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Digitales Leben

Daumen hoch fürs Internet

Auch ohne den NSA-Skandal diskutiert die Netz-Welt permanent über die Folgen der digitalen Revolution. Dabei treffen gerade die Befürchtungen eines jungen Kulturpessimisten auf die Liebeserklärung eines alten französischen Philosophen an die digitale Generation.

Malte Herwig14.02.2014

Wie gut, dass es Google gibt. Das Ziel der kalifornischen Internet-Firma besteht laut eigener Auskunft darin, „die Informationen der Welt zu organisieren und allgemein zugänglich und nützlich zu machen“. So weit, so gut, denkt man. Google führt einfach das fort, was Bibliotheken, Universitäten und Archive schon seit Jahrtausenden tun. Das Internet ist ja inzwischen ein unüberschaubarer Datendschungel geworden, der ohne Suchmaschinen wie Google ziemlich unpassierbar wäre. Nie in der Menschheits-geschichte ist so viel Wissen so vielen Menschen so direkt zugänglich gewesen. Google ist die Machete, mit der wir uns durch dieses Informationsdickicht schlagen können, indem wir uns sonst rettungslos verheddern würden. Ein neues Werkzeug, pardon: Tool, wie es auf Neudeutsch heißt. Mehr nicht.

Die Erfinder dieses Werkzeugs sehen das natürlich anders. „Technik dreht sich nicht mehr um Hardware oder Software“, verkündete Google-Chef Eric Schmidt 2011 in einer Rede am Massachusetts Institute of Technology, „sondern darum, die gewaltigen Datenmengen zu sammeln und auszuwerten, um die Welt zu verbessern“. Donner-wetter: Weltverbesserer war mal ein Schimpfwort für Spinner, Anarchisten und Propheten. Im Zeitalter der Internet-Revolution aber hängen sich die Geschäftsführer milliardenschwerer börsennotierter Unternehmen gern den Mantel selbstloser Visionäre um, wenn sie über den gesellschaftlichen Kollateralnutzen ihrer Geschäftsziele sprechen.

Auch Mark Zuckerberg, der Gründer des sozialen Netzwerks Facebook, behauptet von sich, er wache „nicht morgens auf mit dem Ziel, Geld zu verdienen“. Facebooks vorrangige Mission sei es, „die Welt offener und vernetzter zu machen“. Innerhalb eines einzigen Menschenlebens ist die Weltbevölkerung von zwei auf sieben Milliarden Erdenbürger gestiegen. Mehr als eine Milliarde von ihnen sind bereits bei Facebook registriert.

Stunde der Kulturpessimisten

Klar, dass eine solch rasante Entwicklung schnell die üblichen Fortschrittskritiker und Kulturpessimisten auf den Plan ruft, die an menschliche Urängste vor technologischer Veränderung appellieren und die Gefahr einer Machtübernahme durch alles beherrschende Algorithmen an die Wand malen, die den Menschen seines eigenen Willens berauben und in die digitale Knechtschaft führen. Kulturpessimismus ist ja eine europäische Spezialität. Die emphatischen Versprechungen der Netzapostel aus dem Silicon Valley stoßen gerade in Deutschland auf Argwohn – einem Land, dessen Bewohner am liebsten nur mit Gurt und Airbag auf die Datenautobahn fahren würden und die Bürgersteige hochklappen, wenn der Wagen von Google Street View vorbeifährt.

Kein Wunder, dass Netz-Kritiker wie der in Weißrussland geborene Wissenschaftshistoriker Evgeny Morozov auf ihrem fanatischen Kreuzzug gegen das Internet hierzulande von einem Feuilleton zum nächsten gereicht werden. Das jüngste Werk des eloquenten Konterrevolutionärs heißt „Smarte neue Welt“ und warnt auf über 600 Seiten vor den allgegenwärtigen Bedrohungen unserer analogen Freiheit durch die digitale Kontrolle. Morozovs Kassandrarufe sind hysterisch, unterhaltsam und mitunter durchaus bedenkenswert, etwa wenn er den Effizienz- und Vermessungswahn der „quantified self“-Bewegung kritisiert. Es stimmt ja nicht, dass alles besser wird, wenn wir es nur quantifizieren können, wie die Anhänger dieser Bewegung glauben, die mithilfe von elektronischen Gadgets und Handy rund um die Uhr ihre Blutwerte, Puls und Herzfrequenz messen, um ihren Körper und Lebenswandel zu optimieren. Dass die Welt per Mausklick geheilt werden kann, ist eben eine Illusion, wie der doppeldeutige Originaltitel von Morozovs Buch klarstellt: „To Save Everything, Click Here“.

Doch Morozov schieß in seinem Furor weit über das Ziel hinaus. Bisher hat die zivilisierte Menschheit noch jeden Medienwandel gemeistert, ohne in dumpfe Abhängigkeit von neuen Wissenstechniken zu geraten. Die Erfindung des Buchdrucks mag dazu geführt haben, dass ein Großteil des Wissens aus dem ständig abrufbaren Gedächtnis in Bibliotheken ausgelagert wurde und so nicht mehr ständig im Bewusstsein präsent war. Doch statt geistig zu verarmen, lernte der Mensch, das Buch als Werkzeug zu nutzen. Montaigne sagte, er ziehe einen wohlbeschaffenen einem wohlgefüllten Kopf vor.

Der gigantische Wissensspeicher Internet stellt nur den Gipfel dieser Entwicklung dar. Allein die virtuelle Bibliothek Google Books umfasst inzwischen mehr als 30 Millionen gescannte Bücher. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia stellt allein mit ihren weit mehr als 4 Millionen englischsprachigen Artikeln die Encyclopedia Britannica weit in den Schatten. Doch in Europa stoßen selbst diese Projekte immer wieder auf Skepsis und Widerstand. Die Entgrenzung des Wissens und seine Verflüchtigung im digitalen Nirwana schürt die Angst des Bildungsbürgers vor dem Kontrollverlust. Wissen ist Macht. Aber Open Access, Wissen für alle – das kann doch nur zur Anarchie führen.

Bekenntnisse eines Alten

Umso mehr freut man sich, dass ausgerechnet aus der verstaubten Welt der „Académie française“ eine optimistische Stimme kommt: Der französische Philosoph Michel Serres ist mit seinen inzwischen 83 Jahren kein „digital native“, sondern eher ein Fossil des analogen Zeitalters. Der Zukunftsoptimismus, den er in seinem kleinen Pamphlet „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ verbreitet, ist gleichwohl ansteckend.

Dabei gibt sich auch Serres als Kulturpessimist, nur richtet sich seine Kritik nicht gegen das Internet, sondern die „Gesellschaft des Spektakels“, deren Mitglieder durch seichte Unterhaltung und manipulative Werbung abgestumpft sind. Er begrüßt das Aufbrechen der alten Wissensordnung und das Zerfallen ihrer Institutionen als Befreiung von autoritärer Bevormundung. Ordnung beengt, die neue Generation der Netz-User dagegen macht mobil in der beziehungslosen Freiheit des anarchischen Internets. Fast scheint es, als entdeckte der alte Philosoph den jungen Revoluzzer in sich, der noch einmal all die Institutionen zerschlagen will, durch die er längst hindurchmarschiert ist: „Schlagen wir die Lehrinhalte in Stücke, auf dass ein Forscher gleich vor seiner Tür einem anderen begegnen möge, der unter einem fremden Himmel geboren wurde und eine fremde Sprache spricht. Er käme weit herum, ohne sich von der Stelle rühren zu müssen“.

Sympathie für die Zukunft

Eine Studie des Medienforschungsunternehmens Nielsen aus dem Jahr 2010 zufolge sendet ein durchschnittlicher Teenager rund 3000 SMS-Textnachrichten pro Monat von seinem Handy. Jeder Mensch über dreißig Jahren mag darin autistisches Sozialverhalten sehen, wenn zwei Jugendliche im gleichen Raum sich texten, statt persönlich miteinander zu kommunizieren. Die amerikanische Soziologin Sherry Turkle befürchtet gar eine schleichende emotionale Vereinsamung durch die Nutzung moderner Kommunikationstechnologie: „Digitale Vernetzung und   kontaktfreudige Roboter erzeugen eine Illusion von Kameradschaft, die ohne die Verpflichtungen echter Freundschaft daherkommt. Unser vernetztes Leben macht es uns möglich, uns vor dem anderen zu verstecken und gleichzeitig mit ihm verbunden zu sein. Wir texten lieber als wir reden”.

Serres dagegen empfindet Sympathie mit seinen jungen Studenten, die im Hörsaal nicht mehr stillsitzen können, dauernd plappern und SMS-Textnachrichten verschicken, und wünscht sich, er wäre noch einmal so alt wie sie, „jetzt, da alles zu erneuern, ja erst noch zu erfinden ist“. Dieser Jugend, den ständig auf dem Handy tippenden „Däumlingen“, widmet der Philosoph seine Liebeserklärung. Wenn Serres dabei manch gewagte rhetorische Volte schlägt und ungezwungen von einem Gedanken zum nächsten springt, geht er mit gutem Beispiel voran: nicht die Ordnung zählt, sondern das Detail, die Idee. Nicht auf das Wissen kommt es an – das ist jederzeit im Netz zugänglich – sondern auf Kreativität: „Die erfinderische Intelligenz bemisst sich an der Distanz zum Wissen“. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft. Schon Schopenhauer riet vom übermäßigen Lesen ab, denn „wann wir lesen, denkt ein anderer für uns“.

Trotz mancher Widersprüche hat Serres’ Liebeserklärung an die vernetzte Jugend den Werken von Untergangspropheten wie Morozov eines voraus: er sieht das Internet als Werkzeug, eine Zivilisationstechnik, die zwar enorme Möglichkeiten mit sich bringt, über deren Nutzen aber vor allem unser Gebrauch entscheidet. Wer Angst hat, von seinen Gadgets beherrscht zu werden, dem kann man nur raten: Auf dem Teppich bleiben und einfach mal abschalten.
Malte Herwig
Dr. Malte Herwig ist Reporter und Autor. Zuletzt erschien „Die Frau, die Nein sagt. Rebellin, Muse, Malerin - Françoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso “ (Ankerherz Verlag 2015). Für das Rotary Magazin befragt er regelmäßig Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft.  malteherwig.com