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Luther-Dekade in Mitteldeutschland

Erinnerungsorte der Reformation

Unter den Institutionen, die für die deutsche Kulturgeschichte prägend sind, hat das evangelische Pfarrhaus einen besonderen Rang. Was als revolutionäre Tat begann – der Auszug der Geistlichkeit aus dem Kloster und die Gründung einer eigenen Familie inmitten der Gemeinde – wurde zu einer Heimstatt der schönen Künste, der Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Wissenschaft und zu einem prägenden Elternhaus. Der allgemeine Wandel der Institutionen geht freilich auch nicht am Pfarrhaus vorbei. Unterdessen rückt das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 allmählich näher.

Stephan Dorgerloh16.12.2013

Kein Zweifel: Mitteldeutschland ist steinreich. Kaum eine andere Region in Deutschland verfügt über eine derartige Dichte an steinernen Zeugnissen der Vergangenheit wie die drei Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Was für das Mittelalter, die Zeit des Barock, Klassik oder Aufklärung gilt, trifft nicht minder auf die Epoche der Reformation zu. Die drei Bundesländer vereinen hier die wichtigsten Stätten der Reformation auf sich: ob Thüringen mit dem Lutherstammort Möhra und dem Augustinerkloster Erfurt, Eisenach und der Wartburg; Sachsen-Anhalt mit Luthers Geburts- und Sterbeort Eisleben, dem Elternhaus in Mansfeld und Wittenberg als Hauptwirkungsort des Reformators (Lutherhaus, Schloss- und Stadtkirche); oder Sachsen mit Torgau. Wer den Spuren der Reformation nachgehen will, kommt nicht umhin, Mitteldeutschland in den Blick zu nehmen.

Wenn wir 2017 auf den Thesenanschlag Martin Luthers an die Tür der Wittenberger Schlosskirche zurückblicken, erinnern wir jedoch weit mehr als an eine historische Momentaufnahme. Denn jedes Jubiläum wird in der je eigenen Gegenwart begangen. Und immer stellt sich die Frage, was uns dieses ferne Geschehen heute noch sagt. Ob der Thesenanschlag tatsächlich stattgefunden hat oder Luther seine Thesen nur in Briefform versandte, ist in der Forschung umstritten und im Ergebnis auch gar nicht so wichtig. Denn was bleibt und sich in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat, ist das Bild Luthers, der zu seinen Überzeugungen steht und sich von den Mächtigen, Tod und Teufel nicht einschüchtern lässt. „Hier stehe ich …“
Das eigene Gewissen als Maßstab moralischen Handelns und die individuellen Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, das sind Errungenschaften, die uns teuer sind und die – gerade auch in Mitteldeutschland – vor 24 Jahren mutig erstritten wurden. Eine so verstandene Reformation ist deshalb eine Bewegung, die sich in jeder Generation erneuert. Schon vor 100 Jahren hat Adolf von Harnack die Formulierung geprägt, dass die Reformation weitergehen müsse. Er begriff sie nicht als abgeschlossene Epoche, sondern als lebendigen Prozess, den es weiterzudenken gilt. Harnacks Blick auf die Reformation ist der einer dauerhaften Verpflichtung.

Auftrag der Luther-Dekade

Um uns diese wichtige Wurzel unserer Gesellschaft und Geistesgeschichte ins Gedächtnis zu rufen und uns die durch sie aufgeworfenen Fragen neu zu stellen, ist 2008 die Lutherdekade ins Leben gerufen worden – als Anstoß, als Forum und Gesprächsangebot, auch als Rahmen für vielfältige kulturelle und wissenschaftliche Projekte.

Die zehn Themenjahre sollen das gesamte Land auf das 500. Jubiläum des Beginns der Reformation einstimmen, ein Schwerpunkt liegt jedoch zweifellos in Mitteldeutschland mit seinen authentischen Lutherorten. Zudem werden die verschiedenen Aspekte und Auswirkungen der Reformation angesprochen, die unsere Gesellschaft bis heute prägen. So stand etwa im Jahr 2012 das Thema „Reformation und Musik” im Zentrum. Für Martin Luther war die Musik ein Mittel der Gottes- und Selbsterkenntnis, er selbst schuf über 40 Kirchenlieder. Aber auch in den Jahrhunderten „nach Luther“ ist das Wirken gerade der evangelischen Kirchenmusik an Vielfalt und kultureller Prägekraft insbesondere in Mitteldeutschland mit Schütz, Bach und Händel ohne Parallele. Dass es auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 ein Themenjahr Reformation und Musik gibt, hätte Luther also gewiss gefallen.

Aber es geht auch nach Luther weiter, wie der 350. Geburtstag August Hermann Franckes (1663-1727) zeigt, dem derzeit ein großes Jahresprogramm in Halle gewidmet ist. Der hallesche Pietismus prägt Facetten unserer Gesellschaft bis auf den heutigen Tag und fand bereits in seiner Zeit internationale Beachtung. So wirken etwa Franckes mehrgliedriges Schulsystem und seine in der unmittelbaren Anschauung wurzelnde Didaktik bis heute fort. Seine Armenfürsorge machte Halle zur Wiege der Anstaltsdiakonie. Die in den Franckeschen Stiftungen beheimatete Cansteinsche Bibelanstalt sorgte für die millionenfache Verbreitung der Bibel im Taschenbuchformat und schuf so die Voraussetzungen für eine private Lesekultur in breiten Bevölkerungskreisen.

Aus Mitteldeutschland gingen damit zwei bedeutende, miteinander verbundene Ereignisse aus: Die Reformation durch den Wittenberger Thesenanschlag Luthers 1517 und die von manchen als „Vollendung der Reformation“ gepriesene „Generalreform“ im halleschen Pietismus durch August Hermann Francke. Sie ist die wichtigste protestantische Reformbewegung der Neuzeit. Das Beispiel Francke zeigt aber auch exemplarisch, warum unsere Region ein großes Interesse am Reformationsjubiläum hat; die Reformation stellt auch eine Epochenwende und ein Kulturereignis dar; ihre Wirkungen begleiten uns in unserer Verfassung, der deutschen Sprache, der Musik und Alltagskultur bis heute. Das wird auch im kommenden Jahr deutlich, wenn es zentral um „Reformation und Politik“ geht.

2015 ist dann Cranachjahr! Das „Geburtstagskind“ des Jahres 2015, Lucas Cranach der Jüngere, ist ein Sohn Wittenbergs, wo er fast sein gesamtes Leben verbrachte. Sein künstlerisches Schaffen wird dann in Sachsen-Anhalt deshalb besonders gewürdigt und hier – erstmals – Gegenstand eines großen Ausstellungsvorhabens sein. Eine Landesausstellung mit dem Titel „Lucas Cranach der Jüngere – Entdeckung eines Meisters“ soll die Stätten des Wirkens und der frühen Rezeption Cranachs des Jüngeren in Wittenberg und Anhalt verbinden. In Thüringen ist ebenfalls eine Mehrzahl von Ausstellungen zur Malerwerkstatt Cranach in Gotha, Eisenach und Weimar geplant, wobei sich die Initiativen beider Länder eng abstimmen. Der Freistaat Sachsen läutet 2015 den Beginn der großen, „nationalen“ Ausstellungen ein, die die Wahrnehmung des Reformationsjubiläums 2017 nachhaltig prägen dürften. Auf Schloss Hartenfels in Torgau wird mit „Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation“ das politische Erbe der Reformation beleuchtet.

Wiederentstehende Geschichtslandschaft

Überhaupt haben die Bundesländer begleitend zu den Themenschwerpunkten in den vergangenen fünf Jahren mit Unterstützung des Bundes etliche Sanierungsvorhaben der authentischen Lutherstätten in Angriff genommen, in Sachsen-Anhalt etwa in Wittenberg, Eisleben und Mansfeld, in Thüringen die Wartburg, in Sachsen Schloss Hartenfels in Torgau und viele andere mehr.

Die Stadt Torgau, die „Amme der Reformation“, oder das Augustinerkloster in Erfurt sind bereits gut gerüstet für die Touristen aus dem In- und Ausland. Auch in Sachsen-Anhalt ist schon sehr viel an Bauvorhaben geschafft: In Eisleben wurde die Taufkirche Martin Luthers zum „Zentrum Taufe“ umgestaltet, Luthers Sterbehaus in Eisleben sowie das Melanchthonhaus in Wittenberg mit sehr gelungenen Dauerausstellungen wiedereröffnet. Im kommenden Jahr – am 14. Juni 2014 – wird Luthers Elternhaus in Mansfeld als Museum der Öffentlichkeit übergeben. Mit Schloss und Schlosskirche in Wittenberg oder dem Augusteum am Wittenberger Lutherhaus stehen aber auch noch große Herausforderungen vor uns. Das Ziel dabei ist klar: Erlebnisse für Bewohner und Gäste am historischen Ort zu ermöglichen, diese aber gleichzeitig sicher für nachfolgende Generationen zu bewahren.

Doch es wird nicht nur gebaut. Vielfältig sind die Projekte. Vom Lutherweg über Stadtfeste und Disputationen, Jugendprojekte und Schülerwettbewerbe bis zu Kunstinstallationen und neuen Kompositionen reicht die Palette. Ob Kirchengemeinde oder Gesangsverein, Universität oder Jugendklub – viele sind beteiligt und alle sind eingeladen. Auch der Bundestag hat sich in zwei Beschlüssen 2008 und 2011 dazu bekannt, dass „die Reformation […] nicht nur in unserem Land, sondern europaweit und weltweit eine prägende Wirkung auf Gesellschaft und Politik gehabt [hat]“. Es handelt sich hier im wahrsten Sinne des Wortes um ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung.

Die mitteldeutschen Bundesländer, Kommunen und Landeskirchen befinden sich in der Bewahrung und Pflege dieses Erbes in bester Gesellschaft: Viele private Initiativen bemühen sich um einzelne Aspekte der Reformationsgeschichte und -zukunft, etwa der „Freundeskreis Luther e.V.“, der sich der Erhaltung des Wittenberger Schlosskirchenensembles verschrieben hat. Der Ort, an dem Martin Luther seine Thesen in die Welt setzte, ist Zeugnis der Epochenwende, die wir am Reformationstag 2017 feiern wollen. Es ist von praktischer Notwendigkeit und mehr noch von hohem symbolischem Wert, dass diese Vorbereitungen auch breit durch in besonderem Maße engagierte Bürger getragen werden. Denn hier schließt sich ein Kreis: Was mit Luther klein begann, hat längst große Wirkung gezeigt – in Mitteldeutschland und darüber hinaus. 2017 wird deshalb nicht nur in Mitteldeutschland gefeiert, sondern weltweit.