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Kompetenz versus Urteilskraft

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Studien wie TIMSS, PISA und IGLU untersuchen auf verschiedenen Gebieten die Fähigkeiten und Kompetenzen der Schüler © Privat, plainpicture/Cavan Images

Über Wissen, Nichtwissen und falsche Freunde oder Wohin geht die Bildung? Zur aktuellen IGLU-Lesekompetenz-Studie

01.02.2018

Prof. Dr. Christoph von Wolzogen ist apl. Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien von ihm „Achtzehnhundert. Vom Vergehen und Werden einer Welt“ (Edition Fichter 2017).

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Wir leben in einer „Wissensgesellschaft“, entsprechend hoch sind die Anforderungen an Instrumente, in Erziehung, Bildung und Unterricht einen adäquaten, überprüfbaren In- und Output zu garantieren. Die Frage ist jedoch, ob man mit der Formel „Lasst hundert Kompetenzen blühen“, wie sie die aktuelle IGLU-Studie anhand ihrer Untersuchung der Lesekompetenz von Grundschulkindern präsentiert, die klassische Diskussion um die Bildung ersetzen kann.

"Kompetenz-Kompetenz"
Ein Mathematiker, bekannt als Musikverächter, wird von Freunden in ein Beethovenkonzert geschleppt. Befragt nach seinem Eindruck, meint er nur: „Sehr schön – aber was beweist das?!“ Wie alle Anekdoten hat auch diese einen Wahrheitskern, er bezeichnet den Umbruch einer Gesellschaft, die sich als „Wissensgesellschaft“ versteht. Ende der 1960er Jahre geschah das Wunder einer „Vergemeinschaftung der höheren Bildung“ (Heiko Christians) in dem Begriff der „Kompetenz“.

Doch dieses Wunder hatte seinen Preis, indem die Kompetenzzuweisung oder „Kompetenz-Kompetenz“ (Odo Marquard) nun unabhängig von Inhalten verfuhr. Das hat den Vorteil einer Vergleichbarkeit, der allerdings mit dem Nachteil erkauft wird, dass die verschiedenen kulturellen inhaltlichen Kontexte, die eben ganz verschiedene Literaturen hervorbringen, praktisch keine Rolle mehr spielen, und damit ein Fundament der klassischen Bildung. Dabei gehört der Gedanke der Komparatistik, der parallèles, zum Kernbestand der europäischen Aufklärung, der aber wesentlich auch inhaltlich bestimmt war (was für die sogenannten Nationalliteraturen wie auch für Goethes „Weltliteratur“ galt). Jedenfalls ging es nicht bloß um Wissenstechniken, sondern um Urteilskraft: Auch wenn man heute nicht die ideologisch nicht unverdächtige Kritikfähigkeit bemühen will, so möchte man doch Schülerinnen und Schüler haben, die am Ende urteilen können und nicht einfach eine Technik befolgen. Wobei es einen bedeutenden Unterschied macht, ob sie dabei linear abstrakt oder parataktisch in Bildern denken.

Tatsächlich kommen die Begriffe Urteilskraft, Urteilsfähigkeit oder -kompetenz in der aktuellen Studie „IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich“ nicht vor. Man mag einwenden, Urteilsfähigkeit sei erst in der Sekundarstufe relevant; aber Urteilsfähigkeit ist von der Relevanz mindestens so wichtig wie das in der Studie öfter bemühte „Weltwissen“. Eine Beurteilung beschränkt sich in der Studie darauf, „ob eine Information ausführlich genug und ob sie klar formuliert ist“. Nur: Eine Information kann auch Unsinn sein und als solche erkannt werden.

IGLU 2016
Folgen wir der Beschränkung und fragen, zu welchen Ergebnissen IGLU 2016 bezüglich der Lesekompetenz kommt. Untersucht wurden im internationalen Vergleich „Leseintentionen“, „Verstehensprozesse“, „Leseselbstkonzept, Lesemotivation und Leseverhalten“, wobei man annehmen darf, dass im Leseverhalten Verstehensprozesse und Leseintentionen mindestens enthalten sind. Die Ergebnisse, die gleich eingangs in einer Übersicht gegeben werden, sind für Deutschland eher bescheiden: Für Deutschland ergebe sich ein „Rangplatz im Mittelfeld“, signifikant bessere Leistungen weise die große Mehrheit der EU-Staaten auf; an der Spitze liege die Russische Föderation und Singapur.

Die relative Position habe sich „erheblich verschlechtert“, obwohl sich der Anteil der sehr guten Leserinnen und Lesern von 9 auf 11 Prozent verbessert habe: „Angesichts des Befunds, dass in zahlreichen Ländern dieser Prozentsatz fast doppelt so hoch ist, ist ein derartiger leichter Zuwachs kein Grund zur Zufriedenheit“, zumal in den letzten 15 Jahren gleichzeitig die Gruppe der sehr schwachen Viertklässlerinnen und Viertklässler von 3 auf fast 6 Prozent angewachsen sei. Bei der hier auftretenden Frage nach dem Anteil von Schülerinnen und Schülern mit MH (Migrationshintergrund) muss sich IGLU 2016, da 20 Prozent der Eltern den Fragebogen nicht ausgefüllt haben, „auf dem Hintergrund verfügbarer Bildungsstatistiken“ auf einen plausiblen Wert von 34 Prozent stützen.

Liegt hier ein Grund für das schlechte Abschneiden Deutschlands? Man muss indes etwas weiter ausholen, um den Sinn solcher Erhebungen zu beurteilen, in welchen modische Tendenzen unsichtbar, aber umso wirksamer verwebt sind wie das „Schreiben nach Gehör“ (das kurioserweise „Lesen durch Schreiben“ genannt wird). Ist dieses praktisch wieder verschwunden, weil vielerorts schon verboten, verbreitet sich um so mehr die sogenannte „Leichte Sprache“ im Kontext von Inklusionen. Diese soll allerdings, so die Studie, nur ein Übergang sein: „Unter dem Signum ‚barrierefreier Zugang zur Schriftkultur’ soll aber keine neue Barriere errichtet werden. Leichte Sprache ist keine neue Norm, sondern als eine Übergangsvarietät zu verstehen.“

Dass sie mittlerweile tatsächlich eine neue Norm unter anderen ist, belegen Webseiten von Behörden und Gemeinden sowie Kinderbücher in eigenen Reihen. In dieser Überschneidung von Analyse und Kommentar zeigt IGLU 2016 einmal sei „die Wichtigkeit einer lehrergesteuerten, aufgabenorientierten und effektiven Instruktion“. Aber aus verständlichen Gründen (die freilich wenig valide sind) „tut man sich mit Tugenden wie Leistung, Disziplin usw. nirgends so schwer wie in Deutschland“. Besonders interessant ist Benders Kritik am Mathematiktest selbst und ein Plädoyer für die Urteilskraft und für die Kraft des Sokratischen Nichtwissens, die allem Wissen erst seine Beweglichkeit mehr, dass aus einem Test herauskommt, was die Autoren hineingelegt haben („Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst“).

Bildung als Urteilskraft
Die Kritik an Tests wie TIMSS, PISA und IGLU ist nicht neu. Umso interessanter ist diejenige von Peter Bender an IGLU 2003 zur Mathematik-Didaktik, die sich formal auf IGLU 2016 übertragen lässt. Bender hält solche Studien wohlgemerkt grundsätzlich für notwendig und sinnvoll, sie seien aber keine „oberste bildungs-wissenschaftliche Instanz“. Zu seinen Top Five des daraus erwachsenen „Unfugs“ gehört die ministeriale Aussage, PISA habe gezeigt, dass die Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf zwölf Jahre gesenkt werden müsse. Was sie wirklich zwischen den Zeilen zeigten, gibt: „Es ist klar, dass bei einem solchen Test viele durchaus wichtige Tugenden gar nicht berücksichtigt werden: die Fähigkeit, komplexe Probleme anzugehen, überhaupt Mathematisierbarkeit zu prüfen, ein Problem längerfristig und mit Ausdauer zu bearbeiten, Ansätze zu verwerfen oder weiter zu verfolgen, das Problem einmal eine Zeitlang liegen zu lassen, Anderen es verständlich darzustellen.“

Hier berühren sich nämlich die beiden Kulturen: Der Naturwissenschaftler, und sei es der sechsjährige Forscher, der anderen seine Beobachtungen erklärt, liest die Welt für andere und zeigt ihnen auch die Schönheit des Wissens um seiner selbst willen, die im Test gar nicht vorkommt. Und nicht zuletzt fördert und fordert er auch Kritik an der Aufgabenstellung; eine Reihe deutsche Nobelpreisträger beweist immerhin eindrucksvoll die Wichtigkeit dieser Tugend, zu der es eben gehört, sich Zeit zu lassen.

Die Verborgenheit der Bildung
Zu seiner eigentlichen Pointe kommt IGLU 2016 ganz am Schluss, nachdem der Leser sich durch 300 Seiten Statistik gearbeitet hat. Was hier vorgeschlagen wird, mag dem einen als Fluch, dem anderen als Segen erscheinen, ein Paukenschlag ist es allemal – das Stichwort heißt gesundheitliche Prävention: „Präventive Maßnahmen enthalten auch eine systematische Gesundheitsvorsorge. Besonders beeindruckend ist hier Finnland mit dem umfassenden Gesundheitsprogramm NEUVOLA (Deutsch: Beratung), an dem so gut wie alle Kinder und ihre Mütter bereits während der Schwangerschaft, bis zum Schulbeginn teilnehmen. Bevor sie mit sieben Jahren in die Schule kommen, haben die Kinder mehrere Dutzend Gesundheitschecks hinter sich, die alle Bereiche von den Zähnen bis zu Augen, Ohren, Motorik, Sprache und psychosoziales Verhalten betreffen.

Bei Problemen wird sofort therapeutisch reagiert, auch mit dem Ziel, in der Schule Lernschwierigkeiten zu vermeiden. Die enormen Kosten dieses Unterfangens lohnen sich, so hat Finnland den geringsten Anteil an Kindern mit sehr schwacher Lesekompetenz.“ Diesen Vorschlag freilich wird man nicht mehr als „Unfug“ abtun können, zu sehr ist er schon in der Diskussion. Man muss nur an die aktuelle Diskussion um die sogenannte „evidenzbasierte Pädagogik“ erinnern, die nicht zufällig aus der Medizin kommt und dort eine Waffe im Kampf gegen die Homöopathie beziehungsweise ein Instrument zur Technisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses ist.

Indes dürfte es auch den Verfechtern dieser neuen wissenschaftlichen Heilslehre nicht gelingen, einfach zwischen der „analytischen“ Evidenz und der „gewöhnlichen“ Evidenz zu unterscheiden, wonach im gewöhnlichen Verstand Evidenz das„Offenbare“ ist („Was Evidenz ist, ist evident“), und im „analytischen“ Verstand ein „Beweis“ (Engl. evidence), so dass man leicht auf einen „falschen Freund“ (gleicher Wortlaut, unterschiedlicher Sinn) hereinfällt. Tatsächlich enthüllt der Begriff der Evidenz in seiner Tiefe vielfältige Übergänge: So kann Evidenz auch „Aufweis“ sein, „Interpretation“ ist sie allemal. Die Erziehungwissenschaft hätte sich also keinen schwierigeren und komplexeren Begriff wählen können, um wissenschaftlich ihre „Wirksamkeit“ zu beweisen. Aber die Herkunft des Begriffs aus der Medizin ist symptomatisch für den Zustand der Pädagogik heute.

Noch um die Jahrtausendwende konnte man im Internet eine Seite von Ärzten aufrufen, die sich energisch und mit Gründen dagegen verwahrten, dass man pädagogische Probleme auf die Medizin abwälze. Und hatte Wilhelm von Humboldt nicht schon zweihundert Jahre früher eine These aufgestellt, wonach das Prinzip, dass die Regierung für das Glück und das physische und moralische Wohl der Nation sorgen muss, gerade der ärgste und drückendste Despotismus sei? Doch vielleicht kommt von der Medizin hier auch ein grundsätzliches Umdenken auf die klassische Bildungstheorie und -philosophie mit ihrer Figur des Sokratischen Nichtwissens.

Seit einiger Zeit wird aus dem Gedanken der Psychosomatik an der Universität Würzburg wieder ein „Philosophikum für Mediziner“ angeboten, in dem der kürzlich verstorbene Hubertus Walter Krause seinen Hörern Hans Georg Gadamers Gedanken zur „Verborgenheit der Gesundheit“ nahebrachte, die von eminenter pädagogischer Bedeutung sind: „Die Frage nach dem Schmerz und dem guten Leben erscheinen insoweit miteinander verbunden, dass das gute Leben, ohne mit dem Schmerz in Berührung gekommen zu sein, offenbar nicht zu haben ist.“ Das gute Leben ist auch das Lesen im Buch der Welt, das allem Lesen vorhergeht, und man muss dem Leser dafür nur Zeit lassen. Oder wie Jean Jacques Rousseau es den Pädagogen ins Stammbuch schrieb: „Zeit verlieren, nicht gewinnen“.