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Interview

»Kirche braucht eine Adresse«

Unter den Institutionen, die für die deutsche Kulturgeschichte prägend sind, hat das evangelische Pfarrhaus einen besonderen Rang. Was als revolutionäre Tat begann – der Auszug der Geistlichkeit aus dem Kloster und die Gründung einer eigenen Familie inmitten der Gemeinde – wurde zu einer Heimstatt der schönen Künste, der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und zu einem prägenden Elternhaus. Der allgemeine Wandel der Institutionen geht freilich auch nicht am Pfarrhaus vorbei. Unterdessen rückt das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 allmählich näher.

Gerhard Ulrich16.12.2013

Herr Bischof Ulrich, welche Bedeutung hat das Pfarrhaus für die evangelische Kirche als Organisation?

Gerhard Ulrich: Das Pfarrhaus ist theologisch und kirchengeschichtlich von großer Bedeutung. Es ist ein Ergebnis der Reformation. Martin Luther hat als einer der ersten Geistlichen durch seine Heirat mit der aus dem Kloster geflohenen Katharina von Bora ein Pfarrhaus „gegründet“, das zum Modell für das evangelische Pfarrhaus schlechthin wurde. Das hat die gesamte kirchliche Landschaft auf einen Schlag verändert. Nun waren es nicht mehr die Klöster, von denen das geistliche Leben ausging, sondern die Pastorate, die Pfarrhäuser.

Und heute?
Bis heute sind die Pfarrhäuser für das Gemeindeleben elementar: Sie sind Zentren der Kommunikation, der Auseinandersetzung, ganz oft auch kulturelle Mittelpunkte und mit Sicherheit Orte, an denen Menschen Rat finden. Auch diese Tradition geht bereits auf Luther zurück. Er selbst hat sein Pfarrhaus als ein offenes Haus gelebt; wir kennen seine berühmten Tischreden, die alle in diesem Hause stattgefunden haben.
Allerdings muss man unterscheiden zwischen dem Gemeindeleben in der Stadt und dem auf dem Land. In der Stadt wohnen die Menschen so eng beieinander, dass die Residenz des Pfarrers nicht von so zentraler Bedeutung ist. Auf dem Lande haben die Menschen jedoch in den letzten Jahrzehnten vielfach eine Phase der Ausdünnung erlebt, wobei der gewohnte Lebenszusammenhang oftmals zerbrach: Der Dorfkrug schloss vielerorts ebenso wie der örtliche Kaufmann, und auch der Bürgermeister saß nach der Bildung politischer Großgemeinden nicht mehr im eigenen Dorf. Dort ist das Pfarrhaus im Grunde genommen noch das einzig gebliebene, halbwegs öffentliche Gebäude, an dem das Gemeindeleben einen Mittelpunkt findet.

Strahlt das Pfarrhaus auch dort, wo die Kirchengemeinde und die Dorfgemeinde nicht mehr deckungsgleich sind?

Durchaus. Als Landesbischof bin ich u.a. zuständig für Mecklenburg-Vorpommern, wo ganze Generationen keine Berührung mit Kirche hatten und in den 40 Jahren der DDR-Herrschaft das Pfarrhaus nicht unbedingt im Mittelpunkt des Interesses der Öffentlichkeit stand. Ich nehme dort gerade auch bei den Menschen, die nicht Mitglied der Kirche sind – und das sind die allermeisten – wahr, welche große Bedeutung die Dorfkirche und das dazugehörige Pfarrhaus haben. So ist auch den Nicht-Kirchgängern bewusst, dass während der SED-Herrschaft in vielen Pfarrhäusern entscheidende Dinge geschahen, dass sie ein Zufluchtsort in Zeiten der Not waren. Auch heute schauen die Menschen immer noch darauf und sagen, es ist wichtig zu wissen, dass es Orte gibt, die nicht aufgehen in der Privatisierung, die offen sind für jedermann.

Durch sein Leben im Kreise der eigenen Familie führt der evangelische Pfarrer ein deutlich weltlicheres Dasein als sein katholischer Amtsbruder. Ist er dadurch eine profanere und weniger heilige Figur?

Wir Protestanten haben grundsätzlich einen anderen Heiligkeitsbegriff als die Katholiken. „Heilig“ heißt ja „zu Gott gehörig“. Nach unserem Verständnis werden Räume – das gilt für Gebäude, aber auch für Menschen und Familien – dadurch geheiligt, dass in ihnen das Wort Gottes verkündigt wird. Heilig bin ich somit da, wo ich meinen Dienst tue. Als evangelischer Geistlicher wechsele ich nicht, das ist ein Ergebnis der Reformation, in einen anderen Status. Auch ein ordinierter Pastor ist und bleibt ein Mensch wie jeder andere auch, allerdings mit einem besonderen Dienst. Und dieser Dienst heiligt ihn.

Konträr zur Bedeutung des Pfarrhauses als öffentlicher Raum steht seine Funktion als privates Refugium. Ist diese immer noch aktuell?

Es gibt heute kaum noch Orte, an denen wir ungestört und ganz für uns sind. In dem World Wide Web, wo alle Informationen offen liegen und wo es große Augen und Ohren gibt, wo andere mehr von uns wissen als wir selbst, sind solche Orte von unschätzbarer Bedeutung. Sie machen aufmerksam auf etwas zutiefst Menschliches: auf die Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat; auf die Sehnsucht, für sich sein zu dürfen, oder auf die Sehnsucht, ein Ohr zu finden. Ich glaube, je offener unsere Welt wird und je komplexer und unübersichtlicher, desto wichtiger werden solche Orte, an die wir uns zurückziehen können, an denen wir willkommen sind und sein dürfen, wie wir sind.

Sehen Sie in der näheren Zukunft Bedrohungen für das Pfarrhaus?

Ich würde lieber von Herausforderungen sprechen und nicht von Bedrohungen. Zu dem, was uns die Zukunft an Fragestellungen auferlegt, gehört unter anderem, wie wir es weiterhin gewährleisten können, dass wir auch in den ländlichen Räumen präsent sind. Es ist jetzt schon Realität für viele Pastoren in Mecklenburg und Pommern, dass sie zuständig sind für mindestens neun, manchmal auch siebzehn Dörfer. Wir müssen uns fragen, wie wir die Präsenz vor Ort aufrechterhalten können. Davon wird entscheidend abhängen, ob wir als Kirche bei den Menschen angenommen werden.
Manche Stimmen meinen, man könne doch im Zeitalter der elektronischen Medien auch auf anderen Wegen zueinander Kontakt halten. Zudem gäbe es ja auch die Internetseelsorge und die Briefseelsorge. Und doch ist das Pfarrhaus meiner Meinung nach unersetzlich. Es ist eben etwas völlig anderes, wenn man körperlich sichtbar und persönlich ansprechbar ist. Zu den wichtigsten Gesprächen im Amt gehören die Treffen am Gartenzaun. Jedermann kann einfach beim Pastor halten und ihn alles fragen, was er schon immer wissen wollte, oder sagen, was ihn schon lange ärgert. Viele Menschen kämen gar nicht auf die Idee, sich hinzusetzen und ihrem Pfarrer eine E-Mail zu schreiben. Deshalb muss die Kirche unbedingt anfassbar bleiben, Kirche braucht eine Adresse.

Die 2012 gegründete Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, der Sie als Bischof vorstehen, ist entstanden durch die Fusion dreier höchst unterschiedlicher Landeskirchen: Nordelbien mit 2 Millionen Mitgliedern, Mecklenburg mit 200.000 und Pommern mit knapp 100.000. Was ist das für eine Kirche?

Wir sind eine Kirche, die mitten in der Gesellschaft steht und die eine wichtige Stimme ist in der öffentlichen Auseinandersetzung. Das bleibt so, auch wenn wir im Moment weniger werden. Natürlich sind wir eine Kirche, die oftmals in einem sehr säkularen Umfeld ihren Dienst leistet. Deshalb suchen wir auch den Dialog mit denen, die keiner Konfession angehören. Dialog heißt hier, dass wir nicht verkünden wollen, was den anderen fehlt, sondern dass wir durch Fragen herausfinden wollen, wer sie eigentlich sind, was sie herausfordert, worauf sie bauen und was sie wirklich hält. Wir sagen nicht, ihr seid defizitär, euch fehlt etwas. Sondern wir sagen, dass uns eigentlich etwas fehlt, weil wir noch nicht genug wissen von euch; zum Beispiel wie man eigentlich ein Leben gestaltet, von dem ihr behauptet, ihr kommt ganz gut ohne Gott und Kirche aus.

Muss sich die Kirche daran gewöhnen, in Regionen, die einmal ihr Kernland waren, wieder stärker zu missionieren?

Wir haben uns den Missionsgedanken nie abgewöhnt. Aber in dieser Zeit, in der wir leben, sind andere Formen von Mission nötig. Es heißt nicht, einfach auf die Straße hinauszugehen und möglichst viele in das Haus hereinzubringen. Mission heißt für mich, präsent zu sein – als Kirche und als Geistlicher. Wir zeigen uns und wir sind offen. Und wir haben allen Grund, mit dem, was wir zu verkündigen haben, laut und offensiv umzugehen.
Weihnachten steht vor der Tür. Da heißt es beim Evangelisten Lucas: „Fürchtet euch nicht, denn siehe ich verkündige euch große Freude“. Das ist so aktuell wie immer. Und auch deswegen sind die Kirchen am Heiligabend so voll, weil die Menschen genau das hören möchten: Fürchtet euch nicht. Und das ist, glaube ich, die Mission, die wir haben. Mission heißt Dienst. Und unser Dienst ist es, die Menschen auszurichten und sie einzuladen, ihr Leben mit uns zusammen zu gestalten.

Im politischen Alltag hat man oft das Gefühl, dass man den Kirchen gern eine Zuständigkeit für die „weichen Faktoren“ zubilligt, zum Beispiel Ethik oder Soziales, aber ansonsten erwartet, dass sie nicht stören sollen. Ärgert Sie so etwas?
Das ärgert mich gar nicht. Mich stört jedoch, wenn in dieser Gesellschaft Politik immer gleichgesetzt wird mit Parteipolitik. Die Polis betrifft alle Menschen und ihr Zusammenleben miteinander. Natürlich sind die Kirchen durchaus zuständig für die sogenannten „weichen Faktoren“. Wir bewahren Werte, wir bewahren Träume, die immer noch wach sind in den Menschen.
Allerdings ist der Auftrag der Kirche viel umfassender. Sie verkündet eine Botschaft, die hineinzielt in die Lebenszusammenhänge der Menschen. Alles, was Jesus gesagt und getan hat, hat er zu ganz konkreten Menschen gesagt und getan, die in ganz konkreten lebensgeschichtlichen Situationen lebten, in Drangsal, in Verfolgung, unter Gewalt. Deshalb gelten seine Lehren bis heute. Wir haben hineinzusprechen in die Lebensverhältnisse der Menschen, und deswegen mischen wir uns auch ein. Themen wie Mindestlöhne, hohe Mieten oder die Flüchtlingsproblematik zum Beispiel sind urbiblische Themen. Was ist das Gleichnis vom ungerechten Weinbauern? Da geht es um Mindestlohn, und die Frage des Neids und der Fähigkeit, miteinander zu teilen. Wie ist das mit der Flüchtlingsproblematik? Was heißt es, eine Willkommenskultur zu haben? Heißt das, dass wir jeden nehmen und hier behalten müssen, der gerade vorbeikommt? Was bedeutet aber auch unsere Angst vor den Fremden? Das sind urbiblische Themen, von denen werde ich nicht lassen.
Die Kirche hat sicherlich nicht mehr das Monopol von Sinndeutung und von Weltdeutung. Aber wir wollen auch nicht darauf verzichten, den Menschen in ihrer Sehnsucht nach Orientierung im Leben zu helfen.

Zu guter Letzt: Was verbinden Sie ganz persönlich mit dem Pfarrhaus?

Ich wohne seit 32 Jahren in Pfarrhäusern. Das heißt, meiner Frau und mir ist immer zugemutet, aber auch zugetraut, in einem offenen Haus zu leben; und wenn es klingelt, macht man auf und wundert sich manchmal, wer vor der Türe steht. Ich werde aufgesucht von Menschen, mit denen ich sonst nie in Kontakt käme. Und ich kann, einfach dadurch, dass ich die Tür aufmache und eine Zeit lang jemanden bei mir habe, der sonst nicht weiß, wo er hin soll, ein Stück Geborgenheit schenken. Das ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

Das Interview führte René Nehring.
Gerhard Ulrich
Gerhard Ulrich (RC Kappeln) war bis 2019 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Zudem war er bis November 2018  Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Er ist Mitherausgeber des Bandes „Orte der Reformation. Hamburg, Lübeck, Schleswig-Holstein“ (Evangelische Verlagsanstalt, 2013).

 

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