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Eruptionen

Distrikt - Eruptionen
von links: Armin Staigis, Astrid von der Malsburg, Andrzej Ludek, Claus-Peter Müller von der Grün © Christoph Müller

"Zeitenwende - da kommt was auf uns zu" hatte der scheidende Governor Ernst Hanisch eine Gesprächsrunde auf der Distriktkonferenz in Langen überschrieben.

Claus Peter Müller von der Grün24.06.2025

Über die Um-Ordnung, in der sich die Welt derzeit geopolitisch neu arrangiert, diskutierten Astrid von der Malsburg, Andrzej Ludek und Armin Staigis. Das Gespräch möge die Angst, die viele Menschen derzeit gefangen nehme, in tätige Sorge wandeln, wünschte sich Moderator Claus Peter Müller von der  Grün. Denn in der Sorge werde eine erwartete Not gedanklich vorweggenommen, und schon die tätige Sorge könne den verstörenden Sachverhalt verändern. Im besten Falle gelinge es, die befürchtete Not zu wenden. Insofern seien die Sorge und die tätige Sorge im wahren Sinne des Wortes "not-wendig". Für das Rotary-Online-Magazin stellte Müller von der Grün den Gesprächsteilnehmern nochmals drei Fragen, die diese schriftlich beantwortet haben. Vielen Dank!

Gibt es eine Zeitenwende? Und wie stellt sich diese aus den unterschiedlichen Perspektiven dar?

Andrzej Ludek: Polen war führend bei den Veränderungen in Europa nach dem Zerfall der Sowjetunion und wurde als erstes Land aus der Gruppe der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in die Nato aufgenommen. Eine führende Rolle Polens spielte Lech Wałęsa – Ehrenmitglied unseres Rotary Clubs. Polen war sehr anders im Vergleich zu den übrigen Ländern des Warschauer Pakts. Es war das einzige Land mit privater Landwirtschaft, privatem Handel und Handwerk und sehr offen zur Welt. Polen, geprägt durch viele Jahre der Teilungen, durch russische, deutsche und österreichische Besatzung, verbrachte fast 50 Jahre bis 1990 unter sowjetischer Dominanz. Daher war die Sehnsucht nach Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie und Meinungsfreiheit für die Polen so wichtig. Was hier betont werden sollte, ist, dass nicht im Jahr 2022 ein neues Kapitel in unserer europäischen Geschichte begann, sondern dass Russland diesen Krieg bereits 2014 mit der Annexion der Krim begonnen hat. Leider hat die Welt damals auf seltsame Weise geschwiegen, nicht reagiert – und später folgte eine Art unterbewusste Duldung Putins für weitere Aggressionen oder deren Fortsetzung.

Astrid von der Malsburg: Natürlich markiert der Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine eine Zeitenwende. Selbst die baltischen Staaten waren 2022 überrascht vom massiven Überfall der Russen, auch wenn es erkennbare Alarmsignale gegeben hat. Allerdings waren die baltischen Staaten militärisch wie im Zivilschutz gut vorbereitet. Estland hatte immer eine Freiwilligenarmee, Wehrübungen gehören für alle Esten zur Jahresroutine und jeder estnische Haushalt ist über einen längeren Zeitraum autark und gerüstet beispielsweise ohne Strom und sogar Internet auszukommen. Seit drei Jahren wurde die Anzahl der Bunker verdoppelt. Zum Vergleich: Deutschland verfügt derzeit über keinen einzigen funktionstüchtigen Bunker. Aber auch der Ausstieg Estlands aus dem Landminen-Abkommen ist ein weiterer Schritt zur Absicherung der Grenzen.

Armin Staigis: Bei dem Begriff der "Zeitenwende" kommen mir zunehmend Bedenken. Zunächst wurde die russische Großinvasion der Ukraine so bezeichnet, 2024/25 der Politikwechsel in den USA und bald vielleicht eine Ausweitung der Konflikte in Nah/Mittelost zu einem "Großen Krieg". Wir sollten eher die politisch-strategisch langen Linien betrachten, die zu diesen sogenannten "Zeitenwenden" geführt haben, die ich eher als Eruptionen in erkennbaren Entwicklungen betrachte. Den politisch-strategischen Wandel im globalen Maßstab können wir an drei Entwicklungslinien der letzten Jahrzehnte erkennen:

  • Auflösung von festgefügten Blöcken, besonders auch im Globalen Süden, hin zur Multipolarität,
  • die USA sind nicht mehr die dominierende Weltmacht, kein "Weltpolizist" mehr,
  • das kontinuierliche Erodieren der westlichen Vorherrschaft.

Hinzu kommt noch, besonders im westlichen Europa ausgeprägt, das Narrativ, Politik ohne das Mittel des Krieges zu denken und gestalten zu wollen, was ein großer Selbstbetrug war. Daraus sollten wir Lehren ziehen und versuchen, die Zukunft zu gestalten.

Welche Handlungsoptionen haben wir im Prozess der Umordnung der Welt und welche sollten wir nutzen, sei es international, im Nato-Bündnis, in der EU und national?

Andrzej Ludek: Wir Polen, obwohl wir oft als Russophobe bezeichnet werden, sollten im Grunde als Realisten gesehen werden, weil wir die russische Mentalität und die Bedrohung aus Russland besser als viele andere Nationen kennen. Allein die unmittelbare Nähe und die Grenze zu Russland und Belarus haben uns wachsamer und sensibler gemacht. Leider scheint es, dass andere Länder wie Deutschland und Frankreich die Bedrohung aus dem Osten, also aus Russland, unterschätzt haben – sie versuchten sogar, positive Aspekte durch wirtschaftlichen Austausch zu finden. Heute scheint es, dass nur gemeinsames Handeln – einschließlich des Aus- oder sogar Wiederaufbaus militärischer Kapazitäten – die einzig vernünftige Maßnahme ist. Auch die umfassende Unterstützung der Ukraine – humanitär, militärisch und wirtschaftlich – sollte unser gemeinsames Anliegen sein. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine bietet die Garantie für eine Pufferzone an Europas Grenze.

Astrid von der Malsburg: Für alle Länder, die eine gemeinsame Grenze mit Russland haben, gibt es keine Alternative als den verstärkten Aufbau der eigenen sowie einer europäischen Armee. Die nordischen und die baltischen Staaten haben ihre Ausgaben für die militärische Sicherheit bereits massiv erhöht, die berechtigte Sorge, dass die USA sich von Europa abwenden werden, ist durch die jüngsten Kriegshandlungen im Nahen Osten leider bestätigt. Europa muss in der Lage sein, sich zu verteidigen.

Armin Staigis: Es geht um unsere Zukunft in Europa. Diese können wir freiheitlich und demokratisch gestalten oder autokratisch. Volodymyr Selenskyi hat auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz die Kernfrage gestellt: Wollen wir Europäer aus Brüssel oder aus Moskau regiert werden? Ich bin für Brüssel! Der Unterschied zu Moskau war in Butscha und ist jede Nacht in Kyiv zu beobachten. Es liegt in unserer Hand.

Was kann, was sollte Rotary angesichts der umfassenden politischen Veränderungen auf allen Ebenen tun, damit wir alle gut durch die Zeit kommen – im Kleinen, wie im Großen?

Andrzej Ludek: Hier scheint die Lösung offensichtlich und universell zu sein – etwas, worin ich im Rotary Club seit vielen Jahren aktiv bin: die Arbeit in Länderausschüssen.
Vor 30 Jahren habe ich gemeinsam den polnisch-deutschen Ausschuss gegründet und später geleitet. Heute gibt es fast 40 Clubpartnerschaften zwischen Polen und Deutschland. Dank dieser Partnerschaften kennen wir uns gut, tolerieren unsere Unterschiede, respektieren Vielfalt und sind seit vielen Jahren Freunde. Es käme uns nie in den Sinn, uns gegen Freunde zu stellen. Dieses Modell gilt für die Beziehungen aller Länder, nicht nur der Nachbarn. Jedes solche Engagement ist wichtig – selbst die sogenannte kulinarische Diplomatie.

Astrid von der Malsburg: Rotary sollte die Rolle der Bundeswehr und den Einsatz der Soldaten verstärkt in den Vordergrund rücken, dazu gehört nicht nur das Anwerben von rotarischen Freunden aus diesem Bereich, sondern vielmehr die Sensibilisierung für die Leistung und die Notwendigkeit einer starken Bundeswehr.

Abgesehen davon, sind Clubpartnerschaften zu Ländern wie dem Baltikum, die es bisher kaum gibt, mehr als wünschenswert.

Armin Staigis: Meine Hoffnung liegt derzeit "im Kleinen", in den Clubs. Hier ist vielfach sichtbar, dass die Mitglieder sich diesen gravierenden Veränderungen in offenen Diskussionen stellen und zu gezieltem Handeln finden, so beispielsweise in der Ukraine-Hilfe. "Im Großen" bei Rotary International ist (immer noch) ein unauffälliges Beschweigen und unterkühltes Relativieren zum Erstarken autokratischer Tendenzen, bei Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu verzeichnen. Die Menschenwürde und ein friedliches Zusammenleben der Völker bilden den Kern unseres rotarischen Wertekanons. Das ist unser Kompass, um auch global wirkmächtig zu bleiben.      


Die Gesprächspartner

  • Andrzej Ludek, PDG D-2230 (Polen, Weißrussland, Ukraine), seit 1990 im RC Warszawa City, Vorsitzender des Executive Council der Rotary International Länderausschüsse (2016-2018), Präsident des ALMARES Marktforschung Institute, seit 2025 Präsident des Aufsichtsrats der Polnischen Handelskammer, Autor des Buches "Die Welt von Andreas Suppen" und Organisator von kulinarischen Workshops – "Wie gemeinsames Kochen Menschen hilft, besser zu verstehen".
  • Astrid von der Malsburg, RC Frankfurt-Palmengarten, Honorarkonsulin von Estland für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland.
  • Armin Staigis, Brigadegeneral a. D., Pastgovernor Distrikt 1880, Gesamtkoordinator Ukraine-Hilfe im Deutschen Governorrat (Februar 2022 bis Juli 2025)
Claus Peter Müller von der Grün

Claus Peter Müller von der Grün ist Journalist. 1960 in Kassel geboren kehrte er — nach dem Studium in Dortmund und verschiedenen beruflichen Stationen in Dortmund, Düsseldorf und Frankfurt — nach der Wiedervereinigung nach Kassel zurück. Dem RC Kassel-Wilhelmshöhe gehört er seit dem Jahr 2000 an. Im Jahr 2013/14 war er Präsident seines Clubs. Sowohl im Club, als auch auf der Distriktebene war er schon mehrfach in Sachen der Kommunikation aktiv, derzeit ist er Distriktberichterstatter von D1820.