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Vorbote der Unmoral oder Befreiungsschlag?

Die christlichen Kirchen in Deutschland und Österreich leiden an galoppierendem Mitgliederschwund. Das provoziert in manchen Medien und in so mancher Gesprächsrunde das Wehklagen, diese Entwicklung läute den moralischen Niedergang in unseren Gesellschaften ein. Das ist blanker Unsinn.
Der Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen in unseren beiden Republiken ist tatsächlich schmerzlich evident – für die Amtsträger dieser Kirchen. In Deutschland kehrten 2022 eine halbe Million Katholiken ihrer Kirche den Rücken, in Österreich gut 90.000; bei den Protestanten waren es in Deutschland 380.000, in Österreich knapp 6000. Das bedeutet in jedem Fall Verlust von viel Geld, denn wer kein Mitglied in der Kirche ist, zahlt auch keine Kirchensteuer mehr. Und es bedeutet, dass der Einfluss dieser Kirchen auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens schwindet.

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Das Jammern über den drohenden Moralverlust wirkt besonders scheinheilig, betrachtet man folgende Punkte: Es ist eine atemberaubende Unterstellung, dass nicht moralisch handeln könne, wer sich nicht einem Gott und dessen „Gesandten auf Erden“ unterwirft. Das Lager der Religiösen zitiert gerne Dostojewski: „Ohne Gott ist alles erlaubt.“ Das hieße, nicht an Gott zu glauben, keiner Kirche anzugehören, sei ein Freibrief für Mord und Totschlag, Raub und Vergewaltigung, Landraub und gar Genozid. Wer sich je die Mühe gemacht hat, das Alte Testament zu lesen, weiß, dass dort genau diese Untaten geradezu empfohlen werden. Und ein Beispiel aus der Gegenwart: In Gefängnissen der USA sitzen jede Menge Tiefgläubige in den Todeszellen, aber kaum ein bekennender Atheist.
Dem Paradies immer näher
Im Gegenteil, die Wahnvorstellung, man handle im Sinne oder Auftrag eines Gottes, kann ganz normale Menschen zu den scheußlichsten Untaten anstacheln. Man denke nur an islamistische Terroristen, die himmlischen Lohn für Selbstmordanschläge und Enthauptungen Andersgläubiger erwarten. Man denke an den Moskauer Patriarchen Kyrill, der den Angriffskrieg des russischen Tyrannen Putin gegen die Ukraine segnet und zum heiligen Krieg verklärt. Damit macht er die russischorthodoxe Kirche zum Mittäter der Massaker von Butscha, Irpin und anderswo.
Man denke an die Unterstützung der Kirche in Spanien für den faschistischen Diktator Franco und in Chile für den Faschisten Pinochet. Man denke an die Kreuzzüge, bei denen der Grundsatz des Bernhard von Clairvaux galt, dass man mit jedem erschlagenen Heiden dem Paradies einen Schritt näher komme. Dieser blutrünstige Mönch, der sich auch bei der brutalen Verfolgung von abtrünnigen christlichen Sekten (zum Beispiel der Katharer) auszeichnete, hat nach wie vor einen Platz inmitten der Heiligen, um deren Fürsprache so manche Katholiken auch heute beten.
Ganz Ähnliches gilt freilich auch für andere Glaubensgemeinschaften. Das ist nicht auf die modernen radikalen Islamisten beschränkt. In Indien schlachten einander mit unschöner Regelmäßigkeit Hindus und Moslems ab, meist aus unsinnig kleinen Anlässen, doch immer scharf an der Trennlinie des Glaubens. Und die angeblich so friedlichen Buddhisten verüben in Myanmar die schrecklichsten Massaker an muslimischen Rohingya, aufgehetzt von einem buddhistischen Mönch und ignoriert von der gläubigen Buddhistin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.
Tragendes Mitglied und Funktionär (also Priester) einer Kirche zu sein hält nicht davon ab, eines der scheußlichsten Verbrechen zu begehen, sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Gerade erst wurde Opfern sexueller Gewalt in Deutschland vor Gericht Schadenersatz zugesprochen, zu zahlen von der katholischen Kirche, weil sie als Institution Mitverantwortung für das Leid trage, das ihre Funktionäre angerichtet haben. Derartige Untaten haben sicherlich zum Anstieg der Austrittswelle beigetragen. Möglicherweise auch die Haltung der Amtskirche, die die Verfehlungen ihrer Priester lieber selbst durch Versetzung ahndete, statt sie der weltlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben. Man könnte das für den Versuch halten, eine Parallelgesellschaft mit eigener Gerichtsbarkeit zu haben.
Wer moralische Oberhoheit für Kirchen und Religionsgemeinschaften reklamiert, muss sich fragen lassen, weshalb es in vielen europäischen Ländern, vor allem in Österreich und Deutschland, der führenden Beteiligung von nicht religiös fundierten politischen Parteien an Regierungen bedurfte, um gesellschaftlich unerträgliches Unrecht abzuschaffen. Die Gleichstellung und Gleichberechtigung haben Frauen mühsam auch gegen den Widerstand der Kirche und mit ihr verbundener Politiker errungen. Vor allem in katholischen Ländern wurde die Entkriminalisierung der Homosexualität oder des Schwangerschaftsabbruchs lange verzögert. Ja selbst in die Empfängnisverhütung haben sich die Kirchen eingemischt – sehr zum Schaden der Menschen vor allem in Ländern, in denen Aids weitverbreitet ist. Die amtskirchliche Haltung, Aids sei schrecklich, aber noch viel schrecklicher sei es, Kondome zu verwenden, hat vor allem in Afrika unendliches Leid verursacht.
Die höhere Wahrheit kennt nur Rom
Wer moralisch auf dem hohen Ross sitzt, muss sich auch daran erinnern lassen, dass nicht nur in Nordirland gewaltige Schranken zwischen Katholiken und Protestanten aufragten und heute noch aufragen. In den 1960er Jahren gab es an vielen deutschen Schulen getrennte Toiletten für katholische und protestantische Schüler. Einer meiner Kindheitsfreunde in den späten 1950er Jahren im damals tiefkatholischen Österreich war doppelt geschlagen: Seine Mutter war nicht verheiratet, und er war Protestant. Die gesellschaftliche Ausgrenzung war bis in den Kindergarten zu fühlen.
Zur selben Zeit erregten sich brave Christen in Europa über die Segregation der Rassen in den Südstaaten der USA. Sie sahen lieber den Balken im Auge des anderen statt den im eigenen.
So ähnlich verhält es sich auch mit dem heutigen Lamento über Moralverlust durch den Bedeutungsverlust der Kirchen. Zum einen haben sich diese Institutionen selbst als moralische Instanz disqualifiziert, wo sie kriminelles Verhalten unter den Teppich gekehrt haben. Ebenso dort, wo sie tyrannische Regime gestützt haben und gleichzeitig ihre eigenen Amtsträger, die gegen Tyrannen aufgestanden sind, zum Schweigen verurteilten, siehe die flächendeckende Unterdrückung der Befreiungstheologie. Sie haben sich auch disqualifiziert, weil sie unter Berufung auf eine höhere Wahrheit, die angeblich nur in Rom verfügbar ist, jegliche Kritik zum Verstummen brachten. Man muss offenbar schon froh sein, dass heute der Entzug der Lehrbefugnis oder des Rechts, Messen zu lesen, an die Stelle des Scheiterhaufens getreten ist. Die Namen Hans Küng, Adolf Holl und Eugen Drewermann stehen hier für viele.
Der Hinweis auf die sozialen Leistungen der Kirchen und Glaubensgemeinschaften und ihre Rolle im Bildungssektor ist berechtigt. Doch das heißt ja nicht, dass es diese Leistungen nicht auch in einer Gesellschaft geben kann, in der Religion keine große öffentliche Rolle mehr spielt und damit komplett zur Privatsache wird ohne jeglichen Einfluss auf die Gestaltung gesellschaftlichen und politischen Lebens. Auch nichtreligiöse Institutionen betreiben Kindergärten, Privatschulen und auch Universitäten.
Die Kirche muss Ballast abwerfen
Die Koppelung der Konzepte von Moral und Religion ist nicht zwingend. Religion kann kein Monopol auf ethische Werte geltend machen. Menschen agieren nach moralischen, nach stark ethisch geprägten Werten, auch wenn keinerlei religiöser Druck vorhanden ist. Auch in wenig religiös geprägten Ländern zeigen sich in der Bevölkerung dennoch weiter starke sozial geprägte, menschlich zugewandte Haltungen, also auch dort, wo die Konzepte von Glauben und gelebter Religiosität eine untergeordnete Rolle spielen – wie in Skandinavien.
Den Kirchen ist aber noch anderes vorzuwerfen. Indem sie durch die Unbedingtheit des Glaubens historisch bedingte Irrtümer und unzulängliche Moralvorstellungen für alle Zukunft festschreiben, verhindern sie künftige Erkenntnisse und Entwicklungen zugunsten dogmatischer Borniertheit. Damit, und nicht nur durch die Skandale der vergangenen Jahrzehnte, haben sie sich so weit von den Menschen entfernt, dass viele in ihrem Suchen nach Sinn und Spiritualität in eine esoterische oder charismatische Richtung abdriften.
Ja noch mehr: Innerhalb der Kirche bilden sich charismatische Zirkel und Gemeinschaften, genannt seien hier nur die Legionäre Christi als Beispiel, in denen sich wiederum Scheinheiligkeit, Ausbeutung und sexueller Missbrauch breitmachen. In ihrer Unfähigkeit, selbst auf gesellschaftlichen Wandel zu reagieren und Evolution im Geistesleben mit moralischen Inhalten zu füllen und so Sinn zu stiften, treiben die Kirchen die Menschen in die Gleichgültigkeit oder in die Abhängigkeit von Scharlatanen und Betrügern. Ihr Jahrhunderte währendes Sträuben gegen naturwissenschaftliche Erkenntnisse legte die Basis für eine Wissenschaftsskepsis, die heute wiederum den Esoterikern und Schwurblern Anhänger zutreibt und zugleich die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fortschritte erschwert.
Wollten die Kirchen weiterhin Gewicht haben in ethisch-moralischen Diskussionen, müssten sie sich weniger um die Zahl ihrer zahlenden Mitglieder kümmern als um eine Bereinigung ihrer eigenen Historie, sie müssten Ballast abwerfen und die eigene Fehlbarkeit einsehen und eingestehen. Aber dann könnten sie sich nicht mehr auf eine überirdische Legitimation berufen und wären auch kein Machtinstrument mehr, das Moral von der Kanzel diktiert.

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