau wahr, wie in den zurückliegenden Jahrzehnten der Dorfkonsum, die Poststelle oder die Gastwirtschaft verschwunden sind, und glücklich ist darüber keiner. Und man weiß natürlich um die infrastrukturellen Nachteile, die langen Wege zu Schulen, Arzt oder Freizeiteinrichtungen. Gleichzeitig möchte aber niemand die Vorteile missen: ein langsameres Alltags- tempo, die gewachsenen persönlichen Beziehungen oder die günstigeren Lebenshaltungskosten.
Zudem ist die Durchlässigkeit zwischen städtischem und ländlichem Raum eine gut eingespielte und ersprießliche Erfahrung. So fährt man in die Stadt zum Shopping oder Essen, wo man unter einem reicheren Angebot an Läden und Lokalen auswählen kann. Unter den Leuten, die ich hier mittlerweile kenne, fahren viele täglich zur Arbeit in die Kreisstadt, einige pendeln auch nach Berlin. Umgekehrt bewegt sich an jedem Wochenende eine Menschenmenge aus der deutschen Hauptstadt ins ländliche Umland, um die Natur zu genießen oder in landwirtschaftlichen Betrieben und lokalen Geschäften einzukaufen, die sich auf Craft- und Bioprodukte eingerichtet haben und dem Slow-food-Bedürfnis entgegenkommen.
Natürlich will ich mit diesen Beobachtungen die Unterschiede in den Lebenswirklichkeiten von Stadt und Land keineswegs beiseiteschieben. Sie erlauben jedoch einen weniger von Antagonismen gelenkten und, wie ich meine, deshalb genaueren Blick auf das Verhältnis beider Sozialräume. Das ist nötig, denn Mediengesellschaften neigen dazu, Unterschiede zu Gegensätzen zuzuspitzen. Es liegt in der Natur von Medien, Aufmerksamkeit zu erzeugen, indem sie ihre Berichte nach dem Schema von Krisen, Konflikten und Konfrontationen stricken. Problematisch ist das deswegen, weil die Medienwirklichkeit auf unsere Wahrnehmung der realen Wirklichkeit zurückwirkt, die nun plötzlich im Licht von Unvereinbarkeiten und Gefahren erscheint, wo tatsächlich ein lebendiges Spiel der Differenz besteht.

Zunehmender Verstädterungsgrad
Daneben führt die wissenschaftliche Betrachtung von Gesellschaften dazu, dass wir zu jedem Problem Statistiken haben. Sie sagen uns etwa, dass, bei anhaltender Zuwanderung in Städte, der Großteil der deutschen Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten bis 20.000 Einwohnern lebt, nämlich 36 Prozent (27 Prozent leben in mittelgroßen Städten bis 100.000 Einwohner, 31 Prozent in Städten mit höherer Einwohnerzahl). Genauer wird das Bild aber erst, wenn man sieht, dass es vor allem junge Singles sind, die in große Städte gehen, während Familien statistisch sogar häufiger von dort wieder wegziehen. Dabei treten Binnenunterschiede in verstädterten Räumen oftmals markanter hervor als Differenzen zwischen Städten und ländlichen Regionen. Das gilt beispielsweise für das Gefälle von extremer Armut und großem Reichtum. Ähnlich gibt es nach neuesten Untersuchungen keine relevante Bildungsbenachteiligung zwischen Stadt und Land, die innerhalb von Städten tatsächlich oft krasser ausfällt.
Das alles sind Hinweise, die meine langjährigen Wahrnehmungen unterstützen. Statt eines Stadt-Land-Gegensatzes zeigen sie graduelle Abstufungen, Austauschbeziehungen und Verflechtungen. Längst werden selbst Dörfer nicht mehr von der hergebrachten Agrarkultur geprägt, die sich – mit allen Folgeproblemen – zum industriellen Ertragsmanagement mit High-Tech-Produktion gewandelt hat. Das heißt jedoch nicht zu ignorieren, dass manche ländlichen Regionen veröden, überaltern und in ihrer Infrastruktur zerfallen; dass es Landstriche gibt, in denen es jungen Leuten schwerfällt, gute Arbeit zu finden und eine verlockende Lebensperspektive; Gegenden, bei denen die Politik nachdrücklich aufgefordert ist, den Grundgesetzauftrag gleichwertiger Lebensverhältnisse wirksam zu erfüllen. Dasselbe gilt freilich auch für degenerative Stadträume.
Trotzdem muss man realistischer Weise sagen, dass der Verstädterungsgrad der ländlichen Bevölkerung in Deutschland kontinuierlich zunimmt. Durch die engen Stadt-Land-Verbindungen (anders als in großen Teilen der USA), durch föderal dezentrale Zentren (anders als bei der Hauptstadtorientierung in Frankreich) verstärkt sich die Angleichung von städtischen und ländlichen Wohn-, Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsformen. In einem Punkt allerdings scheint die althergebrachte Polarisierung von Land- und Stadtleben noch eine beträchtliche Rolle zu spielen: in den Kulturstilen. Hier behaupten Städte den Vorrang, Modernisierungsmotoren zu sein. Und eine neue kosmopolitische, akademisch gebildete Klasse definiert, was cool, schick, angesagt und politisch korrekt ist. Ortsungebundene, digital vernetzte Weltnomaden beanspruchen, die allgemeinen Maßstäbe über das Leben in einer flüssigen Moderne zu setzen.

Landschaft als Speichermedium
Aber ich möchte auf die irreführende Gegensatz-These jetzt nicht weiter eingehen, weil es mir wichtiger ist, an dieser Stelle noch auf etwas anderes hinzuweisen. Nämlich auf das Potenzial, das in dem Spannungsverlauf und der hohen Durchlässigkeit zwischen Stadt und Land real liegt. Wenn ich in meinem uckermärkischen Dorf in diesem Sommer an den See spaziert bin, konnte ich beobachten, wie der Wasserspiegel um nahezu einen Meter gefallen war. In der Folge hatte sich das Ufer stark zurückgezogen, und eines Tages entdeckte ich ein im trocknenden Schlamm auftauchendes Skelett. Die Knochen waren von stattlicher Größe, konnten einer Kuh, einem Hirsch oder vielleicht einem Menschen gehören. Der Schädel fehlte. Ich erzählte dem Gartennachbarn davon, der im Kindesalter am Kriegsende als Flüchtling hierhergekommen war. Sogleich berichtete er mir von Geschichten, die etwa von einer dreiköpfigen Familie handelten, deren Angst vor den anrückenden Russen sie im Frühjahr 1945 in den See getrieben hatte und deren Leichen nie gefunden worden waren. Eine andere ungeklärte Geschichte gab es von zwei Männern, die zusammen auf den See fuhren, doch war lediglich einer zurückgekehrt, der andere tauchte nie wieder auf.
Ich will damit sagen, die Landschaft ist ein Speichermedium. In ihr lagern sich Schichten der Vergangenheit ein, die sehr weit zurückreichen können. In Landschaften werden aber auch Dinge gespeichert, die sich lange in der Zukunft auswirken werden. Nach einer Reihe ständig wärmerer Jahre, nach zwei klimaauffällig trockenen Sommern mit erheblichen land- und forstwirtschaftlichen Schäden wird sichtbar, welche Konsequenzen unser westliches Lebensmodell auf viele Jahrzehnte hinaus hat. Allmählich bildet sich ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass ein Umsteuern stattfinden muss; und ich bin überzeugt davon, die nichturbanen Landschaften werden in diesem Prozess eine maßgebliche Rolle spielen.
Denn hier wird, wie bei einem sinkenden Wasserspiegel, unmittelbar sichtbar, was es für Menschen und Natur bedeutet, wenn wir mit unserer Lebensweise die Umwelt weiterhin in dem Übermaß ausbeuten und belasten wie bisher. Vor diesem Hintergrund ist die Fortschrittsdominanz der Stadtkulturen – schneller, größer, verschwenderischer – fragwürdig geworden. Wenn ein Medien-, Technik- und Lifestyle-Hype den anderen jagt, entsteht eine Atemlosigkeit, die weder Nachhaltigkeit noch Nachdenklichkeit begünstigt.

Die Stärken zweier Welten
In dem Stadium der Moderne, das wir heute erreicht haben, könnte es deshalb angemessener und rationaler sein, wenn wir uns insgesamt langsamer, maßvoller und weltschonender verhalten. Die Stabilität der Lebenswelt, was Alexander Mitscherlich einmal „Verteidigung der Nahwelt“ genannt hat, erhält dadurch eine hochaktuelle Bedeutung. Die hippe und hippelige Metropole des 21. Jahrhunderts mit ihrer modernistischen Rasanz und postmodernen Änderungsgefügigkeit – ach, warum denn nicht – tut sich in aller Regel an Orten schwer, wo man nicht einsieht, warum etwas Neues für das Leben und Zusammenleben vorteilhafter sein sollte als das, was sich über einen langen Zeitraum als lebenswert erwiesen hat. Das Getriebensein von wirtschaftlichen Wachstumszielen, technologischen Entwicklungen oder Lifestyle-Moden reicht dafür jedenfalls nicht aus. Viel entscheidender ist heute, aus der Unterschiedlichkeit von ländlichen und städtischen Lebensformen wichtige Zukunftsressourcen zu gewinnen.
Der Sinn des Begriffs Fortschritt muss von unserer Zeit dabei neu gefasst werden; und ich denke, die Beständigkeit ländlicher Lebensformen, ihre länger tragende Erinnerung, das Gefühl der Zuständigkeit für den Raum, in dem man lebt, sowie die anspruchsvolle Kunst der Nachbarschaft gilt es da als Orientierungsmarken zu berücksichtigen. Umgekehrt bietet vor allem das städtische Leben die Bühne, auf der das großartige Spiel der Differenz inszeniert und durchgeführt wird. Im Stadtraum findet die kulturelle Performance statt, Unterschiede nicht als abgesondertes Fremdes, sondern als zuträgliche Vielfalt zu erleben und Wert zu schätzen. Damit entsteht ein ziviler Spielraum, durch den wir Ironie, Widersprüchlichkeit und auch eine Art von Theatralik in unsere Lebensweisen einführen. Was dabei helfen kann, den erforderlichen Wandel leichter und spielerischer zu vollziehen.
In Wahrheit gehört es zu jedem souveränen Leben dazu, mit Widersprüchen klarzukommen. Das gilt aber ganz besonders für eine vielfältige Gesellschaft, die schlecht beraten wäre, Unterschiede zu politisch fragwürdigen Zwecken als Frontlinien zu radikalisieren. Darüber hinaus legen uns die Erfahrungen der deutschen Geschichte nahe, dass Stadtlandschaften und ländliche Landschaften gerade in ihrer Ungleichheit voneinander lernen sollten. Gesellschaften sind Autodidakten. Es gibt kein großes Lehrbuch, das uns sagen würde, was zu tun ist. Wir müssen den Lernprozess selbst vollziehen, und dazu bedarf es der Vermittlung ungleichartiger Erfahrungsräume und Lebensvorstellungen.

Optimistische Mäßigung
Demokratie ist für ihr Funktionieren auf eine optimistische Mäßigung angewiesen, gerade dann, wenn kulturpluralistische, medial-technische und sozial-ökologische Veränderungsprozesse langfristigen Erfolg haben sollen. Das richtige Maß lässt sich allein in gesellschaftlich breiten und manchmal gewiss auch kontroversen Debatten finden, die Erfahrungen und Erwartungen von Hundert-Seelen-Dörfern ebenso wie von Millionenstädten einschließen. Dieser Prozess, das ist klar, macht politisch und gesellschaftlich viel Arbeit, er macht jedoch die Einheit eines Landes konkret erlebbar.

Volker Demuth
Volker Demuth war bis 2004 Professor für Medientheorie, seitdem lebt er als freier Schriftsteller. 2016 zog er aus Süddeutschland nach Berlin und in die Uckermark. Im Frühjahr erschien sein neuestes Buch „Niederungen und Erhebungen. Besichtigung einer Lebenslandschaft“ (Matthes und Seitz).
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