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Titelthema

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Titelthema - Hier und dort
Dr. Christian Ahl lehrt an der Abteilung Agrarpedologie der Universität Göttingen und leitet die Geschäftsstelle der Deutschen Bodenkundlichen Gesellschaft (DBG).

Täglich werden in Deutschland 56 Hektar Boden versiegelt – für Siedlung und Verkehr. Die Schweiz geht einen besseren Weg. Ein Zwischenruf von Christian Ahl

01.03.2021

In der Fachliteratur ist die Umnutzung der Naturräume im deutschen und österreichischen Kultur- und Naturraum der letzten Jahrhunderte beschrieben worden. Die gesellschaftlich-politischen Vorstellungen der Nutzung der Standorte im jetzigen europäischen Kulturraum beruhen auf Infrastruktur und Industriestandortsentwicklung (1), initiative Bioökonomie, unter anderem nachwachsende Rohstoffe für zum Beispiel erneuerbare Energien von land- und forstwirtschaftlichen Flächen (2), Extensivierung der landwirtschaftlichen Nutzflächen gemäß einer Farm-to-Fork-Strategie (3), Schaffung eines klima-neutralen Europas bis 2050 (4) sowie einer EU-Biodiversitätsstrategie mit 30 Prozent Schutz der Landfläche durch zwei Ziele: 25 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in ökologischer Bewirtschaftung sowie zehn Prozent der landwirtschaftlichen Fläche mit Landwirtschaftselementen hoher Vielfalt (5).

Die Folgen der Flächenversiegelung

Alle Punkte vermindern die jetzige landwirtschaftliche Ur-Produktion – teils ist dies mit einer Verbesserung der Umweltbedingungen verbunden, teils aber auch mit einem dauerhaften Verlust von Bodenflächen. Die Verluste hochproduktiver landwirtschaftlicher Flächen für Infrastrukturmaßnahmen hatten in den Jahren nach der Wiedervereinigung ihren Höhepunkt erreicht: 120 Hektar gingen pro Tag bis in die Jahre 2004/05 verloren. Dieser massive Schwund führte zu einem Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie, bis zum Jahr 2020 den täglichen Flächenverbrauch auf 30 Hektar zu begrenzen. Dies wurde nicht erreicht – im Jahr 2020 sind pro Tag 56 Hektar für Siedlung und Verkehr umgenutzt worden.

In der neuen Strategie setzt man sich dieses 30-Hektar-Ziel für das Jahr 2030. In der Umsetzung wird jedem Bundesland ein gewisses Kontingent an zu nutzender – sprich zu versiegelnder – Fläche zugebilligt, so zum Beispiel Bayern 4,7 Hektar pro Tag. 2019 betrug in Bayern der Flächenverbrauch 10,8 Hektar pro Tag. Schon kommt die Idee des möglichen Flächenhandels auf: Bundesländer könnten bei aufgebrauchtem Kontingent von anderen Ländern Kontingente zukaufen.

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der Schweiz. Der Bundesrat hat mit seiner Bodenstrategie vom 8. Mai 2020 den Bodenverbrauch verbindlich in den Fokus der Politik gerückt: „Werden Böden durch Beton oder Asphalt versiegelt, gehen ihre ökologischen Funktionen und damit Leistungen für die Gesellschaft verloren: Es können weniger Nahrungsmittel produziert werden, der Aufwand für die Trinkwassergewinnung steigt, aus Starkniederschlägen entwickeln sich häufiger Hochwasser, es wird weniger klimaschädliches CO2 aus der Atmosphäre gebunden und in Städten bilden sich mehr Hitzeinseln (aus dem Faktenblatt „Die nationale Bodenstrategie“)“. Ein Überbauen von Boden ist weiterhin möglich, aber an einem anderen Ort muss Boden neu geschaffen werden. Da ein Zentimeter Bodenentwicklung etwa 1000 Jahre benötigt, muss eine Entsiegelung von alten, nicht genutzten Flächen vorgenommen werden.

Die Verminderung der landwirtschaftlichen Nutzfläche bleibt nicht ohne Konsequenzen im globalen Umfeld: Unter dem Stichwort „induced land-use change“ (deutsch: induzierte Landnutzungsänderung) wird dieses Phänomen wissenschaftlich bearbeitet. Auch das Thema Landnahme, insbesondere durch China, weist auf die Intensivierung und Inanspruchnahme landwirtschaftlicher Kulturflächen in Ländern außerhalb des eigenen Wirtschafts- und Politikrahmens zur Nahrungsmittelerzeugung und -sicherung hin.

Negativbeispiel Brasilien

Durch das Ertragsgefälle der landesweiten Produktion innerhalb Deutschlands zu den Erträgen in Brasilien von 3,5 zu 1, bedeutet ein Hektar Bodenverlust an fruchtbarem Ackerland in Deutschland die Rodung von knapp vier Hektar Regenwald in Brasilien. Dort ist die Soja-Produktion, exportiert als Mastfutter, von 27 Millionen Tonnen auf 279 Millionen Tonnen seit 1970 angestiegen. Allein im vergangenen Jahr sind in Brasilien 9200 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt worden – zur Umwandlung in Ackerland. Dieses entspricht der Fläche an Ackerland in Sachsen-Anhalt. Und gleichzeitig wurden damit die indigenen Stämme aus ihrem Lebensraum vertrieben.

Die Initiativen zur Umgestaltung der landwirtschaftlichen Flächennutzung sind zu begrüßen. Eine Weiterentwicklung der Infrastruktur nach dem Vorbild der Schweiz und ein Zusammengehen verschiedener landwirtschaftlicher Bewirtschaftungsformen als sogenannte Hybrid-Landwirtschaft mit einem Null-Hektar-Ziel des Bodenverbrauches wären zukunftsfähig.