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Im Fokus: Gelungene Integration

"Der schwerste Moment meines Lebens"

Im Fokus: Gelungene Integration - "Der schwerste Moment meines Lebens"Fotostrecke: Bilder zu rotarischen Erfolgsgeschichten
M. Raeed Aldabagh © Privat

Ich heiße M. Raeed Aldabagh. Ich bin 28 Jahre alt und komme aus der Stadt Homs in Syrien. Vor dem Krieg war Homs die drittgrößte Stadt Syriens.

01.07.2021

Dort habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht. Die Bewohner von Homs sind nette, freundliche, humorvolle und hilfsbereite Menschen. Meine Kindheit habe ich als eine gute Zeit in Erinnerung. Ich wohnte mit meinen Eltern und drei Geschwistern.

Im Jahr 2009 habe ich meine Schulzeit mit dem Abitur abgeschlossen und mit einem Pharmaziestudium an der Universität in Homs angefangen. Zu dieser war ich sehr hoffnungsvoll, hatte große Träume und habe für meine Zukunft viel geplant.

Dann kam alles anders als gedacht und geplant. Nachdem die Ereignisse in Syrien im Jahr 2011 angefangen hatten, hofften wir, dass alles friedlich endet und die Lage in Syrien besser wird. Allerdings hat sich die Lage schnell und drastisch verschlechtert. Wir mussten unsere Wohnung, die nach einer Bombardierung zerstört wurde, aufgrund von schweren militärischen Kämpfen im Jahr 2012 verlassen. Dieses Schicksal  hat leider auch Millionen von anderen Syrern getroffen.

Die Lage war überall nicht sicher. Jeden Tag ist die Gefahr für unser Leben größer geworden und die Verluste an Menschenleben stiegen enorm. Viele meiner besten Freunde und Verwandte haben das Land verlassen. Anderen sind entweder festgenommen, entführt oder gestorben.

Ich kann mich an den 29. Mai 2014 noch sehr gut erinnern. Ich war mit meinem besten Kumpel an der Uni. Plötzlich ist eine Gruppe von Männern und näher gekommen und hat ihn ohne Erklärungen festgenommen. Nach drei Monaten wurde sein Tod seiner Familie mitgeteilt. Ich konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Ich konnte ihn auch nicht verabschieden. Bis heute tut mir das im Herzen weh.

Trotz allem wollte ich, wie viele andere, nicht aufgeben. Wenn wir aufgeben bedeutet das, dass die Kriegsherren gewonnen haben.

Ich habe mich bemüht, sehr hart zu lernen und zu studieren, damit ich die besten Kenntnisse in meinem Fach erwerben kann. Ich lernte eine liebe Kollegin an der Uni kennen und wir waren bald danach verliebt. Sie ist meine ganze Welt geworden und war der Trost für meine Seele.

Im Jahr 2014 schloss ich mein Studium erfolgreich ab. Danach konnte ich ein Masterstudium anfangen. Im September 2015 haben meine Frau und ich geheiratet. Nach einem Monat hat sich die Situation im Land so verschlechtert, dass ich das Land unverzüglich verlassen musste. Das war der schwerste Moment meines Lebens. Ich hatte die Liebe meines Lebens gefunden und schon sollten wir getrennt sein. Ich hatte keine andere Wahl und konnte meine Frau nicht mitnehmen, weil ich nicht wusste, wohin mich der Weg bringt. In reiste zuerst in den Libanon, von dort flog ich in die Türkei.

Die Reise
Von der Türkischen Küste bin ich in einem Schlauchboot auf die griechischen Inseln mit 35 anderen Menschen gefahren. Die Fahrt hat ca. 7 Stunden gedauert. Der Wind ist über uns hinweggefegt. Die Wellen waren massiv und stark. Der Motor ist mehrmals ausgegangen. Ich hatte große Angst, ob wir es schaffen würden. Am Ende ist das Boot gegen einen Felsen gestoßen und wir sind fast ertrunken.
Es hat 5 Stunden gedauert bis die Küstenwache uns retten konnte.

Von Griechenland bin ich über den Balkan nach Norden gereist. Auf dem Weg bin ich lange Strecken zu Fuß gelaufen, mal auf der Straße geschlafen, mit Bus uns Zug gefahren. Ich wusste damals nicht, wohin mich der Weg führen würde, bis ich an der deutschen Grenze ankam. Dort wurde mir angeboten, einen Asylantrag zu stellen, und das habe ich in Anspruch genommen.

Das Ankommen
Nachdem ich in Deutschland angekommen bin, habe ich eine kurze Weile in einem Camp in der Nähe von Stendal verbracht, dann bin ich nach Magdeburg im Dezember 2015 gebracht worden. Ich war endlich in Sicherheit und in einem friedlichen Land, aber das Ankommen war trotzdem nicht einfach. Ich war auf einmal nicht mehr der Apotheker, sondern eine Nummer oder einen Antrag von Hunderttausenden. Ich wusste nicht, ob mein Antrag abgelehnt wird und ob ich meine Frau und meine Eltern wiedersehen würde. Ich wusste nicht, ob ich wieder als Apotheker arbeiten könnte.

Alles war mir neu. Ich konnte fließend Englisch, aber das hat mir trotzdem bei den Ämtern nicht geholfen.
Allerdings vieles hat sich geändert, als ich das Willkommensbündnis in Magdeburg-Stadtfeld getroffen und viele nette Deutsche kennengelernt habe. Sie haben mich herzlich aufgenommen und mich unterstützt, in dem sie einfach zugehört haben und immer da waren. Und das war mir viel wert, um das Gleichgewicht wieder zu finden und meinen Weg hier anzufangen.

Ich habe mich dann im Gartenverein, im Sprachcafé, und in der Nachbarschaftshilfe engagiert. Mit deutschen Freunden habe ich zusammen gekocht, geredet, zu Weihnachten gesungen. Das hat mir sehr gut dabei geholfen, die deutsche Sprache schnell zu lernen, sodass ich nachher nur kurze Zeit brauchte, um die Sprache bis zum fünften Niveau zu meistern.

Die Anerkennung
Die nächste Schritt war, mein Pharmaziestudium anerkennen zu lassen und wieder in meiner Branche zu arbeiten. Dafür brauchte ich die deutsche Fachsprache, um Gesetze in der Apotheke zu lernen und zwei Staatsexamen zu bestehen.

Einer meinen Bekannten hat mich bei Herrn Andreas Haese vorgestellt. Im Mai 2017 habe ich mit einem Praktikum und danach eine Teilzeitstelle bei ihm in der Rats-Apotheke angefangen. Gleichzeitig habe  ich die deutschen Gesetze in der Apotheke bzw. alles was ich im Studium gelernt habe auf Deutsch neu erlernt. Der Weg dafür war nicht kurz und nicht einfach. Aber die große Unterstützung vom Herrn Haese auf der Arbeit hat mir sehr geholfen. Außerdem haben die Liebe, Verständnis und Förderung von meiner Frau, die endlich Ende 2017 nach Deutschland kommen durfte, die Schwierigkeiten erleichtert. Sodass ich Ende 2018 alle benötigten Staatliche Prüfungen erfolgreich bestanden und die deutsche Approbation als Apotheker erhalten habe.
Seitden arbeite ich vollzeit bei Herrn Haese in seiner Apotheke.

Diese Arbeit ist mir sehr wichtig, weil ich damit einen großen Beitrag in der Gesellschaft leisten kann. Viele Patienten, insbesondere die Älteren, kommen in die Apotheke nicht nur um Medikamente zu holen sondern auch um über ihren Sorgen und Leiden zu reden. Für diese Menschen einfach da zu sein, ihnen zuzuhören und ihnen Unterstützung zu zeigen kann einen positiven Effekt in ihrem Leben bewirken. Das habe ich selbst damals am Anfang meiner Reise erlebt und deshalb will ich das auch anderen Menschen  wiedergeben.

Soziales Engagement
Mit anderen Syrern engagierte ich mich sozial in der Gesellschaft und wir gründeten den syrisch-deutschen Kulturverein. Zusammen haben wir zahlreiche Veranstaltungen geplant und durchgeführt. Dabei habe ich Vorträge über die syrische Kultur und Geschichte gehalten.

Unser Ziel ist, den Austausch zwischen Deutschen und Syrern voranzubringen, weil wenn man sich kennenlernt, man kein Fremder mehr ist. So können die Brücken des Verständnises aufgebaut werden, die Barriere zwischen uns zerstört werden, und das positive Zusammenleben erreicht werden.

Viele fragen mich, ob ich meine Heimat Syrien vermisse,

  • Das Land, das ich vermisse, ist nicht das, was ich in meiner Jugend kannte habe, sondern das Land, von dem ich geträumt habe.
  • Was ich vermisse sind die Gegenwart und die Zukunft, von denen ich geträumt habe und in meinem Land erleben wollte.
  • Die Wochenenden bei meinen Eltern zu verbringen, die Familienfeiern, das Freitagsgebet mit meinem Kind in der kleinen Moschee in meiner Nachbarschaft,
  • Die Spaziergänge mit meinem Kind in der Altstadt von Homs…die Namen von jeder Straße und jeder Ecke beibringen


Viele fragen mich auch, ob ich Deutschland als zweite Heimat sehe,
Für mich besteht das Heimatgefühl aus drei Elementen. Erst der Frieden, den ich in Deutschland gefunden habe. Zweitens die Liebe, die ich durch meine kleine Familie hier habe. Und drittens der positive Beitrag für die Gesellschaft, den ich durch meine Arbeit in der Apotheke leisten kann. Deshalb kann ich gerne sagen: Ich sehe in Deutschland eine zweite Heimat für mich.