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Die neunjährige Saroj und ihre Mutter Prem.
Morgendliche Stärkung mit frischer Milch.
Saroj hat Spaß daran, die Tiere zu hüten. Wasser holen hingegen, bringt ihr nicht so viel Spaß, weil es so schwer sei. Auch wenn es auf diesem Foto nicht so aussieht.
Sieben Stunden täglich hütet Saroj die Tiere. Manche ihrer Altersgenossinnen hüten zehn und mehr Wasserbüffel, treiben riesige Ziegenherden.
Dass dieses Kind den ganzen Tag arbeitet und dann noch abends zur Schule geht, das könnte einen zu Mitleid anregen, doch den Eindruck, Mitleid zu brauchen, erweckt Saroj nie. „Bringt es dir Spaß, die Tiere zu hüten?“ fragt man und sie nickt mit großem Enthusiasmus.
Saroj Heimat ist ein winziges Dorf in der Provinz Rajasthan in Indien. Unberührbare, nennt man die Menschen noch heute dort. Im indischen Kastensystem stehen sie auf der gesellschaftlichen Skala ganz unten. Arm und mühselig leben die Leute von der Feldarbeit und der Viehzucht. Fast alle Kinder des Dorfes arbeiten tagsüber als Viehhirten, sind dafür zuständig Wasser zu holen, Chapati zu backen, die Tiere zu füttern. Für einen Schulbesuch bleibt den Kindern keine Zeit – jedenfalls nicht in einer staatlichen Schule, deren Unterricht während des Tages stattfindet.
Saroj geht auf eine Abendschule, eine Nightschool. 700 davon gibt es in Indien, die meisten in so entlegenen Dörfern wie Ghirr. Der Name steht in Indien für eine menschennahe und menschenwürdige Bildung, die wenig mit dem klassischen Konzept von Schule zu tun hat. Dafür aber ganz nahe dran ist am Alltag und der Wirklichkeit der Schüler.
Nach der Arbeit mit dem Vieh kommt die Hausarbeit und dann die die Abendmahlzeit aus Dhal und Reis, Gemüse und Chapati.  Erst danach ist Saroj frei. Dann ist es schon 18.30 Uhr und Saroj läuft los zur Schule.
Für ihre Schulsachen hat Saroj eine Tasche, die hat ihr die Schwester genäht. Vier Hefte sind darin, eines für jedes Fach: Hindi, Englisch, Mathematik und Biologie. Die Hefte, die Bleistifte, die Bücher erhalten alle Kinder umsonst. Hindi ist Saroj Lieblingsfach. „Weil man Gedichte lernt und Lieder singt.“ Und Mathe – wie bei vielen Mädchen in aller Welt – das unbeliebteste Fach.
Fast 700.000 Kinder aus armen Schichten lernen in diesen Nightschools, an sechs Tagen in der Woche das ganze Jahr hindurch, was sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen. Kinder, die aus Familien kommen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen, die groß gezogen worden sind von Eltern, die selbst wenig oder keine schulische Bildung erfahren. Das sind rund 60 Prozent aller indischen Kinder, die in ländlichen Gegenden leben.
Für Saroj und die anderen Kinder sind die Nightschools nicht nur Bildungsstätte, sondern auch ein Ort, an dem sie vor Beginn des Unterrichts spielen können.  Saroj hat immer ein Stück Kreide in der Tasche, damit malt sie Kästen auf, um das Hüpfspiel Himmel und Hölle zu spielen.
Lehrerin Kishan Kanwa, die von der Dorfgemeinschaft und den Kindern zur Lehrerin gewählt wurde und dann eine dreimonatige Ausbildung erhielt, hat es selten eilig, mit dem Unterricht anzufangen. Keine Schulglocke mahnt die Kinder.
Ursprung des Nightschool-Konzepts ist die Barfuß-Bewegung, eine Bildungskampagne, mit denen den Ärmsten der Armen geholfen werden soll. In Tilonia, einem Dorf etwa eine halbe Stunde von Chirr entfernt, wurde vor 40 Jahren die erste Einrichtung für diese Menschen, Analphabeten die meisten, gebaut: das Barefoot-College. Begründer dieser Idee ist der Inder Bunker Roy. Er als begann, mit den Unberührbaren zu arbeiten, hat man ihn als Kommunisten beschimpft wegen seiner Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit. Man warf ihm vor, Kinderarbeit zu fördern, zu sanktionieren, dass die Kinder nicht in stattliche Schulen gehen. Doch Roy ließ sich nicht beirren.
Dem magischen Abendlicht, das zu Beginn der Schulzeit um 19 Uhr noch auf die Kinder scheint, folgt schnell tiefe Dunkelheit. Kishan Kanwa stellt zwei Solarleuchten auf, eine für die Gruppe der Kleinen – die Sehsc- bis Achtjährigen, eine für die die der größeren Kinder, die Neun- bis Zwölfjährigen.
Nightschools sind ein Ort, an dem die Kinder vieles dürfen, fast nichts müssen und an dem der Lehrstoff in direktem Zusammenhang mit ihrem Alltag steht. Und: sie bestimmen über alles.
Zum Bildungskonzept der Nightschools gehört Basisdemokratie. Deshalb wird unter den Kindern von jeweils drei Schulen ein Parlament gewählt. Mit allen Ämtern, die auch ein Landesparlament hat: Von der Premierministerin über die Erziehungsministerin bis zu den Sprechern und anderen Ministern. Die Verwaltung der Schulen obliegt diesem Parlament. Es kann Lehrer entlassen und einstellen. Es kann Empfehlungen für die Lehrpläne abgeben. Jeder Minister hat das Recht, alle Schulen zu besuchen und zu beurteilen.
Fünf Klassenstufen gibt es in der Nightschool, danach ist die angestrebte Basisbildung erreicht.
Mathe zählt zu den unbeliebteren Fächern. Jeder Unterricht beginnt mit einem gesungenen Gebet.  Im Hindi-Unterricht lernen die Kinder Sanskrit, in Biologie stehen in jenen Wochen Krankheiten von Rindern und Ziegen auf dem Lehrplan. Und wie man sie heilen kann.
Saroj gähnt in ihr Hindi-Lehrbuch. Am Nachmittag hat sie noch gesagt, dass sie oft zu müde für die Schule ist, aber dennoch geht.
Als die Akkus der Solarleuchten gegen 22 Uhr leer sind und Lehrerin Kishan Kanwa ein Schlussgebet spricht, hat der Himmel längst all seine Sterne aufgespannt.
Das selbstgebaute Holzbett, in dem Saroj schläft, steht im Hof, wo kühler Nachtwind weht.  Acht Stunden kann sie meistens schlafen. Wird noch im Dunkel wieder aufstehen, Wasser holen und mit den Tieren losziehen.