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Aus der Stagnation hin zu anhaltendem Wachstum

Deutschland braucht ein neues Wirtschaftswunder – und entschlossene Reformen. Expertin Ulrike Hinrichs blickt auf die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland.
"Stillstand ist Rückschritt – gerade in einer dynamischen Weltwirtschaft." Dieser Satz von Ludwig Erhard, dem Vater des ersten deutschen Wirtschaftswunders, klingt heute aktueller denn je. Denn Deutschland steht 2025 wirtschaftlich auf der Bremse. Nach einem BIP-Rückgang von rund 0,2 Prozent im Jahr 2024 erwartet die Bundesregierung auch für 2025 nahezu ein Nullwachstum. Für die einstige Wachstumslokomotive Europas ist das ein Alarmsignal.
Die Symptome der Stagnation
Die industrielle Basis schwächelt: Die Industrieproduktion lag 2024 um 4,5 Prozent unter dem Vorjahr, besonders energieintensive Branchen wie Chemie und Stahl verzeichneten zweistellige Einbußen. Die Produktivität stagniert seit fast einem Jahrzehnt; laut Institut der deutschen Wirtschaft wuchs sie 2014 bis 2023 nur 0,3 Prozent pro Jahr – halb so stark wie im EU-Durchschnitt.
Investitionen bleiben hinter dem Notwendigen zurück. In die digitale Infrastruktur flossen 2022 lediglich rund 1,4 Prozent des deutschen BIP – in den USA war es fast doppelt so viel. Verkehr und Energie: Der Investitionsbedarf für Stromnetze wird auf über 600 Mrd. Euro bis 2045 geschätzt, doch der jährliche Mitteleinsatz deckt nur etwa die Hälfte.
Parallel steigen die Ausgaben für Rente, Gesundheit und Pflege ungebremst. 2024 beliefen sich die Sozialausgaben auf rund 1,3 Billionen Euro, ein Rekordwert. Die gesetzliche Rentenversicherung zahlte erstmals über 370 Mrd. Euro aus – Tendenz weiter steigend. Zugleich begrenzt die Schuldenbremse den staatlichen Handlungsspielraum.
Deutschland droht ein gefährlicher Stillstand: Sozialsysteme sind weder krisenfest noch zukunftsfähig, notwendige Strukturreformen werden aufgeschoben, die Transformation zur klimaneutralen und digitalen Wirtschaft stockt.
Privates Kapital als neuer Wachstumsmotor
Dennoch gibt es Grund zur Zuversicht. Eine Ressource ist reichlich vorhanden, aber noch zu wenig aktiviert: privates Beteiligungskapital – das neue Kapital.
Dieses Kapital steht für Aufbruch und Verantwortung. Es ist mehr als Geld: Es bringt unternehmerisches Know-how, internationale Netzwerke und den Mut, in neue Technologien zu investieren. Es ermöglicht, was Banken und Förderprogramme allein nicht leisten können – von klimafreundlicher Industrie über digitale Gesundheitslösungen bis hin zu Künstlicher Intelligenz.
Drei Handlungsfelder für die Politik
Deutschland braucht schnellere Genehmigungsverfahren, eine digitale Verwaltung und eine steuerliche Reform, die Investitionen begünstigt. Genehmigungen für Industrieprojekte dauern hierzulande im Schnitt 24 Monate, in Dänemark nur 12 Monate. Ein investitionsfreundliches Steuerrecht, das internationale Standards berücksichtigt, ist überfällig.
Rente, Gesundheit und Pflege verschlingen wachsende Milliardenbeträge. Ohne Anpassungen beim Renteneintrittsalter, bei Beiträgen und Leistungen geraten die Systeme ins Defizit. Nachhaltige Sicherung bedeutet auch, mehr Menschen in Arbeit zu bringen – von Fachkräftezuwanderung bis zu besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Pensionskassen, Versicherungen und Stiftungen müssen leichter in Beteiligungskapital investieren können. Bislang fließen weniger als zwei Prozent der Altersvorsorgegelder in produktive Eigenkapitalinvestitionen. Hier liegt ein riesiges Potenzial, um die Ersparnisse der Bürgerinnen und Bürger direkt in die Zukunft unseres Landes zu lenken, statt sie zinsarm zu parken.
Diese Schritte sind nicht beliebig. Sie entscheiden darüber, ob Deutschland auch in zehn Jahren noch zu den führenden Industrie- und Wirtschaftsnationen zählt.
Ein neues Wirtschaftswunder ist möglich
Deutschland hat schon einmal bewiesen, dass es sich aus schwierigen Lagen befreien kann. Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre entstand aus Unternehmergeist, klugen politischen Entscheidungen und internationalem Vertrauen. Heute stehen wir wieder an einem solchen Punkt – mit anderen Mitteln, aber derselben Dringlichkeit.
Privates Kapital kann dabei Aufbruchskapital sein: Es finanziert Technologien für Klimaneutralität, neue Energieformen, biomedizinische Innovationen und digitale Geschäftsmodelle. Es hält Talente im Land und gibt Gründern und dem Mittelstand die Chance, groß zu denken.
Jetzt ist der Moment der Entscheidung
Die nächsten Jahre sind entscheidend. Entweder wir verharren in Verwaltung und Verteilung – oder wir wagen den großen Wurf. Deutschland kann sich ein "Weiter so" nicht leisten. Wir brauchen eine Agenda für Wachstum und Sicherheit, die privates Kapital freisetzt, Innovation beschleunigt und unsere sozialen Sicherungssysteme stabilisiert.
Rotarierinnen und Rotarier wissen, dass Verantwortung und Gemeinsinn Hand in Hand gehen. Genau das gilt heute für Wirtschaft und Politik. Das neue Kapital steht bereit. Aber es braucht den politischen Mut, Strukturen zu modernisieren und den gesellschaftlichen Konsens, Chancen über Ängste zu stellen.
Schlussgedanke
Das neue Wirtschaftswunder beginnt nicht morgen. Es beginnt heute – mit jeder Entscheidung, die privates Kapital freisetzt, mit jeder Reform, die unser Land zukunftsfähig macht. Wie wir diesen Aufbruch gestalten können, beschreiben führende Investorinnen und Investoren ausführlich in unserem Buch "Das neue Kapital – Deutschlands Chance auf ein nächstes Wirtschaftswunder".
Es zeigt anhand vieler Praxisbeispiele, wie privates Kapital Innovation beschleunigt und Verantwortung übernimmt. Deutschland hat die Menschen, Ideen und das Kapital, um wieder wirtschaftlicher Taktgeber Europas zu sein. Wir müssen es nur tun.

Ulrike Hinrichs ist Vorstandssprecherin und führt seit 2011 den BVK (Bundesverband Beteiligungskapital). Sie studierte Germanistik, Chemie und Politikwissenschaften in Göttingen und Wien. Nach dem Studium volontierte sie beim SWR und arbeitete viele Jahr zunächst bei der ARD und dann beim ZDF für unterschiedliche Nachrichten- und Politikformate. 2005 wurde Ulrike Hinrichs Sprecherin von Bundesminister Horst Seehofer, 2010 wurde sie Büro- und Arbeitsstabsleiterin der damaligen Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Ulrike Hinrichs ist Buchautorin, moderiert seit 2017 die Talkshow "Schlossplatz Berlin. Wo Politik auf Wirtschaft trifft". Sie ist Mitglied im Beirat der KfW Capital und des Verbandes Deutscher Bürgschaftsbanken sowie im Aufsichtsrats der Kommunikationsagentur Fischer Appelt.